Als die Farbrevolutionen noch blumige Namen hatten / 50 Jahre Nelkenrevolution in Portugal

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  • April 28, 2024
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Mittlerweile erkennen wir die Tricks der Aufstandsbekämpfung durch die westliche Wertegemeinschaft. Diese Tricks waren schon vor einem halben Jahrhundert wirksam. Nur waren die Leute damals noch viel zu gutgläubig, um die Raffinesse zu durchschauen.

Ein Kommentar von Hermann Ploppa.

Max Zvonarev / shutterstock

In der Nacht vom 24. auf den 25 April des Jahres 1974 spielten Radioanstalten in Portugal eine vollkommen unpolitische Schnulze. Nämlich Portugals Beitrag zum europäischen Schlagerwettbewerb Grand Prix de Eurovision. Paulo de Carvalho intonierte sein Liedchen „Und nach dem Abschied“ (1). Was war schon dabei? Doch nicht einmal die gefürchteten Lauscher und Horcher der faschistischen Geheim-Stasi Portugals begriffen, dass das Liedchen das Angriffssignal einer Revolution war. Denn wenn Carvalhos Schnulze ertönte, wussten die jungen Offiziere der Bewegung der Streitkräfte MFA, dass sie sich jetzt bereit halten mussten. Stunden später wussten auch die berüchtigten Lauscher und Gucker von der Geheimpolizei DGS, dass hier was nicht mehr in Ordnung war. Denn aus den Radios erklang jetzt das verbotene Lied „Grandola, vila morena“ des antifaschistischen Sängers Zeca Alfonso (2). Nun rückten die unzufriedenen Jungoffiziere der MFA mit Panzern und Fußsoldaten in die wichtigen Städte ein. Die seit einem halben Jahrhundert von der Diktatur unterjochte Bevölkerung, die von den Faschisten erklärtermaßen „arm und dumm“ gehalten werden sollte, wusste, dass es jetzt nur besser werden konnte. Die einrückenden Soldaten wurden von Frauen mit Frühstück empfangen. In die Gewehrläufe ließen die Soldaten sich bereitwillig rote Nelken stecken. Ein Zeichen der sozialistischen Bewegung.

Offenkundig war die Diktatur des Marcelo Caetano so selbstzufrieden eingeschläfert, dass eine herannahende Revolution unbemerkt blieb. Die aufgebrachte Volksmenge belagert zunächst die Zentrale der verhassten Geheimpolizei DGS. Die DGS-Leute reagieren im gewohnten Muster: sie schießen auf die Menge. Vier Todesopfer und 43 Verletzte sind zu beklagen. Doch die Menge bleibt auf dem Platz. Am darauf folgenden Morgen ergeben sich die Geheimpolizisten den revoltierenden Militärs.

Noch-Diktator Caetano hat sich verschanzt und schickt Truppen gegen die Revolutionäre. Dummerweise schließen sich die Regierungssoldaten sofort den Revolutionären an. Caetano will jetzt aber seine Macht nur an einen ordentlichen Militärgeneral übergeben. Er will den schneidigen Militär Antonio de Spinola als Nachfolger. Das kann man gut nachvollziehen. Denn Spinola, der im Stil wilhelminischer Generäle ein Monokel als Sehhilfe zu tragen wusste, war ein bewährter faschistischer Haudegen alter Schule. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er als portugiesischer Militär auf der Seite Francos. Für die deutsche Wehrmacht war er als Beobachter bei der grauenhaften Belagerung Leningrads dabei. Doch Spinola hatte sich jetzt gerade im Frühjahr 1974 bei den Mächtigen vollkommen unbeliebt gemacht.

Damit kommen wir zu einer der Ursachen, warum ausgerechnet Militärs in Portugal der faschistischen Diktatur den Saft abdrehten. Denn Portugal unterhielt zu jener Zeit immer noch Kolonien. Vom Goldbringer Brasilien hatte sich Portugal schon im Neunzehnten Jahrhundert verabschieden müssen. Dafür hatte Portugal in Afrika eine Reihe von Kolonien erobert, die allerdings nicht halb so gewinnbringend waren wie Brasilien. Und nun wurden die Widerstandsbewegungen in Angola, Mosambik oder portugiesisch Guinea immer stärker. Portugal drohte an diesen Kolonialkriegen komplett kaputt zu gehen. Immer verlustreicher wurden diese Kriege. Und weil die erste Garnitur von portugiesischen Offizieren nun schon weitgehend gefallen war, mussten jetzt junge Männer aus der portugiesischen Unterschicht in die Offiziersränge nachrücken. Und die hatten nicht vergessen, wo sie herkamen. Und mit welcher Geringschätzung das einfache Volk unter Caetano und dessen Vorgänger und Dauer-Diktator Antonio Salazar behandelt wurde. Die neuen Offiziere aus der Unterschicht waren nicht betriebsblind wie ihre aristokratischen Vorgänger. Sie sahen sich eher als Leidensgenossen der afrikanischen Kolonialvölker. Sie schlossen sich zusammen in der Bewegung der Streitkräfte, kurz: der MFA, und dachten gemeinsam darüber nach, wie man diesen verheerenden Kolonialkrieg beenden könne. Und wie ein modernes, gerechtes Portugal aussehen sollte.

