Ruhe in Frieden, Sozialdemokratie!

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  • September 17, 2024
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Es wird Zeit Abschied zu nehmen: Von der Sozialdemokratie. Wohin das Land steuert, weiß man nach den Wahlen in Sachsen und Thüringen nicht. Wohin die SPD treibt, kann man aber erahnen.

Ein Kommentar von Roberto De Lapuente.

Quelle: Shutterstock

26. September 2021 – Deutschland hat einen neuen Bundestag gewählt. Und wie Phönix aus der Asche stieg die Sozialdemokratie. Sie war der großer Wahlsieger des Abends. Die Partei feierte etwas, was undenkbar geworden schien: Eine mögliche Kanzlerschaft aus den eigenen Reihen. Olaf Scholz hatte die SPD auf die Erfolgsspur zurückgebracht. In den Bundestagswahlen zuvor eilte man von einem Negativrekord zum nächsten. Aber nun war die Sozialdemokratie wieder wer – man musste mit ihr rechnen, bei ihr lag der Regierungsauftrag.

Viele besorgte Angehörige todkranker Menschen sind schon oft auf dieses Phänomen hereingefallen. Der Patient rappelt sich plötzlich auf, will ein Vanilleeis oder ein kühles Bier, nachdem der Appetit über Wochen verloren schien. Aber von einem Tag auf dem anderen blüht der Schwerkranke auf. Die Lieben schöpfen Hoffnung – gehen voller Zuversicht heim. Und schon in den nächsten Tagen geht es rapide mit dem Kranken bergab. Die überraschende Lebenslust war nur ein letztes Aufbäumen. Die urplötzliche Vitalität stemmte sich nochmal mit aller Kraft gegen das Unausweichliche. Ein wirklich allerletztes Mal.

Mit der Sozialdemokratie ist das ganz ähnlich …

Man hätte es sehen können, damals im Corona-Herbst 2021: Die SPD war kein strahlender Sieger. 25,7 Prozent erhielt man damals. Das reichte sicherlich, um die Regierungsbildung anzuschieben. Aber es war noch immer das drittschlechteste Ergebnis der Sozialdemokraten seit 1949. Der Berliner Medienbetrieb redete die Genossen hoch – das tat er schon vor der Wahl, plötzlich sprachen sich die Sendeanstalten für Scholz aus –, wie es die besorgten Verwandten am Krankenbett tun, wenn der Darbende sich nochmal aufrappelt. Die Prognosen der Stunde weisen für die SPD im Bund 14, vielleicht 15 Prozentpunkte aus. Das wäre mit Abstand das schlechteste Resultat ihrer Geschichte.

Zuletzt wählte man in Sachsen und Thüringen – Erfolgsmeldung für die SPD: In beiden Landtagen bleibt sie erhalten. Kevin Kühnert gratulierte sich und den Seinen doch tatsächlich für diesen »Coup«. Zwischendrin sah es so aus, als könnte sie erstmals überhaupt die Fünf-Prozent-Hürde nicht schaffen. Aber dieser Erfolg ist natürlich keiner. Die Partei ist im Osten am Ende. Für Brandenburg prognostiziert man zwar noch knappe 20 Prozent. Aber auch da in der Tendenz fallend.

Die Partei hat seit 2005 nie mehr zu sich gefunden. Schon in der Koalition mit den Grünen, die sie vormals für sieben Jahre führte, hatte man den Bezug zur eigenen Klientel verloren. Die Agenda 2010 verprellte große Teile der Wählerschaft, die Orientierung am sogenannten Dritten Weg – Stichwort: Schröder-Blair-Papier –, der den Korporatismus zugunsten eines entfesselten Liberalismus‘ aufgeben wollte – und dann auch aufgab! –, kostete die SPD ihren Rang als Volkspartei. In den Jahren danach war sie zwölf Jahre lang Koalitionspartner der Union unter der Kanzlerschaft Angela Merkels – und gerierte sich darin oft wie eine Oppositionspartei. Nur verbal wohlgemerkt.

Von 2009 bis 2013 führte man die Opposition auch regulär an. Aber in dieser Zeit erholte sich die Partei nicht. Auch in jenen vier Jahren nur Lippenbekenntnisse. Man schielte auf weitere Jahre als Juniorpartner. Und so gestaltete man dann auch Opposition. Die Sozialdemokratie verlor sukzessive Wähler – spürte es aber kaum, weil sie zum Flügel der Merkel-Union wurde. Wenn die bei Wahlen gut punktete, reichte es auch für die Genossen. Die SPD war in dieser Zeit schwer erkrankt, überspielte es aber meist – und wenn es doch offenbar wurde, stritt sie es ab. Auch das ist ein normales Phänomen des Verscheidens: Leugnung.

Dann jenes Jahr 2021. Die Sozialdemokratie bekam Lust auf ein Vanilleeis, obgleich ihr vorher schon lange nichts mehr schmeckte. Und man redete sich ein, auf dem Weg der Besserung zu sein. Seither irrlichtert die Partei nicht nur durch das eigene Land, sondern auch durch die Weltpolitik. Die SPD verschwindet langsam. Sie erlischt. Und bei den Wahlen in Ostdeutschland trat ein, was eintreten muss: Die Gewissheit, dass man ans Ende aller Tage geraten ist. Es lässt sich einfach nicht mehr abstreiten: Sie wird verscheiden.

In Frankreich hat die Parti Socialiste es vorgemacht: Bei der Präsidentschaftswahl 2012 erhielt der Kandidat der französischen Sozialisten und damit Sozialdemokratie, François Hollande, im ersten Wahlgang noch knapp 29 Prozent – im zweiten Wahlgang entschied er gar die Wahl für sich: Mit annähernd 52 Prozent. Dann der tiefe Fall: 2017 erhielt Kandidat Benoît Hamon keine sieben Prozent – und 2022 folgte quasi das Ende. Anne Hidalgo kam nicht mal auf zwei Prozent. Die Parti Socialiste verlor bei den nationalen Parlamentswahlen ebenso massiv. Die französischen Genossen verrieten im Laufe der letzten 20 Jahre ihr Profil, vertraten nicht mehr die Interessen des arbeitenden Frankreich – und machten sich überflüssig. Gingen also im Grunde den Weg alles Irdischen.

Die Sozialdemokratie hatte sicherlich einen historischen Auftrag. Ob sie ihn erfüllt hat? Zeitwillig ganz sicher. Aber diese Zeit ist lange her. Wir erleben als Zeitgenossen, wie eine Volkspartei, eine große Tradition endet. Es ist schändlich mitanzusehen. Wie immer, wenn einer von uns geht.

Zum Autor:  Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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