Was verstehen eigentlich die Apologeten, vor allem des politisch-medialen Komplexes hier in Deutschland, unter den massenhaft gebrauchten Sprachfloskeln „unsere Demokratie“ und „Diktatur“ eigentlich ganz konkret? In einer losen Folge von Artikeln möchte der Autor an konkreten Beispielen dieser und anderen Fragen auf den Grund gehen, um zu ergründen wie der Charakter dieser Gesellschaft tatsächlich beschaffen ist, die sich so gern selbst als das „beste Deutschland aller Zeiten“, als „unsere Demokratie“ oder als „unsere Werteordnung“ bezeichnet. Teil 3 beschäftigt sich mit dem „Rechtsstaat“ und dem „Unrechtssystem.
Eine polemische Essayreihe von Wilhelm Domke-Schulz
Völlig Realitätsverbiegend wirft die westlich sozialisierte Geschichtsschreibung gern die sogenannte „NS-Diktatur“ mit der ebenfalls sogenannten „DDR-Diktatur“ in einen gemeinsamen Topf und spricht egalisierend von den „zwei deutschen Diktaturen“, die sich nicht wiederholen sollten. Sie suggerieren damit ein Gleichheitszeichen zwischen „Großdeutschem Reich“ und „Deutscher Demokratischer Republik“, das an geschichtsverzerrender Perfidie kaum zu überbieten ist.
Aber was soll denn das Gemeinsame an diesen beiden „Diktaturen“ gewesen sein? Dass es sich in beiden Fällen um diktatorische Staatsformen gehandelt hat und sie deshalb gleich zu behandeln sind? Ist das alles? Oder soll damit nicht vielmehr, propagandistisch äußerst wirkungsvoll, davon abgelenkt werden, dass die DDR im Grunde vor allem ein äußerst ernst zu nehmendes, konkurrierendes, nationalstaatlich-sozialistisches Gegenmodell zum expansiven BRD-Großkapitalismus darstellte, dem es mit allen Mitteln den Garaus zu machen galt?
Aus diesem Blickwinkel betrachtet sind die von westlich sozialisierten Staatsanwälten und Richtern geführten, äußerst umstrittenen Schauprozesse gegen ehemalige DDR-Staatsfunktionäre und der nach dem Anschluss an die BRD parallel dazu verlaufende, rigide Eliten- und Eigentumsrücktausch im Osten Deutschlands und die bis heute andauernde vor allem (west-)deutsche Hysterie gegen das angebliche „DDR-Unrechtssystem“ eine logische Konsequenz aus der feindlichen Übernahme der DDR durch die BRD. Mit einer angeblichen „Aufarbeitung des DDR-Unrechts“ hat das alles nicht das Geringste zu tun.
Deshalb noch einmal die Frage: Wo, an welcher Stelle existieren denn vergleichbare Parallelen zwischen sogenannter „NS-“ und „DDR-Diktatur“? Mit welcher Legitimation, mit welchem Recht zogen vor allem in das „Beitrittsgebiet“ eingeflogene, westdeutsche Elitenvertreter die erbarmungslosen Säuberungswellen gegen sämtliche DDR-Eliten durch? Welcher Verbrechen hatten sich DDR-Bürger schuldig gemacht, dass sie hundertmal härter bestraft und verfolgt werden mussten, als die postfaschistischen Gründungseliten der BRD?
Machen wir die Probe aufs Exempel:
Hat die DDR einen Weltkrieg ausgelöst? Nein!
Hat sie Vernichtungskriege gegen andere Länder geführt? Nein!
Hat sie überhaupt irgendein Land überfallen, besetzt und ausgeplündert? Nein!
Hat die DDR irgendeinen Völkermord begangen? Nein!
Hat sie Tausende „unwerte Leben“ vergast und verbrannt? Nein!
Hat sie unzählige KZ unterhalten und darin Millionen Menschen ermordet? Nein!
Hat sie Geiselerschießungen von unschuldigen Zivilisten verübt? Nein?
Hat sie mörderische Menschenexperimente in Gefängnissen durchgeführt? Nein!
Diese Frageliste ließe sich noch endlos fortsetzen. Immer wieder kommt man auf das gleiche Ergebnis: Der unmenschliche, massenmörderische Terror des deutschen Faschismus lässt sich wohl kaum mit der sogenannten „DDR-Diktatur“ vergleichen, geschweige denn gleichsetzen. Auch wenn das der (west-)deutsche, politisch-mediale Komplex seit Jahrzehnten unermüdlich versucht.
Wenn also diese beiden Diktaturen nicht miteinander vergleichbar sind, was macht dann den großen Unterschied zwischen angeblicher „BRD-Demokratie“ und sogenannter „DDR-Diktatur“ aus, um den es offenbar wirklich geht? Dazu muss man schon etwas genauer hinschauen.
Die DDR war wirtschaftlich betrachtet kein elitäres, großkapitalistisches System, wie sein westliches Gegenüber, sondern ökonomisch egalitär strukturiert und ausschließlich dem Gemeinnutzen verpflichtet. In der Verfassung der DDR (Fassung vom 09. April 1968) hieß es dazu im Kapitel 1, Artikel 2, Absatz 3: „Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ist für immer beseitigt. Was des Volkes Hände schaffen, ist des Volkes Eigen. Das sozialistische Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung« wird verwirklicht.“
Ergänzend dazu in Kapitel 2, Absatz 1: „Die Volkswirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik beruht auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln … Durch die Entmachtung der Monopole und Großgrundbesitzer, durch die Abschaffung der kapitalistischen Profitwirtschaft wurde die Quelle der Kriegspolitik und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschafft.“
Folgerichtig ergibt sich daraus in Kapitel 1, Artikel 6, Absatz 1 und 3 für die Außenpolitik der DDR folgende Maxime: „Die Deutsche Demokratische Republik hat getreu den Interessen des deutschen Volkes und der internationalen Verpflichtung aller Deutschen auf ihrem Gebiet den deutschen Militarismus und Nazismus ausgerottet und betreibt eine dem Frieden und dem Sozialismus, der Völkerverständigung und der Sicherheit dienende Außenpolitik.“ „Die Deutsche Demokratische Republik unterstützt die Bestrebungen der Völker nach Freiheit und Unabhängigkeit und pflegt auf der Grundlage der Gleichberechtigung und gegenseitiger Achtung die Zusammenarbeit mit allen Staaten.“
Allgemeiner formuliert bestand das Wesen des DDR-Gesellschaftsmodells darin, durch vollständige Ausschaltung des zuvor alles beherrschenden Konkurrenzprinzips und der anschließenden, weitgehenden Vergesellschaftung der Wirtschaft, die vorher privatwirtschaftliche, profitorientierte Wirtschaftsproduktion und Finanzwirtschaft auf eine dem Gemeinnutz verpflichtete planwirtschaftliche Industrieproduktion umzustellen. Unterstützt wurde dies durch einen parallel dazu durchgeführten rigorosen Elitentausch zulasten der Altfaschisten und zugunsten der vorher brutal verfolgten, vor allem kommunistischen Widerstandsbewegung. Damit waren in der DDR alle wirtschaftlichen und ideologischen Grundlagen des deutschen Faschismus beseitigt.
Das heißt relevante mittelständische und große Industrieunternehmen gehörten jetzt nicht mehr privaten Eigentümern, die sich mit den erwirtschafteten Gewinnen die eigenen Taschen füllten, sondern dem Staat, der die Produktion von Gütern, die sich möglichst teuer verkaufen ließen auf Produkte umstellte, die massenhaft gebraucht wurden.
Aus den erwirtschafteten Gewinnen wurden keine Privatyachten, Luxusvillen oder ein glamouröser Lebensstil der Eigentümer finanziert, sondern die wichtigsten Aufgaben des Staates gegenüber seinen Bürgern bestritten, wie zum Beispiel das kostenlose Gesundheits- und Bildungswesen für alle, Kultur und Kunst, die Landesverteidigung oder der äußerst umfangreiche, soziale Wohnungsbau.
