Ist Deutschland auf direktem Weg in eine Diktatur?

Nie war der Ernstfall für Deutschland so fassbar wie dieser Tage. Wer jetzt eine Eskalation in Kauf nimmt, sollte sich Deutschland im Krieg vorstellen: Das Land wird eine Diktatur werden.

Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Quelle: Shutterstock

Die Titelseite der taz vom 19. November 2024 habe ich mir aufgehoben – ja, ich habe mir die Ausgabe extra gekauft, nachdem ich online sah, was darauf zu sehen ist: Eine amerikanische ATACMS-Rakete, die eben gezündet wurde. Dazu die Worte: »Last-Minute-Flüge nach Russland«. Diese Seite musste ich einfach haben. Ich werde sie mir einrahmen und wegsperren: Es kommt die Zeit, da ich oder meine Nachkommen froh sein können, eine solche Rarität vorweisen und sich gegebenenfalls auszahlen lassen zu können.

Denn diese Titelseite ist ein historisches Zeitdokument. Eines von vielen, die es in der augenblicklichen Situation gibt – aber selten ist eines so plakativ und vereint so viele Fehlentwicklungen auf so wenig Papier. Es ist ein bisschen so, wie die russischen Schriftzeichen im unteren Gewölbe des Bundestages. Gibt es die eigentlich noch? Oder hat man sie überpinseln lassen? Wenn mich oder meine Nachkommen einst jemand fragen sollte, wie es nur hat so weit kommen können, hole ich nur diese Titelseite einer Zeitung hervor, die damals an sich in Anspruch hatte, ein linkes Blatt sein zu wollen, das dem Guten verpflichtet sei – und voila: Beweis. Bitteres Lachen wird man dann ernten – und Kopfschütteln. So wie damals, als Großmutter von zerstörten Städten berichtete, durch die Menschen liefen, die jeden Zweifeler am Endsieg notierten, meldeten und aufknüpften. Unglaubliches wurde uns von den Großeltern berichtet – und die besagte Titelseite ist auch sowas Unglaubliches. Nur eben für die, die nach uns kommen werden.

Ein ziemlicher ernster Ernstfall

In Schweden und Finnland wurden bereits Broschüren verteilt, in denen man die Bevölkerungen auf einen Waffengang vorbereitete. Stündlich wird dergleichen auch für die Bundesrepublik erwartet – Pistorius hat doch sicher schon eine Werbeagentur beauftragt, was Flottes in Camouflage fertigzustellen: Aber bitte auf entwaldungsfreiem Papier. Denn das Klima geht uns alle an: Auch in Luftschutzbunkern, die es nicht gibt – und was waren wir mal froh und stolz, dass es sie nicht mehr geben musste. Denn bei Krieg – da galt die Ansage: Nie wieder! Man hatte dazugelernt, die Stunde Null wurde ja auch immer wieder wiederholt, Guido Knopp hatte einen großen Auftrag – er ließ im ZDF das, was unsere Großeltern uns erzählten, mit historischem Bildmaterial unterfüttern. Berlin 1945, Köln 1945, München 1945: Wer diese Bilder gesehen hat, vergisst sie nicht nur nie wieder – der wünscht sich, dass er in einer solchen Stadt niemals flanieren gehen muss.

Nun werden auch noch deutsche Unternehmen von der Bundeswehr eingewiesen, wie sie im Kriegsfall bestehen können. Und es macht ja auch wenig Unterschied, ob Volkswagen einen Passat vom Band laufen lässt oder Teile für einen Leoparden oder Taurus oder ein anderes Modell mit Tiernamen – oder ob irgendein Feuerwerkhersteller Böller fertigt oder Zündmechanik herstellt. Die Jungs werden indes vom Herrn Minister angeschrieben, sie müssen sich schriftlich erklären, warum sie nicht dienen wollen – Frauen und Diverse sind fein raus: Die Emanzipation hat es weit gebracht! Dabei können alle Geschlechter alles so gut wie Männer. Doch das ist nur für Moment so. Im Ernstfall kann sich keiner mehr drücken – das Selbstbestimmungsrecht wird dann nicht darüber hinwegtäuschen können, dass die Wehr über die jungen Leute bestimmt und nicht sie selbst. Neue Pronomen wählen? Ich bin jetzt They, Herr Feldwebel! Da lacht der Spieß beim Crashkurs am Maschinengewehr – und der Verantwortliche für den Frontabschnitt schickt jeden an die vorderste Linie, der mit solchen Egotouren die Wehrkraft zersetzt.

