Reiseberichte, St. Petersburg: erster Teil

In diesem Bericht präsentiere ich Ihnen eine bunte Mischung von Eindrücken von meiner ersten Reise nach Russland seit November letzten Jahres. Einige dieser Kommentare beziehen sich auf reale Veränderungen, die ich in meiner Umgebung wahrgenommen habe. Andere sind lediglich erste Beobachtungen von Aspekten des Lebens, die mir bei meinen letzten Besuchen nicht aufgefallen sind.

Reisebericht von Gilbert Doctorow (Übersetzung: Andreas Mylaeus)

Shutterstock/ Baturina Yuliya

Da der Schwerpunkt unserer Community auf internationalen Beziehungen liegt, möchte ich diesen Bericht mit der Beobachtung beginnen, dass die zuvor allgegenwärtigen Plakate zur Rekrutierung für die Armee verschwunden sind!

In den öffentlichen Verkehrsmitteln, also in der U-Bahn, den Straßenbahnen, Bussen und an Bushaltestellen, wo sie noch vor fünf Monaten zuhauf zu sehen waren, gibt es kein einziges Plakat mehr.

Wie lässt sich das erklären?

Man könnte sich vorstellen, dass die lokalen und föderalen Behörden davon ausgehen, dass der Krieg entweder durch eine Verhandlungslösung oder durch die Kapitulation der Ukraine auf dem Schlachtfeld bald beendet sein wird, und dass sie beschlossen haben, dass es sinnlos ist, weiterhin bis zu 35.000 Euro an neue Rekruten zu zahlen, wenn es nach Abschluss ihrer Grundausbildung keinen Krieg mehr zu führen gibt.

Wie üblich bin ich überrascht, dass keiner unserer Journalisten, weder in den Mainstream- noch in den alternativen Medien, diese bemerkenswerte Einstellung der Rekrutierung bemerkt hat, obwohl erst vor wenigen Monaten die Financial Times und andere Medien verspätet darüber berichteten, wie gut neue Rekruten für ihre Unterschrift unter den Vertrag für die „Sonderoperation“ bezahlt wurden.

Eine weitere eindeutig neue Entwicklung ist der überall herrschende Arbeitskräftemangel. Öffentliche Verkehrsbetriebe, Einzelhändler, Dienstleistungsunternehmen – alle bieten Schulungen und Arbeitsplätze für jedermann an. In Supermärkten verschiedener Einzelhandelsketten sehe ich, dass nur eine von mehreren Kassen besetzt ist und auf dem elektronischen Gerät für Kreditkarten die Telefonnummer steht, unter der man sich über Beschäftigungsmöglichkeiten erkundigen kann.

Zweifellos ist der Arbeitskräftemangel ein Faktor für die Inflationsrate von 10 Prozent. Das Geld in den Taschen der Menschen steigt einfach schneller als das Angebot an Waren und Dienstleistungen.

Bislang ist dieser wachsende Wohlstand nicht wirklich sichtbar, wenn man wie ich am Freitag mit dem Taxi die 290 km von Pskow nach Petersburg gefahren ist. Die Straße ist im Vergleich zu vor einigen Jahren deutlich verbessert worden. Der Asphalt ist in gutem Zustand. Teilweise wurde diese alte Nord-Süd-Verbindung, die als Kiewer Autobahn bezeichnet wird, von zwei auf vier Fahrspuren ausgebaut. Aber die baufälligen kleinen Holzhäuser am Straßenrand sind nach wie vor heruntergekommen, bis man 50 km vor Petersburg kommt, wo die neuen Landhäuser der städtischen Wohlhabenden zum ersten Mal in Sicht kommen. Es scheint auch, dass viele der ärmeren Häuser weiter draußen leer stehen. Diese traurige Realität steht im Kontrast zu den ordentlichen und komfortablen Häusern in den kleinen estnischen Städten im Süden des Landes, die sich von Tartu bis zur russischen Grenze erstrecken und die ich auf meinem Weg hierher durchquert habe.

Was den Verkehr angeht, muss ich ein paar Worte zu den bedeutenden Investitionen sagen, die die Russische Staatsbahn in den Fahrzeugpark und andere Infrastrukturen des Nahverkehrs getätigt hat.

Vor mehr als zehn Jahren hätten die Nahverkehrszüge, die sogenannten „Elektritschki“, als Kulisse für die Eröffnungsszenen von Dostojewskis Roman „Der Idiot“ dienen können, in denen der Held, Fürst Myschkin, in einem Zug der dritten Klasse reist – auf harten Holzbänken sitzend und ohne Heizung im Winter. In einer ersten Modernisierungswelle hier in Petersburg vor sechs oder acht Jahren wurden die Holzbänke in den Waggons durch einzelne Plastik- und Metallsitze ersetzt. Jetzt, wie ich gestern auf unserer Fahrt vom Stadtzentrum Petersburgs in unseren Vorort Puschkin/Zarskoje Selo festgestellt habe, sind die Sitze besser gepolstert und recht bequem. Sie sind nicht so elegant wie unsere Nahverkehrszüge in Belgien, aber sie sind völlig frei von Graffiti, während fast alle lokalen und viele internationale Züge in Belgien von Vandalen mit hässlichen Sprühfarben verunstaltet sind.

