Die sogenannten Sozialdemokraten erleben gerade den Anfang ihres Endes und damit den Beginn ihrer Bedeutungslosigkeit. Aber die GroKo, diese deutsche Sehnsuchtskoalition, lebt – noch.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Ob wohl im Hause Martins Schulz‘ die Sektkorken geknallt haben? Sicher, seine Sozialdemokraten haben die Wahl verloren – er aber auch: Und zwar den Nimbus des schlechtesten SPD-Kandidaten aller Zeiten. Diesen Titel hatte er sich 2017 gesichert. Kaum trat er die Kanzlerkandidatur an, spielten die Prognosen verrückt, stiegen in ungeahnte Höhen: Die SPD konnte vielleicht doch noch eine Wahl gewinnen und über 30 Prozent landen – damals war man noch so naiv anzunehmen, dass mit dem Überschreiten des dritten Zehners erst die Siegchancen bei einer Bundestagswahl beginnen. Am Ende fuhr die SPD mit Schulz als Spitzenmann nur 20,5 Prozent ein. So schlecht schnitt die gute alte Sozialdemokratie in der Bundesrepublik noch nie ab.
Nun ist das allerdings Geschichte; Martin Schulz ist rehabilitiert. Olaf Scholz hat ihn abgelöst. Trotz Amtsbonus erlangte seine Partei gerade mal 16,4 Prozent – wobei es Amtsinhaber gibt, die nicht die Befähigung haben, während ihrer Amtszeit einen Bonus einzufahren. Erstmals sind die Sozialdemokraten nur dritte Kraft im Lande. Dennoch könnte man die deftige Niederlage des 23. Februar 2025 auch noch als Erfolg bewerten: Denn der parteiliche Niedergang wird durch die Beteiligung an einer Regierungskoalition abgefedert. Noch ist die SPD wichtig – oder sagen wir: Noch ist sie machtpolitisch von Belang.
Die schwächste GroKo aller Zeiten
Die Große Koalition ist zurück. 2005 fand sie ihre erst zweite Auflage seit Republikgründung. Was gab es damals doch für Bedenken! Wenn die beiden Volksparteien zusammenarbeiteten, würde das die Demokratie beschädigen, vernahm man häufig. Denn Bürger bräuchten Wahloptionen, Alternativen eben – aber die neue Kanzlerin baute auf die GroKo, wie die Große Koalition schnell abgekürzt wurde. Sie erlangte damit nicht nur die nötige Mehrheit, sondern stellte die Opposition auf Sparflamme. Ihre 16-jährige Regierungszeit baute auf drei Viertel GroKo – einem Regierungsmodell, das zu einem Sehnsuchtsort der Deutschen emporgehoben wurde, nachdem man sie bis 2005 schon vergessen hatte. Denn es gab schon mal eine Auflage, lang war es her …
1966 nämlich, als sich Union und SPD erstmals zusammenfanden, um das Land zu regieren, galt das Modell noch als kurzfristige Ausnahme, als Notbehelf. Knapp vierzig Jahre später glaubte man das auch. Dass sich das verstetigen würde, konnte man nicht ahnen. Seither kennt das Land einige GroKo-Legislaturperioden. Und während der Ampelzeit dachte mancher fast schmachtend an diese Vernunftehe. Die war sie vielleicht mal – ganz am Anfang, als sich die beiden Parteien noch zierten. Später gingen sie sehr viel unbefangener miteinander um. Angela Merkel wurde zur Alternativlosen: Nicht nur, weil sie immer wieder aufzeigte, dass die Bürger sich mit dem in Denkfabriken entworfenen politischen Strategien zu einzelnen Sachthemen zu arrangieren hatten – eben auch, weil sich keine Alternative bot, die der Kanzlerin Kurs hätte ablösen können. Die SPD war kein Kontrahent mehr, sondern Partner – das hat man gesehen, als die Ampel regierte: Obgleich sie die Sozialdemokraten stärkste Kraft in diesem Dreierbund waren, hatte man den Eindruck, als fänden sie gar nicht statt. Man hat offenbar unterschätzt, wie prägend die Zeit am Rockzipfel eines stärkeren Partners sein kann. Und so glaubten viele im Lande, dass die Ampelkoalition ein Zusammenschluss unter grüner Führung sei. Die SPD hatte längst verlernt, wie man innerhalb der Regierung Akzente setzt und ihnen nicht nur nachläuft.
