D wie depressiv

  • MEINUNG
  • August 18, 2024
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Wer wissen will, wie man das heutige Deutschland außerhalb Deutschlands sieht, muss nur ein wenig herumreisen und mit den Menschen vor Ort sprechen.

Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Shuttestock/ Pavlova Yuliia

Westdeutschland hatte in den Jahrzehnten nach dem Krieg einen nicht völlig ruinierten Ruf. Natürlich gedachte man der Verbrechen des Zweiten Weltkrieges, die der Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches noch in den Knochen stecken hatte. Aber das Land im Herzen Europas stand für mehr. Für Fußball etwa: Beckenbauer und Gerd Müller. Oder für Volkswagen und Waschmaschinen. Irgendwann vernahm man gar, dass die Deutschen sehr freundliche Leute seien – vielleicht meinten die Nachbarn in Europa das sogar wirklich und ganz ehrlich so. Auch Ostdeutschland erfreute sich großer Beliebtheit – Menschen aus den „sozialistischen Brüderländern“, aber auch aus dem Nahen Osten, aus Lateinamerika und Afrika kamen z.B. gerne zum Studium in die DDR. Das Land galt für sie als ein verlässlicher Partner, der die Entwicklung befreundeter Länder unterstützte.

Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) hat neulich ein Video verbreiten lassen: Ist Fahnenschwenken bei der Europameisterschaft ein Dienst an den Rechten?, fragte man. Bei der Weltmeisterschaft 2006 habe der Partypatriotismus jedenfalls Pegida und AfD begünstigt, meinte die bpb – die der Ministerin Nancy Faeser, sprich: dem Innenministerium untersteht. Deutschland kannte man vorher, so erklärte es jedenfalls die junge Dame in dem Video, nur wegen zweier Weltkriege und vielleicht noch für den Mauerfall. Wie sehr muss man sein eigenes Land eigentlich hassen, um so einen einseitigen Unfug zu verbreiten? So einen Masochismus leistet man sich auch nur hierzulande – explizit wohl im Westen des Landes, in dem die eigene Geschichtsverleugnung längst verinnerlicht wurde. Die USA respektieren als Besatzer die kulturellen Eigenheiten ihrer »Brüderländer« nicht. Die Sowjets hatten diesen kulturimperialistischen Anspruch nicht. Wie auch? Ihr eigenes Land war ja selbst ein Vielvölkerstaat, in dem man zwar russisch sprach, der aber Kulturen und Traditionen respektierte und nicht vereinheitlichte.

Place of Depression

Wie denken die anderen heute über das nun vereinte Deutschland? Welchen Blick haben die Nachbarn auf die Bundesrepublik? Wer eine Reise tut, der hat was zu erzählen. Jedenfalls dann, wenn er mit den Menschen vor Ort spricht – was im modernen Massentourismus selten bis gar nicht der Fall ist. Das Autochthone kennenzulernen, mit den Menschen in fernen Ländern Gespräche jenseits des Wetters oder etwaiger Strandempfehlungen zu führen: Das mag früher das Wesen einer Reise gewesen sein. In unserer Zeit, da der Overtourism Normalität und schon gar kein Ausnahmezustand mehr ist, kommt dergleichen aber so gut wie nicht mehr vor. Eingeborene sind dort Dienstleister – sie existieren offenbar einzig dafür, damit die reichen Nordeuropäer in deren südlichen Gefilden urlauben können.

Ein Versuch wäre es aber wert, mit Menschen von dort normale Gespräche zu führen. Wie neulich, als der Autor dieser Zeilen einige Tage an der türkischen Riviera in Alanya verbrachte. Bei einem Glas frischen Granatapfelsaft kam er mit einer jungen Türkin ins Gespräch. Die wollte nach einer Weile wissen, woher ihr Gesprächspartner stammt. Germany, Frankfurt, antwortete dieser. Sie nickte. Ob sie schon mal in der Mainmetropole gewesen sei, wollte der Autor wissen. Sei sie nicht, jedenfalls nicht in jenem Frankfurt am Main, aber in anderen deutschen Städten. Das sei aber nichts für sie, Germany is a place of depression, fügte sie hinzu und entschuldigte sich lächelnd wie ein ertapptes Kind.