Die Unternehmen in der DDR mussten sich also nicht darum sorgen, permanent auf dem „Markt“ zu bestehen oder womöglich von irgendeiner Konkurrenz geschluckt zu werden, sondern hatten unbeschränkten Bestandsschutz, solange sie mit ihrer Produktion von gesamtgesellschaftlichem Nutzen waren. Aus dem völligen Fehlen des Konkurrenzprinzips ergab sich auch die Friedfertigkeit der Außenpolitik, die nicht auf Unterwerfung und Ausplünderung von anderen souveränen Staaten ausgerichtet war, um lediglich einer kleinen Elite profitable Vorteile zu verschaffen, sondern auf Handelsbeziehungen zum gegenseitigen Nutzen basierte.
Die Dachorganisation für diesen staatlichen Austausch auf Augenhöhe war der 1949 gegründete „RGW“, der internationale „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“, dem bis 1991, neben der DDR, unter anderem auch die UdSSR, die Volksrepubliken Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Tschechoslowakei, Mongolei, Kuba und Vietnam angehörten. Der RGW schloss außerdem Kooperationsabkommen mit Finnland, Irak, Mexiko, Angola, Nicaragua und Mosambik. Zu Teilnehmern mit Beobachterstatus gehörten u.a. die Volksrepubliken China und Nordkorea, kurzzeitig auch die Demokratische Republik Afghanistan, Äthiopien, die Demokratische Volksrepublik Jemen und Laos.
Für die „RGW“-Staaten gehörte damit der Krieg als letztes und profitabelstes Mittel zur Ausschaltung und Übernahme von Konkurrenz der Vergangenheit an, weil er mit ihren Grundprinzipien wirtschaftlichen Handelns und gesellschaftlicher Vorsorge auf Augenhöhe und zu gegenseitigem Nutzen völlig unvereinbar war.
Selbstverständlich waren nach Kriegsende nicht sämtliche Bürger der sogenannten „Ostzone“, ausnahmslos von dem äußerst gravierenden Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik hin zum neuen, sozialistischen Gesellschaftsmodell begeistert. Schließlich war diese gesamtgesellschaftliche Kehrtwende, weg vom elitären Großkapitalismus, hin zu einem egalitären Gemeinwesen u.a. mit Enteignungen, konsequentem Elitentausch oder totalem Einnahme- und Machtverlust von vorher sehr viel besser Gestellten verbunden. Mit einem solch radikalen Kurswechsel macht man sich nun einmal nicht nur Freunde. Da geht es ganz schnell um knallharten Machtkampf und Besitzstandswahrung.
Deshalb hatte man sich in der „Sowjetischen Besatzungszone“ und später in der DDR zur Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“ entschieden. Es ging also in der DDR nicht um die Durchsetzung von Interessen der Macht-, Eigentums- und Meinungsmachteliten gegen die große Masse des „Restes der Bevölkerung“, wie in der BRD, sondern um die Durchsetzung der ökonomischen und sozialen Interessen der großen Masse der Bevölkerung gegen alle seine Widersacher.
Zugegeben. Für Millionäre und Milliardäre, für Mehrheitseigner von Großkonzernen oder hochdotierte Geschäftsführer von international agierenden Unternehmen mag es wie ein Horrorszenario klingen, ihre unermesslichen Reichtümer mit anderen, „sozial abgehängten“ teilen oder gar entschädigungslos für staatliche Vorsorgeaufgaben abgeben zu müssen. Da kann man den, in den BRD-Eliten über all die Jahre angestauten, unbändigen Hass auf diese böse, „kommunistische DDR-Diktatur“ durchaus nachvollziehen. Allein die Vorstellung ein solches, sozial egalitäres System könnte Schule machen und zunehmend Anhänger unter der eigenen (West-)Bevölkerung finden, muss doch so manchen Großaktionär immer wieder den Schlaf geraubt haben.