Natürlich werden die jungen Leute im Falle eines Ernstfalles noch tanzen gehen dürfen. Irgendwie muss man sie bei Laune halten. Aber je drastischer die Heimatfront leidet, desto eher wird der Moment kommen, da es heißt: Abendliche Ausgangssperren – kein Tanzlokal mehr – Thaimassage und Nagelsalon und Shisha-Bar bleiben zu: Denn die Arbeitskraft wird anderweitig benötigt. Entspannte Schultern und Kitschdiamanten auf den lackierten Fingernägeln sind nicht nur nutzlos, wenn man den Abzug betätigen soll – nein, im Laufe der Zeit wird man sie als Zersetzung der Abwehrfähigkeit deklarieren. Denn wer so rumläuft, während an den Geschützstellungen die deutsche Jugend verblutet oder sich in Stücke zerreißen lässt – wörtlich, nicht metaphorisch gemeint! –, zeigt damit nur eines: Völlige Egozentrik! Eine Frage der Zeit, bis man von Schädlingen sprechen wird – von Schädlingen, denen man Einhalt gebieten muss.

Berufsverbote und neue Berufe

So wird man die Spaltung der Vorkriegsjahre überwinden, mit der Deutschland in den Krieg geriet. Anfangs wird mancher selbstverliebte Wokewessi noch rufen, dass ja vielleicht nur wieder Dresden im Bombardement untergehen werden – was nicht so schlimm sei, wegen der AfD, hihihi. Aber spätestens, wenn auch im Frankfurter Nordend oder in München-Schwabing Straßenzüge an 1945 erinnern, wird diese Art von Überheblichkeit verschwunden sein. Dort wird man auch schweigen, wenn Menschen ausgeschafft werden, die hier wegen ihrer fremden Nationalität nicht dienen können: Es wird nicht die AfD sein, die abschiebt – sondern das Kriegskabinett. Grund: Fehlende Ressourcen. Viele werden dann ohnehin schon von selbst gegangen sein. Denen, die vorher schon mahnten, die den Kurs der NATO als Fehler betrachteten, wird man indes schnell Herr. Man dreht de Lauten von ihnen, denen, die einen Kanal haben, eiligst den Saft ab – Berufsverbote folgen prompt. Journalisten werden an die offiziellen Regierungs- und Bundeswehrkanäle gebunden sein. Alles was darüber hinausgeht, gefährdet die Sicherheit einer Republik, die so oder so untergehen wird – nach und nach wird dann klar, dass die Vereinigten Staaten sich heraushalten werden: Aber niemand sagt es laut, weil die Behörden drastische Mittel anwenden, um Kritik zu unterbinden.

Drastische Mittel, ja wirklich drastische Mittel. Im Kriegsrecht wird auch die Todesstrafe verhandelbar werden – ja, man wird sagen, dass man die Gefängnisse nicht überfüllen darf, denn zu viele Gefängniswärter könne man nicht abstellen: Der Großteil muss an die Front – ebenso wie mancher Vergewaltiger, mancher Mörder: Diese Leute sind in Gewalt geübt, daher Amnestie. Jetzt können sie ihre Strafe anderweitig verbüßen und Wiedergutmachung erlangen. Tot oder lebendig. Die wirklich schlimmen Verbrecher in dieser Zeit werden die Schwarzmaler, Schwarzseher und jene Menschen sein, die den Kurs der eigenen Führung kritisch betrachten. Denen kann man nicht den Frontdienst an der Waffe als Strafe aufbrummen. Die erschießen am Ende noch ihren Vorgesetzten. Oder werfen im Gefecht das Gewehr hinter sich und ergeben sich einfach. Dann doch lieber gleich eine großzügige Auslegung der Exekutive – und exekutieren! Vernünftig sei das, wird man erklären. Und alternativlos ohnehin. Und wo man doch jetzt schon so viele Berufsverbote an kritische Stimmen erteilt hat, braucht es doch auch neue Berufe, die man ergreifen kann: Exekutionsfachmann (m/w/d) – bewerben Sie sich, zum Henker!