Aber kommen wir zum Härtetest für die Modernisierung des Managements: den öffentlichen Toiletten. Ich war gestern verblüfft, als ich die Herrentoilette im Komplex des Moskauer Bahnhofs neben dem Intercity-Fahrkartenschalter besuchte und feststellte, dass die Anlage in puncto Sauberkeit, moderner Toilettenausstattung, Vorhandensein von Flüssigseife in den Spendern und funktionierenden Händetrocknern so gut war wie in einem 4-Sterne-Hotel, wenn das Personal einen von der Straße hereinlassen würde, um der Natur zu folgen. Und – die Toiletten im Bahnhof waren kostenlos. Man musste nicht in den Taschen nach Kleingeld suchen oder versuchen, unter der Stange hindurchzukriechen, um sich ohne zu bezahlen hineinzuschleichen. Ich sage „Bravo“ zur РЖД [für die deutschen Leser: Российские железные дороги (Russische Eisenbahnen)].

Was die Intercity-Züge angeht, so ist die Nachfrage nach Hochgeschwindigkeitszügen zwischen Moskau und St. Petersburg besonders in dieser Urlaubszeit sehr hoch. Die Russen haben um den 1. Mai (europäischer „Tag der Arbeit“) und um den 9. Mai (Tag des Sieges in Europa) lange Wochenenden, und viele nutzen diese Zeit, um eine Brücke zu schlagen, Urlaub zu machen und dem Alltag zu entfliehen.

Eine Reise ist besonders sinnvoll, wenn man bedenkt, dass die Vorbereitungen für die große Parade am 9. Mai bereits laufen und schon jetzt, zwei Wochen vor dem Ereignis, den Stadtverkehr beeinträchtigen. Gestern saßen wir zweimal 20 bis 30 Minuten lang in unserem Taxi fest, weil der Verkehr wegen Proben für den 9. Mai gesperrt war. Als ich nach einem Termin in der Stadt ein Taxi bestellen wollte, funktionierte die Taxi-App (Yandex) nicht, da die Polizei mit den GPS-Signalen spielte und den Taxifahrern falsche Adressen anzeigte.

Am meisten überraschte mich, dass, während wir alle feststeckten und darauf warteten, dass die Ampel an der Kreuzung vor uns auf Grün sprang, kein einziges Auto hupt. Kein einziges Auto versuchte, auf den Grünstreifen zu fahren und zu wenden. Mit einem Wort: Die Geduld um mich herum war eine Offenbarung. Mein Russland der 1990er Jahre war ein chaotischer Ort, an dem sich niemand an die Verkehrsregeln hielt. Die Helden des Tages waren damals die „Dschigits“ (aus der zentralasiatischen Folklore), die systematisch rote Ampeln überfuhren.

Nun scheint das Geschichte zu sein. Aber es ist dennoch erwähnenswert, dass man heute als Fußgänger an Zebrastreifen sicher ist, während man in den 90er Jahren Freiwild für die Draufgänger war, die Fußgänger anfuhren, um sie wie Hühner von der Straße zu jagen.

Da ich bereits meine bevorstehende Reise nach Moskau erwähnt habe, wo ich dieses Wochenende ein paar Tage mit alten Freunden aus der Welt des Journalismus und der Wissenschaft verbringen werde, kann ich noch etwas zu meinen Erfahrungen bei der Buchung meines Hotels auf der Website von Yandex Travel hinzufügen. Nach dem Rückzug von booking.com und anderen westlichen Online-Reisebüros aus dem russischen Markt hat Yandex die Führungsrolle in Russland übernommen. Das Unternehmen ist in diesem Bereich ebenso dominant wie im Taxigeschäft oder im Suchmaschinenbereich.

Als ich die Angebote der vielen, vielen Einzelhotels in der 3- bis 5-Sterne-Kategorie auf Yandex verglichen und mir die Kundenkommentare genauer angesehen habe, wurde mir klar, dass es kaum Preisunterschiede zwischen den Einzelhotels und den Hotels gibt, die zu internationalen Hotelketten wie Mövenpick, Novotel oder Ibis gehören. Aber es gibt offensichtlich einen großen Unterschied in der Managementkompetenz, wenn man die sehr vernichtenden Kommentare der Gäste, die in den No-Name-Hotels übernachtet haben, mit denen der Gäste vergleicht, die in den Hotels internationaler Ketten übernachtet haben. Die Importsubstitution in diesem Bereich hat ihre Grenzen.

Dr. Gilbert Doctorow, Jahrgang 1945, ist politischer Analyst mit Sitz in Brüssel. Gilbert Doctorow ist seit 1965 professioneller Beobachter der Sowjetunion/ Russischen Föderation. Er ist Absolvent des Harvard College (1967) mit magna cum laude, ehemaliger Fulbright-Stipendiat und Inhaber eines Doktortitels mit Auszeichnung in Geschichte von der Columbia University (1975). Nach Abschluss seines Studiums verfolgte Gilbert Doctorow eine Geschäftskarriere mit Schwerpunkt  UdSSR und Osteuropa. 25 Jahre arbeitete er für US-amerikanische und europäische multinationale Unternehmen im Marketing und im General Management mit regionaler Verantwortung. Von 1998 bis 2002 war Doctorow Vorsitzender des Russischen Booker-Literaturpreises in Moskau. Im akademischen Jahr 2010–2011 war er Gastwissenschaftler am Harriman Institute der Columbia University. Seit 2008 veröffentlicht Herr Doctorow regelmäßig analytische Artikel über internationale Angelegenheiten auf verschiedenen Websites, z.B. auf https://gilbertdoctorow.com Er hat Sammlungen von Essays als eigenständige Bücher sowie eine zweibändige Ausgabe seiner Tagebücher und Erinnerungen als Memoirs of Russianist veröffentlicht

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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