Ja, und zur Überraschung nicht zuletzt jener jungen Offiziere kam ihnen just jener Haudegen-General Spinola zu Hilfe. Der hatte Anfang des Jahres 1974 ein kluges Buch mit dem Titel „Portugal und die Zukunft“ geschrieben. Da führt er aus, dass dieser verdammte Kolonialkrieg der Portugiesen militärisch nicht zu gewinnen ist. Zudem geht dabei die Wirtschaft Portugals, der es sowieso nicht gut geht, vollkommen vor die Hunde. Denn für diesen Kolonialkrieg muss glatt die Hälfte des Staatshaushaltes vergeudet werden. Die Kolonien müssen folglich in die Unabhängigkeit entlassen werden. Portugal braucht das Geld für wichtigere Dinge, als irgendwelche absolut unrentablen Kolonien um jeden Preis zu behalten. Spinola weiß, wovon er spricht. Im Jahr 1973 befehligte er die schmutzige Operation Grünes Meer. Dabei attackierte Spinola mit portugiesischen Truppen und einheimischen Kollaborateuren den Nachbarstaat Guinea. Ziel der Aktion: portugiesische Gefangene raushauen. Obendrein dem unabhängigen Staat Guinea eine Lektion erteilen. Den charismatischen politischen Führer Amilcar Cabral und den Staatspräsident von Guinea, Sekou Touré ermorden. Spinolas Coup endet als Teilsieg. Die gefangenen Portugiesen hat er rausgehauen. Aber Sekou Touré und Amilcar Cabral hat er nicht gekriegt.

Wenn jetzt der bedrängte Diktator Caetano den revoltierenden Offizieren in Lissabon den Monokel-General Spinola als seinen Nachfolger aufs Auge drücken will, haben die jungen Offiziere verständlicherweise Schluckbeschwerden. Doch vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht, einen berühmten General, der in seinem letzten Buch erstaunliche Lichtblicke offenbarte, zum neuen Staatschef zu machen? Spinola wird neuer Staatschef. Vielleicht war das schon der erste Fehler der jungen Bewegung der Streitkräfte. Jedenfalls wird jetzt eine Übergangsregierung gebildet, die ein demokratisches Portugal vorbereiten soll. Und wie jeder unvorbereitete politische Neuanfang beginnt auch die Nelkenrevolution rührend unschuldig und chaotisch zugleich. Tausende von politischen Ideen sprießen aus dem Boden wie Blumen nach einem warmen Regen. Es ist aber klar, dass es gewisse gut genährte politische Kreise gibt, die dieses rührende Chaos in ihrem Sinne umlenken können.

Ihre Opfer sind zunächst einmal die Kräfte der Basisdemokratie. Nämlich jene Leute, die einfach in ein Vakuum hinein geschubst wurden. Das alte Regime ist eigentlich ganz von selber kollabiert. Urplötzlich muss das Vakuum mit neuen Inhalten gefüllt werden. Niemand hat sich zunächst vor gedrängelt und hat diese Situation als Sprungbrett für seine Karriere angesehen. Es bilden sich Selbsthilfeorganisationen, die die kollabierte Gesellschaft von unten her neu aufbauen wollen. Der Nachteil dieser Basisbewegungen: sie müssen das Rad andauernd neu erfinden. So wird wild herumexperimentiert und es werden neue Formen der Organisation ausprobiert. Fehler werden gemacht. Wertvolle Zeit wird vergeudet. So bilden sich im Zuge der Nelkenrevolution unzählige Arbeiterräte und Genossenschaften. Die Gesellschaft soll von unten her völlig neu organisiert werden.

Doch während da unten so munter herumexperimentiert wird, haben andere Kreise schon längst einen Plan. Es sind im Groben drei Gruppen, die in den wilden Jahren der Nelkenrevolution zwischen 1974 und 1976 aktiv sind. Neben den bereits erwähnten Basisdemokraten gab es ja immer noch jene Leute, die gerne wieder alles so haben wollten wie unter der Diktatur von Salazar und Caetano. Neben rechtsextremen Militärs ist hier vor allem die Katholische Kirche zu nennen, der es unter der Diktatur prächtig erging. Auch die Kommunisten sowjetischer Prägung hatten ihren, wie immer gänzlich realitätsfernen, erfolglosen Masterplan, um auch Portugal im Sinne sowjetischer Geopolitik zu beeinflussen. Die Sowjetkommunisten unter Alvaro Cunhal verloren in diesem Prozess immer weiter an Rückhalt.

Doch weder die faschistische Fraktion der Salazar-Nostalgiker noch die Sowjetkommunisten machten das Rennen. Für die Eingliederung Portugals in ein modernisiertes Europa erwiesen sich die Sozialdemokraten einmal wieder als die am besten geeigneten Strategen. In jenen Siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts war der Siegeszug der international vernetzten Sozialdemokraten noch ungebrochen. Letztlich war es die der SPD nahestehende Friedrich-Ebert-Stiftung, die der Basisdemokratie in Portugal das Genick brechen sollte. Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist ja auch benannt nach jenem SPD-Politiker Friedrich Ebert, der die Basisbewegung in Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg mit faschistischen Freikorpsverbänden niedermetzeln ließ und auf diese Weise schon damals dem Siegeszug der Nationalsozialisten unter Hitler den Weg bereitete. Die deutschen Sozialdemokraten erkannten schon frühzeitig, dass sich das Caetano-Regime nicht mehr lange halten würde. Sie bauten rechtzeitig den Politiker Mario Soares als ihren Mann in Portugal auf. Willy Brandt protegierte den Exilpolitiker nach Kräften. Und so wurde nach dem Gusto der SPD in den Räumen der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bad Münstereifel im Jahr 1973 die portugiesische Sozialistische Partei PS gegründet (3).

Kaum dürfen alle Exilpolitiker wieder in Portugal einreisen, beginnt Mario Soares, dick gepolstert mit Geld und taktischen Ratschlägen der SPD, das Ruder in Portugal herumzureißen. Dem Politiker kommt zugute, dass die Basispolitiker sich immer mehr zerstreiten. Und dass die zu einer politischen Strategie unfähigen Salazar-Nostalgiker jede Gelegenheit nutzen, um Unruhe zu stiften. Schon im März 1975 versucht der einstige General und kurzfristige Staatschef Spinola einen Staatsstreich gegen die verhassten Jungoffiziere – und scheitert. Der Vorstoß von ganz rechts veranlasst wiederum die Übergangsregierung, das Steuer ganz weit nach links zu drehen. Viele Unternehmen in Portugal werden jetzt verstaatlicht. Das wiederum treibt verunsicherte Bürger in das eher rechte Lager. Im November 1975 kommt es zu einem erneuten Staatsstreich, dessen Hintergründe bis heute im Dunkeln liegen. Wichtigstes Resultat ist, dass der Mastermind der Nelkenrevolution, der Offizier Otelo Saraiva de Carvalho, politisch ausgeschaltet wird. Und dass den Basisdemokraten dieser seltsame Putsch in die Schuhe geschoben wird. Das dient als Begründung, die Nelkenrevolution hiermit als beendet zu erklären.

Im Jahre 1976 übergibt das Militär die politische Verantwortung wieder an die Zivilgesellschaft. Eine Verfassunggebende Versammlung hat eine demokratische Verfassung ausgearbeitet. Die Parlamentswahlen gewinnen die aus Bad Münstereifel exzellent trainierten „Sozialisten“ des Mario Soares. Als Zweite erreichen selbst erklärte rechte Sozialdemokraten das Ziel. Auf dem dritten Platz finden sich zunächst die Sowjetkommunisten unter Alvaro Cunhal wieder. In der nachfolgenden Wahl zum Staatspräsidenten unterliegt der mittlerweile kriminalisierte und von den Medien diffamierte Otelo Carvalho dem erfolgreichen Putschistenführer vom November 1975, Antonio Ramalho Eanes, mit 16 zu 62 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Der Weg ist frei für den aus Deutschland kontrollierten und gelenkten Sozialdemokraten Mario Soares. Portugal geht jetzt den selben Weg wie Spanien oder Griechenland. Hinein in die Europäische Gemeinschaft. Hinein in die Euro-Zone. Und damit unweigerlich unter die Kontrolle amerikanisch-deutsch-französischer Investorengruppen. Heute gehört Portugal weniger denn je den Portugiesen. Die Filetstücke dieses schönen Landes haben sich ausländische Konglomerate unter den Nagel gerissen.

Wenn man mit ansehen muss, wie immer nach dem gleichen Schema Völker auf diesem Planeten unter dem Anschein von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialem Fortschritt fortlaufend enteignet und entrechtet werden, fragt man sich doch: warum lernen wir nicht endlich aus diesen bitteren Lektionen, und fangen an, selber Strategien zu entwickeln? Wann bilden wir endlich selber Denkfabriken und Netzwerke, um diesem Treiben einen Riegel vorzuschieben?

Es ist immer noch nicht zu spät.

Quellenverzeichnis

(1) https://www.youtube.com/watch?v=LEoqusKeqxk

(2) https://www.youtube.com/watch?v=Ha-h5bPSxQE

(3) https://www.fes.de/archiv-der-sozialen-demokratie/artikelseite-adsd/fes-portugal

Disclaimer: Berlin 24/ 7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7  widerspiegeln.

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