Wer die bisherige Kommunikation der ungarischen Regierung aufmerksam verfolgt hat, wird sich vielleicht wundern, dass Budapest nach seinem von Antikriegsstimmung getragenen Europa-Wahlkampf den Widerstand gegen die westliche Politik gegenüber der Ukraine über Nacht aufgegeben zu haben scheint.
Ein Beitrag von Gábor Stier
Während des jüngsten Besuchs von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Budapest kündigte Viktor Orbán unerwartet an, dass Ungarn die Entscheidungen der Nato zum russisch-ukrainischen Krieg nicht blockieren werde. Damit hat sich Budapest für eine konstruktive Enthaltung anstelle eines Vetos und einer ständigen Debatte entschieden, was es dem Bündnis auf jeden Fall leichter machen wird, Entscheidungen zum russisch-ukrainischen Krieg zu treffen. Auf dem Washingtoner Nato-Gipfel soll die Hilfe für die Ukraine von der Ebene eines Mitgliedstaates auf die der Nato übertragen werden. Das Nordatlantische Bündnis soll künftig die Hilfe für die Ukraine koordinieren, was einen gemeinsamen Beschluss voraussetzt.
Dazu musste der Widerstand der ungarischen Regierung gegen eine Unterstützung der Ukraine mit Waffen, welche sie als falsch ansieht, gebrochen werden. Und damit Viktor Orbán das Gesicht wahren kann, unterstützte der Nato-Generalsekretär lächelnd als Geste die Narrative, dass Ungarn das Ausmaß seiner Beteiligung an künftigen Operationen des Bündnisses selbst bestimmen werde und dafür die notwendigen Garantien erhalten habe. Doch dies war kaum nötig, denn es war ja bereits der Fall. Schließlich kann nach der Satzung des Bündnisses jede militärische Aktion außerhalb der Nato nur auf freiwilliger Basis erfolgen. Und die Ukraine ist kein Mitglied der Nato, zumindest noch nicht. Ungarn kann also beschließen, kein Geld für die Nato-Aktion in der Ukraine bereitzustellen, kein ungarisches Territorium dafür zur Verfügung zu stellen und auch weiterhin keine Waffen zu liefern. Im Gegenzug für den Verzicht auf ihr Veto erhielt die ungarische Regierung also das, was ihr ohnehin zusteht. Natürlich muss man das heute auch anerkennen, aber es ist vielmehr so, dass die Nato Ungarn einfach gezwungen hat, vom Widerstand abzusehen.
Man könnte aber auch sagen, dass die ungarische Regierung ihren Handlungsspielraum pragmatisch eingeschätzt hat, bis zum Anschlag gegangen ist und sich dann, als sie merkte, dass weiterer Widerstand kontraproduktiv wäre und den ungarischen Interessen sogar schaden würde, vor der größeren Macht eingeknickt ist. Dennoch hat Budapest am längsten durchgehalten und seine nationalen Interessen so lange wie möglich verteidigt. Die Vereinigten Staaten haben jedoch die Länder des westlichen Blocks unwiderstehlich auf ihre Seite gezogen, und zwar mit so starker Hand, dass weiterer Widerstand aussichtslos ist. Wer aus der Reihe tanzt, muss mit ernsten Konsequenzen rechnen, und das hat man nicht nur in Budapest, sondern überall von Berlin über Paris bis Rom verstanden. Die Bildung der Blöcke ist unvermeidlich, und wie die untergehenden Imperien auf dem absteigenden Ast, versuchen die USA auch, ihre Verbündeten mit Gewalt zu disziplinieren. Bislang war das nicht nötig, denn diese autoritätshörigen und zum Hegemon aufschauenden Länder haben sich freiwillig hinter die Weltmacht Nummer eins gestellt. Aber die Zeiten, die globalen Machtverhältnisse ändern sich, und selbst im westlichen Block erwacht man aus dem US-amerikanischen Traum. Und Washington kann dieses Erwachen nicht zulassen. Das tut es auch nicht.
