Wahlkampf – das Wort ist eine Reminiszenz an längst vergangene kämpferische Tage; ein Atavismus und Überbleibsel aus einer Zeit, da Parteien in den Wochen und Monaten vor einer Wahl um ihre eigenen Positionen rangen. Und zwar so, dass »die Aussagen des politischen Gegners entkräftet und dieser in eine Defensivposition gedrängt wird«. So definiert der Brockhaus den Begriff. Außerdem sei Wahlkampf geprägt von »Bestrebungen zur Beeinflussung der Wähler«, liest man dort. Das Wissen darüber, was Wahlkampf ist, scheint also immerhin noch enzyklopädisch erhalten zu sein. In der Realität ist er aus der Mode geraten.
Ein Beitrag Roberto J. De Lapuente
Nicht erst seit neulich, sondern schon vor vielen Jahren schien es einen Kampf um die Wähler kaum noch zu geben. Wie sollte der auch glaubhaft stattfinden können, wenn die beiden größeren Parteien – früher Volksparteien genannt – dauerhaft in einen Großkoalitionsmodus ausharren? 2012 warben die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen dann mit dem Slogan »Currywurst ist SPD« – den Kontrahenten griff man schon gar nicht mehr an. Stattdessen Wurst als Alleinstellungsmerkmal – warum auch immer! Dieser Tage ist es noch schlimmer. Eine heilige Allianz hat sich gefunden, um den Wahlkampf endgültig abzuschaffen. Und zwar für die Demokratie.
Selbstgerechte „Einheitspartei“ Deutschlands
Für das Superwahljahr 2024 haben die Parteien CDU/ CSU, SPD, Grüne, FDP und Linke an einer Erklärung gefeilt – um der Demokratie zu ihrem Recht zu verhelfen: Sie haben sich auf Regeln für den Wahlkampf geeinigt. Also für das, was sie in den Monaten vor den anstehenden Wahlen veranstalten und das gemeinhin, weil man die Zeit davor traditionell immer so nannte, »Wahlkampf« heißt. Ein bisschen so, wie man heute noch das Wort »Wortschatz« verwendet, obwohl die deutsche Sprache schon längst nicht mehr wie ein Schatz gehütet wird. Bevor die beteiligten Parteien ihren geheiligten Eid ablegten, äußerten sie sich in der Erklärung zur AfD: »Mit der AfD und mit Parteien, die nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, wird es keinerlei Zusammenarbeit geben.«
Um die Demokratie vor dem Zugriff der AfD zu bewahren, macht die Einheitsfront fünf Punkte klar:
1. Man bekämpfe den Extremismus,
2. fördere eine respektvolle Demonstrationskultur,
3. setze auf sachliche Diskussion,
4. sage der Desinformation und der Falschinformation den Kampf an und
5. werbe für das Engagement in demokratischen Parteien.
Das Beispiel auf Bundesebene macht Schule: Die Frankfurter Allgemeine berichtet, dass sich die Parteien in Frankfurt für die Europawahl zusammentun. Das sei ein »Novum im Wahlkampf«, schreibt die Gazette, findet es am Ende dann wohl aber völlig in Ordnung. Die vertretenen Parteien, CDU, SPD, Grüne, FDP, Linke und Volt, machen in der hessischen Metropole zusammen Werbung für die Europawahl – und damit für die Demokratie. Die inhaltlichen Positionen werden hierbei als zweitrangig erachtet. Ähnliches im nordrhein-westfälischen Hattingen: Dort schmiedeten die Parteien eine Allianz, um eine Wahlkampfveranstaltung der AfD zu sprengen. Wieder schiebt man die Demokratie vor. Zu ihrem Erhalt stehe man zusammen.
Gegen Falschinformation? Kampf dem falschen Wahlversprechen?
Diese zur Schau getragene Selbstgerechtigkeit hat das Ringen um Positionen, den Streit um Argumente oder auch faktenfernen Vorstellungen überwunden. Die Demokratierettung wird in diesem Lande ganz offenbar mehr und mehr zum Gegenstand, der Parteien umtreibt. Sie vergessen darüber ihren eigentlichen Auftrag: An der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Artikel 21 des Grundgesetzes spricht davon. Zwar liest man dort auch, dass eine Partei verfassungswidrig sei, die die freiheitliche demokratische Grundordnung beeinträchtigen oder beseitigen möchte – doch für die AfD ist dieser Umstand nicht gerichtlich festgestellt. Dass Parteien aber Willensbildung mit parteilichem Zusammenschluss begehen sollen, davon liest man dort nichts.
Wie soll man auf dieser Grundlage auch verschiedene Interessen vertreten können. Die Allianz, die hier geschmiedet wird und die voller Stolz hervorkehrt, dass man nun Wahlkampf als sachliche Diskussion ausfechte, entbehrt jeder demokratischen Grundlage. Demokratie bedeutet Streit – für Positionen Kontroversen einzugehen, sein Anliegen durchzuringen, den Gegner verbal zu schwächen, ihm zuzusetzen: Das ist Streitkultur, die die Demokratie braucht. Waren die streitsüchtigen Parlamentarier der Bonner Republik Leute, vor denen sich die Demokratie hätte schützen müssen?
Überhaupt zeigt sich die Selbstgerechtigkeit, mit der die genannten Parteien kooperieren und darüber hinaus ihren originären Auftrag vergessen, nämlich die Interessen ihrer Wähler zu vertreten, ganz markant an jenem Punkt, der klarmacht, dass man Desinformation und Falschinformation nicht mehr gelten lassen wolle. Wie jetzt – ein Wahlkampf, in dem es keine Falschinformation mehr gibt? Früher nannte man die Wahlversprechen – und Franz Müntefering stellte einst klar, dass es ungerecht sei, die Parteien wegen ihrer falsch gegebenen Wahlversprechen zu kritisieren. Da war die Lüge im Wahlkampf noch Programm.
Aber gut, eingangs wurde es ja schon erwähnt: Wahlkampf war mal. Der Begriff ist eine gute alte Tradition – weil man es halt immer sagte. Grundsätzlich benötigen wir in Zeiten wie diesen, in denen Parteien nicht mehr streiten wollen, sondern sich in blanker Harmoniesucht in die Arme schließen, einen anderen Begriff für die Zeit, die vor Urnengängen anbricht. Wie wäre es mit Wahlschmusen? Das träfe für die zeitgenössische Praxis zu. Vielleicht greift dann auch keiner mehr Wahlkampfhelfer an, wenn sie Wahlschmusehelfer sind. Wer will schon Leuten was tun, die gerne kuscheln?
Zum Autor: Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Seit 2017 ist er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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