Das politische Personal entmündigt den Souverän – und macht ihn bei jeder Gelegenheit lächerlich. Die Wahlhelfer kriegen das nun leider zu spüren.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente
Die politische Klasse ist entsetzt. Es geht ihr an den Kragen, die Einschläge kommen auch für sie immer näher – in Form wütender Menschen aus dem Volk. Sie greifen nun die Politik immer häufiger offen an. Setzen physische Gewalt ein. Politiker fordern daher mehr Schutz, mehr Abschottung – es ist nur eine Frage der Zeit, bis im politischen Berlin wieder eine Bannmeile ums Bundestagsviertel die Debatte »bereichert«. Denn nur Abstand kann bekanntlich helfen – als gäbe es nicht schon genug davon zum Volk.
Es gibt aber ein Missverständnis bei all dem Entsetzen, das jetzt in jede Kamera diktiert wird: Die politische Klasse ist gar nicht direkt betroffen. Es sind deren Helfer im untersten Segment der Basis, die mit der Furcht vor Übergriffen leben müssen. Menschen, die Wahlplakate kleben, Broschüren verteilen oder vor Ort an Wahlkampfständen werben. Die bekommen es mit der Gewalt zu tun – ein Robert Habeck mag sich darüber empören, aber ein Opfer dieser Art ist er nicht. Sein verlängerter Fährenaufenthalt vor einigen Monaten kann nicht ernstlich als Gewalterfahrung zählen.
Mündel – nicht mündig
Wie könnten sie es auch sein? Sie werden rund um die Uhr bewacht. Wo sie vorfahren, trifft zunächst die Polizei ein. Wachpersonal flankiert sie. Es gibt Bilder, wie man irgendwo in der Provinz versucht, Ricarda Lang den Weg abzusperren – das heißt, ihrem Konvoi aus gepanzertem Kraftfahrzeug und Bewachungskorso. Das gelang natürlich nicht. Um ihre körperliche Unversehrtheit musste die Grüne nicht einen Moment bangen. Sie kann sich, anders als mancher Wahlkampfhelfer in diesen Zeiten, relativ frei bewegen. Dem Bodyguard sei es gedankt, der ihr auf Schritt und Tritt folgt.
Die große Politik macht mit diesem Aufschrei, man gehe ihr nun körperlich an den Kragen, genau das, was sie gemeinhin in geübter Meisterschaft am besten kann: Sie reißt an sich. Diesmal die Gewalt gegen nebenberufliche Kommunalpolitiker und Wahlkampfhelfer – um sich selbst in Szene zu setzen. Sie zeigt sich empört, weil einige der Ihren angegriffen werden. Aber die Ihren sind es gar nicht. Es sind die kleinsten Fische im politischen Betrieb, die nun ausbaden, was die große Politik über Jahrzehnte und speziell in den letzten drei Jahren verbrochen hat. Sie zahlen die Zeche für die absolute Überheblichkeit, die in der Berliner Blase gegenüber dem Volk herrscht.
Egozentrisch zieht die große Politik die Angriffe auf sich selbst. Aus der Sicherheit heraus fordert sie mehr Sicherheit für sich. Inszeniert sich als angegriffene Klasse. Verliert aber kein Wort darüber, woher diese Aggressionen gegen jene, die für sie Wahlkampf betreiben, eigentlich stammen könnten. Es muss doch einen Grund geben, warum das politische Fußvolk plötzlich gehäuft mit der Wut und der Gewaltbereitschaft aus der Bevölkerung konfrontiert wird. Dass hinter den Angriffen Ohnmacht stecken könnte, wird nicht zur Kenntnis genommen. Aber es liegt nahe, dass sich immer mehr Bürger im Lande wie Mündel fühlen – und nicht wie mündige Bürger.
Demokratie: Ein Monolith
Seit vielen Jahren wird gegen die Interessen der Bevölkerung regiert. Das ist kein Phänomen, das die amtierende Regierung aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen erfunden hätte. Schon vor zwanzig Jahren exekutierte man Sozial- und Arbeitsmarktreformen, die den Menschen im Lande – speziell dann, wenn sie von ihrer eigenen Hände Arbeit leben mussten – schaden würden. Man schliff die Ausgaben, bewertete Staatsaufgaben massiv nach betriebswirtschaftlichen Standards und ruinierte so die Infrastruktur. Diesbezüglich reicht nur ein kurzer Blick auf die Deutsche Bahn – deren Chef sagte neulich der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, dass Pünktlichkeit nicht mehr das Ziel der Bahn sei. Für sie gehe es nun um Klimaschutz – dafür sollten die Bürger ihr notorisches Zuspätkommen in Kauf nehmen.
