Die Welt scheint sich in einem Kampf der Systeme zu befinden. Auf der einen Seite stehen Oligarchien und Autokratien, auf der anderen die demokratischen Länder. Letztere nehmen für sich in Anspruch, direkten oder indirekten Einfluss auf die Länder zu nehmen, die den „falschen Werten“ folgen. Was, wenn es umgekehrt wäre?
Ein Beitrag von Tom J. Wellbrock
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Müssen die Deutschen dafür kämpfen, dass in Russland ihre Definition von „Werten“ geteilt wird? Müssen sie eingreifen, wenn in anderen Ländern Frauenrechte kaum eine Rolle spielen? Reicht es für einen Regime Change aus, wenn in China keine Wahlen im westlichen Sinne stattfinden? Und darf und muss man Victor Orbán daran hindern, wenn er seine Grenzen schließt und die LGBTQ-Bewegung angreift?
Glaubt man dem politischen Mainstream, lauten die Antworten auf diese Fragen „Ja“. Die „regelbasierte Ordnung“ hat sich, ohne jemals niedergeschrieben und durch die Völker abgestimmt worden zu sein, zu einer Art Gesetz entwickelt, das in Stein gemeißelt zu sein scheint. Jene „Ordnung“ zu hinterfragen oder zu kritisieren, ist inoffiziell verboten und wird notfalls auch mit offiziellen Maßnahmen durchgesetzt.
Dabei kommt ein wichtiger Aspekt nicht nur zu kurz, sondern wird vollständig ignoriert: Warum muss die vom Westen entwickelte „Ordnung“ weltweit gelten? Und wie viel Kontinuität und Verlässlichkeit stecken in dieser „Ordnung“? Faktisch ist sie nichts weiter als eine Konstruktion, die hin- und hergebogen wird, wie es gerade passt. In Deutschland wurde entschieden, dass es nicht mehr nur Mann und Frau, sondern unzählige weitere Geschlechter gibt? Ok, dann müssen auch andere Länder, und zwar möglichst alle, diese beschlossene Tatsache anerkennen und sich entsprechend tolerant und wertschätzend gegenüber der Gemeinschaft verhalten, die sich entschieden hat, von der verwirrenden Anzahl verschiedener Geschlechter Gebrauch zu machen.
Diese Herangehensweise ist in Deutschland nicht nur weit verbreitet, sie wird nicht einmal mehr hinterfragt. Im Gegenteil, kaum wird im westlichen Bündnis kommuniziert, dass in einem nicht-westlichen Land die „regelbasierte Ordnung“ anders ausgelegt oder gar nicht befolgt wird, ist das oft Grund genug, das betroffene Land öffentlich unter Druck zu setzen und mit Hilfe von NGOs, Medien und Geheimdiensten massiv in die inneren Angelegenheiten einzugreifen.
Wie herablassend, aggressiv und militaristisch die westliche Haltung ist, soll durch ein kleines fiktives Ereignis verdeutlicht werden.
Indien greift an!
In einer nicht fernen, fiktiven Zukunft hat sich die Weltordnung verändert. Die Gemeinschaft der BRICS-Staaten hat sich aus einem im Wesentlichen wirtschaftlichen Zusammenschluss zu einem darüberhinausgehenden Militärbündnis entwickelt. Geplant war das nicht, doch die Umgestaltung der Welt in eine multipolare Ordnung erwies sich als schwierig. Die westlichen Staaten, allen voran die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, konnten sich mit dem Gedanken an die Multipolarität nicht abfinden und wehrten sich aggressiv dagegen.
In der hier gedachten, fiktiven Zukunft hat sich Indien zu einem wichtigen Player auf der Welt entwickelt. Geschützt durch einen nuklearen Schirm von Russland und China gehört das Land zu den mächtigsten Akteuren auf der Welt, die Wirtschaftsleistung hat Indien zur drittgrößten Volkswirtschaft der Erde aufschwingen lassen.
Verbunden mit dieser wirtschaftlichen Stärke und dem Schutz vor Angriffen von außen hat sich Indien zudem zu einer Stimme entwickelt, die die Regeln der Welt dominiert. Mit Skepsis blicken die politischen Führer Indiens, aber auch Russlands, Chinas und anderer BRICS-Staaten auf die Entwicklung im Westen, insbesondere in Deutschland. Es gibt zahlreiche Kritikpunkte, etwa die Rolle der LGBTQ-Bewegung, die in den Augen indischer Führer jahrhundertelang aufgebaute Traditionen bedroht. In unzähligen Treffen und Gesprächen mit anderen Staatsoberhäuptern wurde letztlich aber entschieden, Deutschland gewähren zu lassen, solange die eigenen Traditionen nicht bedroht sind.
Im Sommer einer nicht fernen, fiktiven Zukunft bahnt sich jedoch ein Konflikt an, der nicht zu lösen ist. Da in Deutschland Kühe auf dem Speisezettel stehen, sieht Indien sich einer globalen Gefahr ausgesetzt. Die Tatsache, dass in Indien die Kuh heilig ist, wird in Politik, Medien und Gesellschaft heftig diskutiert, doch am Ende muss eine Entscheidung her, die auch der indischen Bevölkerung gerecht wird. Nachdem durch Einflussnahme durch Geheimdienste, NGOs und den Einsatz von eingeschleusten Agenten in Deutschland keinerlei Vernunft einkehrt und der Umgang mit Kühen nicht korrigiert wird, beschließt die indische Führung, durch einen militärischen Einsatz die vor Jahren beschlossene regelbasierte Ordnung wieder herzustellen.
In Deutschland formiert sich Gegenwehr, doch diese fällt gering aus, auch, weil das Land wirtschaftlich und militärisch kaum etwas entgegenzusetzen hat. Am Ende werden in Deutschland keine Kühe mehr gegessen. Weltweit wird Kritik an Indien geäußert, aber für die internationale Gemeinschaft ist Deutschland zu unwichtig geworden, um ernsthafte Hilfe durch andere Staaten erwarten zu können.
So könnte sie aussehen, die nicht allzu ferne, fiktive Zukunft.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Oskar Lafontaine, Max Otte, Andrej Hunko, Patrick Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«. Gründungsmitglied und Mitherausgeber der neulandrebellen.
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