Um so einem „undemokratischen“, „kommunistischen“ Schicksal zu entgehen, kann man dann schon mal die ganze geballte Kraft an privatwirtschaftlichen Massenmedien oder großzügigen Parteispenden einsetzen, um in der eigenen und der DDR-Bevölkerung das „Schreckgespenst der totalitären Kommunistendiktatur“ an die Wand zu malen. Ganz uneigennützig versteht sich. Alles nur wegen der „westlichen Werte“. Wegen Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Wegen der armen in „kommunistischer Unfreiheit“ lebenden, „Brüder und Schwestern im Osten.“ Denn unendliche Freiheit, was die unfreiwillige Befreiung von Arbeit, Wohnung und kostenloser Gesundheitsversorgung durchaus mit einschließen kann, ist angeblich nun mal viel wichtiger, als soziale Gerechtigkeit. Sagen die, die an den überfüllten Fleischtrögen sitzen.
Anders formuliert wurde in der DDR die individuelle Freiheit des Einzelnen, seinem Nutzen für das Gemeinwohl untergeordnet. Was allerdings ein nicht zu unterschätzender Reibungspunkt war, der von den mächtigen und einflussreichen Gegnern dieses Gesellschaftsmodells weidlich ausgenutzt und instrumentalisiert wurde und schließlich maßgeblich zu dem, von außen angeheizten Zusammenbruch dieses Systems beitrug.
Unterm Strich kann man also feststellen, dass es sich bei der über Jahrzehnte andauernden Auseinandersetzung zwischen BRD und DDR nicht um einen Kampf „Demokratie“ gegen „Diktatur“ handelt, sondern in Wahrheit um den unerbittlichen Wettstreit zwischen einem elitären, großkapitalistischen System auf der einen und einem egalitären, gemeinwohlorientierten Wirtschaftsmodell auf der anderen Seite, der im Grunde bis heute nicht endgültig entschieden ist, eher ganz im Gegenteil.
Die „Diktatur des Proletariats“, als staatliche Erscheinungsform des DDR-Sozialismus mag wohl verdientermaßen der Vergangenheit angehören, aber die dramatisch steigende, radikalkapitalistische Bereicherung einiger Weniger, gegenüber einer unaufhörlich zunehmenden sozialen Verelendung immer größerer Schichten der Bevölkerung, birgt einen gesamtgesellschaftlichen Sprengstoff in sich, der sich früher oder später entladen muss und auch wird.
Über dreißig Jahre nach dem rigorosen „Schleifen“ der DDR durch ihre westliche Konkurrenz, mit allen daraus folgenden, völlig einseitigen „Kollateralschäden“ für die gesamte ostdeutsche Gesellschaft, die bis heute äußerst gravierend und latent ungelöst sind, steuern wir immer mehr auf einen Scheitelpunkt, auf eine grundsätzliche Zäsur in der Gesellschaft zu, in deren Ergebnis sich zeigen wird, ob die radikalkapitalistische, sogenannte „westliche Demokratie“, die sich seitdem als „Sieger der Geschichte“ wähnt, nicht eigentlich längst am Ende und mittlerweile auch nicht mehr reformierbar ist und deshalb zwangsläufig einem humanistischerem Gesellschaftsmodell weichen muss und wird.
Um diese Frage beantworten zu können, muss man zunächst einen Blick zurück werfen und sich mit dem Ausgangspunkt, der Quelle allen Übels beschäftigen, nämlich mit der Frage, wie es bereits unmittelbar nach Kriegsende zu der anschließend immer weiter forcierten Spaltung zwischen „Ost“ und „West“ kommen konnte. Weshalb entfernten sich dann beide deutsche Staaten immer weiter voneinander? Und warum eskalierte diese gesellschaftlich zerstörerische Entwicklung sogar noch nach dem Beitritt der DDR zur BRD?
Heute, über dreißig Jahre später, ist die mittlerweile rein westdeutsch dominierte Gesellschaft zerrissen, wie nie zuvor. Auch zwischen „oben“ und „unten“. Und droht damit immer mehr auseinander zu fallen. Womit sich schließlich die Frage stellt, wo dringend notwendige, aber auch realistische Lösungsansätze liegen könnten. Auch dazu mehr in den nächsten Folgen dieser Essayreihe.