Solche Floskeln kommen, wenn man einen Staatsbetrieb auf Verschleiß fährt. Da stellt sich niemand hin und jammert – da wird so getan, als sei der Missstand der eigentliche Clou. Dieses Land ist kaum noch wettbewerbsfähig, die Politik der letzten drei Jahre hat dabei stark mitgeholfen. Wo Deutschland aber noch einer der Weltmarktführer ist: Im PR-Sprech. So tun, als sei das Land in bester Verfassung, das wird je grauer die Realität wird, von zunehmender Bedeutung. Die Menschen spüren das natürlich. Denn in den letzten Jahren bekommen sie die Folgen dieser Politik gegen das Volk noch stärker am eigenen Leib zu spüren. Ihr Lebensstandard sinkt merklich. Viele verfallen in Resignation – andere werden wütend. Und offenbar auch gewaltbereit.
Für viele ist offenbar, dass diese Demokratie nicht mehr funktioniert. Egal, für wen sie sich am Wahlsonntag entscheiden: Die Anpassungsmechanismen scheinen schnell zu wirken. Die uns bekannte Demokratie hat sich über Jahrzehnte in einen Monolith verwandelt. Die Parteien haben ihr ein enges Korsett geschnürt, aus dem sie nicht mehr herauszuschlüpfen vermag. Sie verwalten sie, um sich politisch über Wasser zu halten – demokratisches Leben sähe anders aus. Debattenreicher und mit einem Ohr für die Belange aller Bürger zum Beispiel. Aber genau das hat diese Demokratie nicht mehr im Repertoire. »Dem deutschen Volke« liest man als Inschrift auf dem Reichstag: Viele empfinden diesen Schriftzug als Etikettenschwindel.
Gewalt mag keine Lösung sein …
Dass das nicht nur ein vages Gefühl ist, sondern Substanz hat, erkennt man in vielen Auftritten des politischen Spitzenpersonals aus Berlin. Die Unkenntnis darüber, wie hoch etwa die Durchschnittsrente im Lande ist oder wie genau sich eine Insolvenz definieren lässt, spricht Bände. Dazu ein Bundeskanzler, der Erinnerungslücken hat und wenn er sich doch erinnert, mit Doppelwumms seinem Volk infantile Sprache vorsetzt – oder wahlweise Menschen als »gefallene Engel aus der Hölle« bezeichnet, weil die sich für eine diplomatische Lösung in Osteuropa einsetzen.
Diese Unkenntnis über die realen Lebenssituationen der Bürger schottet man hinter einem Verfassungsschutz ab, der die Interessen der Bundesregierung schützt – und eben nicht der Verfassung. Jeder Bürger, der es wagt, die Integrität von Scholz‘ Kabinett anzuzweifeln, wird als potenzielle Gefahr von rechts gesehen und übt sich vermeintlich in der Delegitimierung des Staates. Das Land befindet sich deshalb auch in einem fortwährenden Rechtsruck, weil eben alles als rechtsextrem eingestuft wird, was nicht den Vorstellungen aus der Berliner Blase entspricht – willfährige Journalistenhelfer, die in unmittelbarer Nähe zur politischen Macht wirken, spielen das Sprachrohr dieses politischen Verachtungskultes. Sie begreifen sich selbst als Moraleliten, die die Unmoral einer Bevölkerung, die mehr und mehr den Respekt vor einer Politik verliert, die über sie hinweggeht, als verfassungsfeindlich deklariert.
Natürlich ist Gewalt auch dann kein adäquates Mittel. Aber so zu tun, als habe man das alles nicht kommen sehen, kann man ja nun auch nicht. Keiner mag Gewalt – aber sie ist die logische Konsequenz der menschlichen Existenz. Sie entspricht, ob man das will oder nicht, der conditio humana. Man sollte sie auf der Rechnung haben, wenn man Menschen verächtlich macht und an ihnen vorbeiregiert. Die politischen Empörer, die jetzt diese Vorfälle als Angriffe auf sie, ihre Würde, ihr Wirken darstellen wollen, sollten diese Gewalt als etwas anderes sehen: Als weit verbreitete Ohnmacht, die in der Bevölkerung herrscht. Wer sich jetzt weiter abschotten will, gräbt die Gräben noch tiefer – und leistet einen Beitrag, die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft weiter zu erhöhen.
Disclaimer: Berlin 24/ 7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln.