Der Russlandexperte Alexander Rahr ist skeptisch, dass es einen Verhandlungsfrieden für die Ukraine geben kann. In einem Interview fordert er die deutsche Politik auf, die Rolle als «Friedensstifter» einzunehmen und eine realpolitische Aussenpolitik zu betreiben.
Ein Beitrag von Alexander Rahr
Weder Moskau noch Kiew können den Krieg in der Ukraine jetzt beenden. So sieht es Alexander Rahr, Historiker und Politologe und einer der profundesten Russland-Experten in Deutschland. Seine Einschätzung gibt er in einem Interview mit der Zeitschrift Superillu ab, veröffentlicht in deren Druckausgabe vom 29. Februar. Darin erklärt Rahr ausserdem, Russlands Präsident Wladimir Putin habe «keines seiner Ziele erreicht, weder den Sturz der ukrainischen Regierung noch eine Demilitarisierung der Ukraine». Entgegen der Analyse von Militärexperten wie Ex-Bundeswehr-General Harald Kujat sieht er ein Patt im Krieg.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hoffe weiter auf «Wunderwaffen» aus dem Westen. Putin setze auf eine Kapitulation der ukrainischen Truppen. Zugleich wolle der Westen auf Seiten Kiews keine Friedensregelung mit Gebietsverlusten der Ukraine: «Denn das käme auch einer Niederlage des Westens und der NATO gleich.»
Rahr sieht es als wahrscheinlich an, «dass der Krieg ohne Rücksicht auf die vielen Opfer weitergeht, bis eine der Kriegsparteien ausblutet». Berlin habe eine «starke Führungsrolle» bei der militärischen und finanziellen Unterstützung Kiews, so der Experte.
«Deutschland übernimmt jetzt aber auch die Rolle des Anführers des Westens im künftigen Kampf gegen Russland in Europa, wohlwissend, dass die USA diese Führungsrolle nicht mehr spielen wollen.»
Rahr rät dagegen, die deutsche Aussenpolitik solle realistisch bleiben «und nicht ausschliesslich von Aufrüstung getrieben sein». Deutschland müsse stattdessen die Rolle des «Friedensstifters» übernehmen, damit es wieder Abrüstung und Verhandlungen für eine Koexistenz mit Russland geben könne. Zudem werde es zum «wichtigsten Mentor beim Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft und der Garant für die künftige Stabilität in der Ukraine».
«Konkret bedeutet das, Gespräche, wenn auch zunächst über Geheimkanäle, mit beiden Kriegsparteien zu führen.»
Er rechne nicht mit einem von Politik und Medien behaupteten möglichen russischen Angriff auf die EU beziehungsweise die Nato – «denn das würde unweigerlich einen Atomkrieg auslösen». Putins Ziel sei es nicht, die untergegangene Sowjetunion wiederherzustellen, «sondern die Begründung einer slawischen Union, bestehend aus den historischen Kerngebieten Russland-Belarus-Ostukraine». Das Ende der antirussischen Sanktionen und die Wiederaufnahme von Erdgaslieferungen aus Russland könnten aus Rahrs Sicht zum Inhalt der Waffenstillstandsverhandlungen gehören. Doch bis dahin sei es «noch ein weiter Weg». Mit Blick auf das Verhältnis zu den USA erklärt er: «Europa wird nichts anderes übrig bleiben, als zu lernen, ohne die ‹ewige Schutzmacht USA› in einer multipolaren Welt zu bestehen.»
Das werde eine Welt voller Gegensätze, einschliesslich eines russisch-chinesischen Militärbündnisses. Angesichts der Entwicklung fordert Rahr von Berlin «eine realpolitische Diplomatie», die den wahren Möglichkeiten Europas entspreche.
Zum Autor Alexander Rahr: Der 65-jährige Russland-Experte entstammt einer baltendeutschen Familie, die nach der Oktoberrevolution 1917 Russland verliess. Er hat als Wissenschaftler und Analytiker gearbeitet, unter anderem in den 1980er Jahren für den US-PropagandasenderRadio Liberty. Später arbeitete er 18 Jahre lang bei der transatlantisch orientierten Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), wo er laut Superillu aber als «Putin-nah» angefeindet wurde. Er ist dem russischen Präsidenten mehrfach persönlich begegnet und war von 2015 bis 2022 für den russischen Konzern Gazprom als Berater tätig. Rahr hat mehrere Bücher über Russland und Putin veröffentlicht. 2018 erschien von ihm «2054 – Putin decodiert». Darin beschreibt er auf Grundlage seines Insiderwissens im Rahmen eines fiktiven Politthrillers die Entwicklung im europäisch-russischen Verhältnis und gibt eine interessante Vorausschau auf mögliche künftige Ereignisse. 2021 veröffentlichte er das Buch «Anmaßung — Wie Deutschland sein Ansehen bei den Russen verspielt».