Marschiert Russland nach Westen? Kassandrarufe westlicher Politiker

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  • Juli 1, 2024
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Die US-geheimdienstliche Einschätzung ist es, dass es annähernd ausgeschlossen ist, dass Russland ein NATO Land angreifen wird; denn nur dann würde es ja zu einem militärischen Konflikt mit (US-)amerikanischen oder NATO-Streitkräften kommen. Weshalb warnen dann eigentlich (west-)europäische Politiker und die NATO davor, dass der Einmarsch Russlands in die Ukraine möglicherweise erst der Anfang von Expansionsbestrebungen Präsident Putins sein könnte? Berlin 24/7 stellt die aktuelle Lagebeurteilung Russlands durch die Gesamtheit der (US-)amerikanischen Geheimdienste – und die Kassandrarufe westlicher Politiker – vor. 

Ein Beitrag von Jochen Hübschen

Shutterstock/ Zwiebackesser

Am 5. Februar 2024 wurde vom (US-)amerikanischen “Office of the Director of National Intelligence” der jährliche Bericht über die weltweiten Bedrohungen der nationalen Sicherheit der USA (Annual report of worldwide threats to the national security of the United States) veröffentlicht. In diesem “Annual threat Assessment of the U.S. Intelligence Community” heißt es zu einer möglichen Bedrohung durch Russland: 

Im Klartext bedeutet diese geheimdienstliche Einschätzung, dass es annähernd ausgeschlossen ist, dass Russland ein NATO Land angreifen wird; denn nur dann würde es ja zu einem militärischen Konflikt mit (US-)amerikanischen oder NATO-Streitkräften kommen. Der Vollständigkeit halber sollte man allerdings hinzufügen, dass dies natürlich dann nicht gilt, wenn (US-)amerikanische oder NATO-Soldaten auf ukrainischem Territorium zum Einsatz kämen, was der französische Präsident Macron ja nicht ausgeschlossen hat.

Abgesehen von dem hiermit dargestellten „Sonderfall“ stellt sich also die Frage, warum (US-)amerikanische und auch (EU-)Politiker, ebenso wie der NATO-Generalsekretär, trotzdem immer wieder davor warnen, dass der Einmarsch Russlands in die Ukraine möglicherweise erst der Anfang der Expansionsbestrebungen von Präsident Putin sein könnte.

Sind diese Kassandrarufe berechtigt oder handelt es sich eher um eine gezielte Panikmache, um die Bevölkerung „des Westens“ davon zu überzeugen, dass höhere Verteidigungsausgaben unabdingbar sind und die vom deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius geforderte Kriegstüchtigkeit höchste Priorität haben muss.

Die Geheimdienste der (West-)europäischen Staaten arbeiten sehr eng zusammen, und es gibt wohl keinen nationalen Geheimdienst in (West)europa, der letztlich nicht auf die Erkenntnisse der US- Dienste angewiesen wäre. Sicherlich verfügen der britische MI-6 oder auch der deutsche Bundesnachrichtendienst BND über eigene Quellen, aber kein (west)europäischer Staat kann auf vergleichbare Aufklärungsmöglichkeiten zurückgreifen wie die USA. Man könnte also – einfach formuliert – sagen: Wenn die (US-)amerikanischen Geheimdienste es sagen, dann muss es ja wohl stimmen.

Von „Berufszweiflern“ wird in diesem Zusammenhang einschränkend immer wieder darauf hingewiesen, dass doch der israelische Geheimdienst Mossad die leistungsfähigste Spionage-Organisation Welt weit sei. Spätestens seit dem Anschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 dürften dahingehend erhebliche Bedenken entstanden sein. Bleibt die Frage, worauf sich verantwortliche Politiker in ihren Aussagen stützen, wenn sie behaupten, dass Russland die Freiheit der westlichen Welt bedrohe oder anders ausgedrückt, dass die Ukraine in ihrem Kampf gegen die russischen Streitkräfte die Freiheit (West-)Europas verteidige? Für diese Behauptungen nachfolgend lediglich zwei aktuelle Beispiele:

Ein gutes Beispiel für die herbeigeredete russische Bedrohung (West-)Europas ist die Friedenskonferenz in der Schweiz, zu der man Russland gar nicht eingeladen hatte. Vielleicht war der Grund für diese Nichteinladung, dass sonst die Gefahr bestanden hätte, dass der Vertreter Russlands deutlich gemacht hätte, worum es Moskau bei dem Krieg in der Ukraine gehe und warum nicht. Damit will ich übrigens in keiner Weise den russischen Angriff auf die Ukraine rechtfertigen oder relativieren, aber möchte auf der anderen Seite die Position des ukrainischen Außenministeriums zurückweisen, das nach der Konferenz verlauten ließ:

Die Beweise für die Behauptung, Moskau plane eine weitere Aggression in Europa, blieb das Ministerium – man könnte ergänzen: wie immer – schuldig.