Diese GroKo steht jetzt also als einzige Option im Machtgeschacher zur Verfügung – sie hat aber massiv abgebaut. Die erste Ausgabe aus den Sechzigerjahren vereinigte insgesamt 86,9 Prozent aller abgegebenen Stimmen auf sich. Im Jahr 2005 waren es noch immerhin 69,4 Prozent. 2013 waren es dann 67,2 Prozent – und 2017 kam man nur noch auf 53,4 Prozent. Die Auflage, die uns nun ereilen wird, kommt zusammen auf nur 44,9 Prozent. Zwei historisch gelesene und heute noch selbsterklärte Volksparteien kommen zusammen nicht mal auf die absolute Mehrheit. Schlimmer sieht es nur noch aus, wenn man die realen Zahlen anwendet, die sich nur an den angegebenen Stimmen ausrichten: 1966 konnte die GroKo auf 73,6 Prozent bauen, 2005 auf 53,1 Prozent, 2013 dann nur noch auf 47,5 Prozent und 2017 auf 40,3 Prozent. Aktuell ergab sich die GroKo mit etwa 37,7 Prozent, gemessen an allen Wahlberechtigten – und das bei einer deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung.
Im Grab der SPD
Damit lässt sich interpretieren, dass die GroKo – so unpassend diese Bezeichnung jetzt auch ist –, die das 21. Jahrhundert der Bundesrepublik politisch bestimmte, wie sonst keine Konstellation, zu einem Auslaufmodell wird. Die Deutschen haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten vorgemacht, dass dieser Verbund der beiden größten deutschen Parteien Stabilität und Sicherheit bringt. Aber dergleichen ist nicht eingetreten, ganz im Gegenteil: Die fehlende Opposition und die daraus resultierende Ohnmacht, die einen großen Teil der Bevölkerung ereilte, mündete in neuen Parteien – deren erfolgreichste die AfD ist. Es gibt viele Theorien, weswegen diese Partei erstarken konnte. Etliche sind populistischer Unsinn und ideologischer Quark. Manche sehen nur Teile der Entstehungsgeschichte – etwa, wenn man der Merkel-Union eine Sozialdemokratisierung unterstellt, die es so nie gab. Das Entstehen dieser Alternative für Deutschland (AfD) ist ein Produkt der Alternativlosigkeit, die durch die GroKo-Manie entstand. Die jüngste Geschichte dieses Landes wäre anders verlaufen, wenn die SPD nicht den Irrweg der ewigen Anbiederung an die Union beschritten hätte.
Diese Erkenntnis stellt die andere Seite der Brandmauer dar: Auf der stehen die Bauherren einer Partei, die nie hätte so wirkmächtig werden müssen, wenn man sich dazu entschlossen hätte, dem Land nicht die Bürde einer politischen Gleichschaltung aufzudrücken. Die SPD hatte mindestens 2017 die Möglichkeit aus dem Merkelismus auszubrechen – es gab eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün. Innerhalb der Partei rumorte es in den Zehnerjahren ohnehin, weil man sich dauernd mit der Union zusammenfand und die Basis das Gefühl hatte, die Partei verlöre sich immer mehr. Daraufhin band man die Basis bei Umfragen mit in Koalitionsentscheidungen ein: Was nichts änderte – auch die Basis wollte die GroKo lieber als gar nicht zu regieren. Wie sollte da die Neuausrichtung stattfinden können? Immer wieder tappte man in die GroKo-Falle. Sie war auch zu bequem – und ergiebig noch dazu. Sicherte sie doch Ämter und Posten. Und sie ließ in der Illusion baden, noch immer ein wichtiger Faktor im politischen Betrieb des Landes zu sein. Der Niedergang schlich sich indes an. Und zeigt sich dieser Tage in voller Drastik.
Natürlich gebiert das Diskussionen über einen Neubeginn innerhalb der SPD. Doch inhaltlich scheint sich nichts zu bewegen. Personaldebatten wurden eröffnet. Esken steht zur Debatte, ein anderer Kopf soll es richten. Was der zu bieten hat, ob er für inhaltliche Neugestaltung steht, die Partei wieder sozialdemokratisiert: Darüber spricht niemand in der Partei. Lieber zieht man sich an der AfD hoch, erklärt ihr aus dem Grab heraus den Kampf. Wobei man nicht spürt, bereits im Grab zu stehen. Die anstehende GroKo sorgt für die Verblendung, die schon in den Jahren davor dafür zuständig war, dass die Sozialdemokraten ihren eigenen Niedergang nicht mehr erkennen konnten. Die SPD wird – ähnlich wie in Frankreich die Sozialisten – im politischen Niemandsland landen. Sie hat niemals Selbstheilungskräfte entwickelt und die Episode mit Scholz‘ Kanzlerschaft hat der Partei vermittelt: Wir können es noch. Aber die SPD konnte es nicht mehr, die anderen konnten es 2021 nur noch schlechter.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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