In diesem internationalen Umfeld hatte Ungarn als Teil des Westblocks keine andere Wahl, als sich stillschweigend zu fügen. Und natürlich kam dieser Rückzieher nur scheinbar über Nacht. Nach zähem Ringen gab die ungarische Regierung Anfang des Jahres schließlich grünes Licht für den EU-Beitritt der Ukraine, während sie in anderen Fragen lediglich mit dem Veto wedelte und sich, nachdem sie ihre Ablehnung zum Ausdruck gebracht hatte, schlimmstenfalls für eine konstruktive Enthaltung entschied. Die Regierungspartei baute ihren Wahlkampf für die Europawahlen noch auf diesen Widerstand zugunsten der Souveränität auf, doch nach der Abstimmung verschwanden nicht nur die „Nieder mit dem Krieg!“ Plakate von den Straßen, sondern auch die Einlenkung auf diplomatischem Parkett beschleunigte sich. Hinzu kam, dass nicht nur der Druck von außen so groß wurde, dass selbst für die Souveränität stehenden Parteifamilien im Europäischen Parlament die Fidesz nicht mehr akzeptieren, sondern auch der innenpolitische Handlungsspielraum der Fidesz enger wurde. Nimmt man noch die immer prekärere Lage der ungarischen Wirtschaft hinzu, hatte Orbán am Anschlag angekommen eigentlich keine andere Wahl, als zurückzurudern – während er versuchte, sein Gesicht zu wahren.
Als Zeichen dafür gab die ungarische Regierung schließlich ihren Widerstand auf und erklärte sich, nachdem der rumänische Präsident Klaus Johannis seine Nominierung zurückgezogen hatte, bereit, den Niederländer Mark Rutte zum nächsten Nato-Generalsekretär zu machen. Aber sie sieht eine „Garantie“ für die Wiederherstellung der Rechte der ungarischen Minderheit in den Unterkarpaten. Ungarn gibt langsam seine Vorbehalte gegen den EU-Beitritt der Ukraine auf und war bereits auf Außenministerebene beim Schweizer „Friedensgipfel“ zur so genannten Selenskyj-Formel vertreten. Und um das Bild zu vervollständigen, würde auch die Europäische Union, dem Beispiel der Nato folgend, den ungarischen Widerstand brechen.
Wenn auch dies eintritt, können wir sagen, dass Ungarn im Wesentlichen eine begrenzte Mitgliedschaft sowohl in der Nato als auch in der EU hat, was zusammen mit dem sinkenden Prestige dieser beiden Organisationen die Frage aufwirft, ob es sich lohnt, ein halb ausgegrenztes Mitglied dieser beiden Organisationen zu bleiben. Die Antwort lautet im Moment ja, aber die Situation könnte sich ändern.
Übersetzung aus dem Ungarischen von Éva Péli
Zum Autor: Gábor Stier, geboren 1961, ist ein ungarischer außenpolitischer Journalist, Analyst und Publizist. Er ist Fachjournalist für Außenpolitik bei der ungarischen Wochenzeitschrift Demokrata sowie Gründungschefredakteur von #moszkvater, einem Internet-Portal über die slawischen Völker, insbesondere die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Davor war er 28 Jahre lang bis zu ihrer Auflösung bei der konservativen Tageszeitung Magyar Nemzet tätig, von 2000 bis 2017 als Leiter des außenpolitischen Ressorts. Er war der letzte Moskau-Korrespondent der Zeitung. Sein Interesse gilt dem postsowjetischen Raum und dessen aktuellen geopolitischen Entwicklungen. Stier schreibt regelmäßig für außenpolitische Fachzeitschriften und seine Beiträge und Interviews erscheinen regelmäßig in der mittel- und osteuropäischen Presse. Er ist Autor des Buches „Das Putin-Rätsel“ (2000) und seit 2009 ständiges Mitglied des Waldai-Klubs.
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