Und nicht wenige werden sich finden, die dann zur Behörde eilen, weil der Nachbar vor einigen Wochen so seltsam kritische Anmerkungen machte. Der war doch vorher schon komisch: Der lehnte vor einigen Jahren bereits die Impfung während der Pandemie ab. Solche Leute: An die Wand! Je schneller, desto besser! Dies wird der Ton des Ernstfalles werden. Der Krieg bietet eine große Chance, um gleich mal richtig sauberzumachen. Übertriebene Aussichten? Wo war das denn je anders? Wenn alle Hemmschwellen fallen, wenn der Tod zum täglichen Gast wird, wenn man sich selbst als Ziviler bewaffnen muss, damit man die fallende Rechtsordnung in der Kriegsrepublik selbst ausgleicht und früher oder später erstmals gewalttätig wird, dann fallen alle Bedenken. Dann wird man so sanftmütig wie das Fallbeil der Guillotine.

Der Ernstfall außen wie innen

Erich Vad beschreibt in seinem aktuellen Buch ein solches Szenario: Er übersiedelt die Bundesregierung an die US-Ostküste. Denn in Deutschland könne sie nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen. Wenn es schnell genug geht mit dem Ernstfall, wird das Kriegskabinett Olaf Scholz zusammentreten – denn eine Bundestagswahl während eines Ernstfalles: Das könne man nicht verantworten. Natürlich werden Friedrich Merz als Vize- und Robert Habeck als Trizekanzler mit Verantwortung übernehmen und das Land zum Sieg führen. Dieser Sieg ist natürlich nur ein Hirngespinst, aber man muss es aufrechterhalten: Fast alle werden wissen, dass dieses Deutschland nicht mehr auf die Beine kommen wird – zumal die Amerikaner plötzlich keine Zeit haben werden, sie sind im Pazifikraum auf Polizeistreife. Aber keiner wird es laut artikulieren, weil jeder Zweifel vor den Lauf von Gewehrmündungen führen könnte.

Man sollte sich den Ernstfall nicht so steril vorstellen, dass dort Häuser nach Beschuss einstürzen, Feuerwehr und Krankenwagen rücken an, holen die Toten heraus und kümmern sich um die Verletzten – und dann geht es leicht traumatisiert weiter wie gehabt. Der Ernstfall meint den Angriff von außen – ist aber im Inneren eine radikale Umgestaltung von Gesellschaft und Mensch. Er atomisiert alles, was wir über Gesellschaft und Gemeinwesen zu wissen glaubten, Gewissheiten werden zerstreut, Menschenrechte ignoriert, Bürgerrechte auf Eis gelegt, Menschlichkeit per Dekret unterbunden: Der Ernstfall ist ein außenpolitischer Angriff mit innenpolitischer Agenda. Die Menschen sollen für ein Land kämpfen, dass es so nicht mehr gibt – und auch danach nicht wieder geben wird. Man kann nicht einfach so tun, als sei nichts gewesen. Das Bild mit dem Trauerflor, das den 19-jährigen Sohnemann in glücklicheren Tag zeigt, er lächelnd und mit einem Blick der Zukunft zugewandt: Das stellt man doch nicht einfach weg – es bleibt da wo es ist und zeigt die Lücke an, die der Krieg riss. Für immer riss.

Natürlich wird man im Ernstfall ausrufen, dass es nun um die Freiheit geht. Um unsere Freiheit – dafür kämpfen wir. Dafür schicken wir unsere Kinder in die Schlacht. Als Helden werden sie in Trauergottesdiensten beweint – sie schissen sich aber in die Uniform, als es sie traf und sie nichts mehr für sich behalten konnten. Wollen Eltern das so genau wissen? Ziehen sie den Mythos des Heldentodes nur vor, weil der wirkliche Tod an der Front laut schreit und weint, von zerrissenen Leibern und Gestank geprägt ist? Weil das Sterben dort Krepieren heißt? Wer nun glaubt, dass diese Zeilen aufbauschen, der soll das von mir aus glauben. Aber die Wirklichkeit wird noch viel dramatischer. Und da hat die taz nichts anderes im Sinn, als locker mal eine lustige Headline zu fabrizieren. Wenn ich das drohende Szenario überlebe, zeige ich es überall her, werte Frauen Chefredakteurinnen. Vielleicht werden Sie sich ja dann zu verantworten haben. Wenn Sie noch leben …

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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