Man muss sich das mal vorstellen: Die Großelterngeneration der jungen Dame schielte noch darauf, in die damalige Bundesrepublik kommen zu können. Dort verdiente man gutes Geld – die Aussicht auf ein auskömmliches Leben trieb die Menschen aus der Türkei in das von den USA besetzte Westdeutschland. Noch immer verdient man im Schnitt mehr im heutigen Deutschland. Je nach Statistik zehnmal so viel wie in der Türkei. Dennoch scheuen junge Türken es, nach Deutschland zu kommen. Weil sie das Land als bedrückend, ja depressiv empfinden. Die junge Frau sprach zwar für sich, fügte aber hinzu, dass viele Türkinnen und Türken in ihrem Alter gerne im Inland blieben. Hier lebe man freier – und dies trotz eines Autokraten an der Staatsspitze, wie deutsche Medien den türkischen Präsidenten gerne nennen.

What’s wrong with Germany?

Man erahnt zumindest, was die junge Frau als bedrückend empfunden haben muss. Deutsche Städte sind heillos überlaufen. Dort herrscht das Chaos. Deutschland 2024 ist ein Platz der Gewalt und der Brutalität. Die belgische Polizei hat bei der Europameisterschaft vor dem Frankfurter Bahnhofsviertel gewarnt. Belgische Fans sollten sich vor den Zombies in Acht nehmen. Dabei ist fast die ganze Metropole am Main ein Sammelbecken untoter Umtriebe. Es ist dreckig und es herrscht Chaos – Schilder, die den Gebrauch eines Messers auf öffentlichen Plätzen verbieten sollen, dokumentieren eindrücklich, wie in Deutschland Ordnung organisiert wird. Im Grunde gar nicht. Jedenfalls gilt das verstärkt für Städte im Westen des Landes. Chaos gibt es in türkischen Städten natürlich auch. Aber es scheint ein konstruktives Chaos zu sein – die Mainmetropole und andere deutsche Großstädte sind ein destruktives Flickenteppichchaos, das sich aus Desinteresse der Behörden und fehlender Personalstruktur ergibt. Die sauertöpfisch dreinblickenden Bürger sind das Produkt dieser mentalen Dauerbelastung, die sich aus dem Leben in Deutschland ergibt.

Der Autor dieser Zeilen ist kein Weltreisender, sondern versucht dann und wann dem depression place zu entfliehen. Sein nächstes Ziel war Kreta, wo ihm im Örtchen Agia Galini donnernd Eurofighter direkt über dem Kopf hinwegflogen. Kreta ist griechischer Luftwaffenstützpunkt, von dort aus unterstützt man die Ukraine, wie es im NATO-Wording heißt. Man entflieht den Realitäten eben immer nur zur Hälfte, der Krieg ist immer schon vor Ort, bevor man diesen betreten hat. Abends in einer Taverna empfiehlt ihm ein belgischer Tourist die Makrele. Dabei kommt man ins Gespräch. What’s wrong with Germany?, wollte der wissen. Bei einer Makrele kann man das gar nicht alles erzählen. Man formuliert Schlagworte: Neurotische Gesellschaft etwa. Oder hysterischer Staat. Kriegsbereites Land. Bei dieser Formulierung gab er sich besonders bestürzt. Mit der Kanzlerin, so meinte er, wäre das sicher nicht geschehen. Unter Umständen hatte der Belgier recht. Dann sagte er, dass Deutschland früher für Industrie bekannt war. Heute nimmt er das Land anders war. Is falling down, sagte er.

Die Agenda 2010 rechtfertigen die Reformer der Sozialdemokraten und Grünen in den 2000ern mit einer Parabel, die man lange Zeit vorher schon für das Osmanische Reich gebrauchte. Deutschland war damals der kranke Mann Europas. Nur die Reformen ließen das Land genesen. Diese Geschichte ist ein Narrativ – Desinformation geradezu. Sie wäre etwas für den Digital Services Act der EU. Der größte Niedriglohnsektor Europas kurbelte Deutschland nicht an, sondern würgte es langfristig ab. Die Armut sehen wir heute in deutschen Großstädten in Form Pfandflaschen suchender Rentner. Heute ist Deutschland wieder ein kranker Mann. Ein sehr kranker und siecher Mann sogar. Es hat in weiten Teilen keine Kultur mehr und keine Tradition, ist sich selbst entfremdet – was man auch noch als Errungenschaft feiert. Offenbar sieht Europa das durchaus ähnlich. Nur in Deutschland erkennt man das nicht. Dort wartet man auf Bahnen, die nie kommen und glaubt, dass diese Unverbindlichkeit ein völlig normaler Zustand ist. 

Zum Autor:  Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Seit 2017 ist er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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