Am 17. Juni 2024 veröffentlichte die SZ ein Interview mit Außenministerin Baerbock. Darin sagte die Ministerin u.a.: `

Mit dieser Aussage impliziert Frau Baerbock, dass in der Ukraine auch die Freiheit Deutschlands verteidigt wird, und das ist falsch. Wenn es nämlich wirklich so wäre, müsste die Bundesregierung deutsche Soldaten in die Ukraine schicken, weil – nach dem Grundgesetz – die Bundeswehr für die Verteidigung Deutschlands zuständig und verantwortlich ist.

Und noch eins: Russische Truppen stehen bereits jetzt im Kaliningrader Oblast an der 200 km langen Grenze zu Polen, was die Ministerin offensichtlich nicht weiß. In dem Interview heißt es weiter. „Putins Kriegsführung ist auch gegen uns gerichtet. Er will die Friedensordnung in Europa zerstören und damit so viele liberale Demokratien wie möglich…“ Konkrete Beweise für diese Behauptungen fügt die Ministerin nicht an.

Die Kassandrarufe (west-)europäischer und (US-)amerikanischer Politiker und sogenannter Militärexperten stehen im klaren Widerspruch zu den vorliegenden Erkenntnissen der (US-)amerikanischen Geheimdienste und stützen sich in der Hauptsache auf zugegebenermaßen erstklassige PR-Aktionen und publikumswirksame Auftritte des ukrainischen Präsidenten, vor allem im Fernsehen und auf der internationalen Bühne. Man könnte auch sagen, auf die ukrainische Propaganda. Aus der Sicht Kiews ist dies die wirkungsvollste Vorgehensweise, die umfassende militärische Unterstützung durch „den Westen“ nicht nur weiterhin zu erhalten, sondern möglichst noch zu erhöhen. Die Hauptprofiteure dieser Strategie sind im „Westen“ die (US-)amerikanische und (west)europäische Rüstungsindustrie. Aber auch für die Politiker „des Westens“ ist die Darstellung einer „aufgebauschten“ russischen Bedrohung gegenüber der eigenen Bevölkerung die beste Begründung für den immensen finanziellen Aufwand für Waffenlieferungen an die Ukraine und in Deutschland z.B. auch für die Beibehaltung des sozialen Sonderstatus der ukrainischen Flüchtlinge und die damit verbundenen finanziellen Leistungen.

Da es offensichtlich keinen (west-)europäischen oder auch (US-)amerikanischen Politiker gibt, der über andere gesicherte Erkenntnisse als die US-Geheimdienste verfügt, sollte die Politik sich exakt auf deren Bewertung stützen und alles dafür tun, den Krieg mit einer diplomatischen Initiative zu beenden anstatt die anti-russische Stimmung z. B. durch polemische Aussagen wie von Frau Strack-Zimmermann vor den EU-Wahlen ständig weiter anzuheizen mit Formulierungen wie: Putin sei ein Mörder. Er werde immer weiter voranschreiten, „wenn wir ihn in der Ukraine nicht stoppen“. Sollte er erfolgreich sein, werde er Georgien, Moldawien und später auch das Baltikum angreifen. Der russische Präsident bringe sein Volk in Stellung gegen den Westen. Deshalb „müssen wir so schnell wie möglich verteidigungsfähig werden“.

Stattdessen sollte man dem Bundeskanzler in seiner abschließenden Bewertung der Schweizer Friedenskonferenz zustimmen, als er unter anderem sagte: „Es ist wahr, dass der Frieden in der Ukraine nicht erreicht werden kann, ohne Russland miteinzubeziehen.“ Gleichzeitig sollte man ihn beim Wort nehmen und auffordern, die nächste Konferenz in Berlin durchzuführen und natürlich Russland dazu einzuladen.

Unbenommen davon – das ist überhaupt kein Widerspruch – sollte sich (West-)Europa darum bemühen, seine Verteidigungsfähigkeit als Abschreckung möglicher Gegner und für etwaige militärische Auseinandersetzungen zu stärken, allerdings ohne dabei Russland als Begründung zu instrumentalisieren. Die Wehrhaftigkeit demokratischer Staaten braucht als Motivation kein Feindbild.

Zum Autor: Jochen Hübschen, Jahrgang 1945, war bei der Luftwaffe als Oberst im Generalstabsdienst, u.a. als Militärattaché in Bagdad tätig und Leiter einer OSZE Mission in Lettland. Seit seiner Pensionierung verfasst er sicherheitspolitische Beiträge, hält Vorträge und unterstützt NGOs in Sicherheitsfragen. Seit 54 Jahren ist er mit derselben Frau verheiratet, hat 4 Kinder und 9 Enkelkinder. Er schreibt Unterhaltungs- und Kinderbücher und ritt gerne, bis ihm das Pferd zu hoch wurde. Dieser Beitrag erschien in Erstveröffentlichung beim Overton-Magazin am 19.Juni 2024. Link: https://overton-magazin.de/hintergrund/politik/marschiert-russland-nach-westen/#comment-135630

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen. Die Meinungen und Ansichten der Autoren müssen nicht der Redaktion von Berlin 24/7 entsprechen.

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