In seinen jüngsten Reden anlässlich der Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Sieges am 9. Mai hat Präsident Putin sorgfältig zwischen den herrschenden Eliten in „unfreundlichen Ländern“ und der allgemeinen Bevölkerung unterschieden, unter der es durchaus viele Menschen geben dürfte, die mit der Sache Russlands sympathisieren.
Ein Bericht von Gilbert Doctorow (Übersetzung Andreas Mylaeus)

Estnische Regierung: Nicht nur Kriegstreiber, sondern auch Sadisten
Ich treffe dieselbe Unterscheidung, wenn ich erkläre, warum ich NIEMALS wieder über Estland nach Russland reisen werde.
Wie die Leser meines ersten Teils der Reiseberichte über meine gerade beendeten drei Wochen in Russland wissen, reiste ich mit dem Flugzeug in die estnische Hauptstadt Tallinn und von dort mit dem Bus zu dem, was mir von Bekannten als der stressfreieste Grenzübergang im Süden des Landes beschrieben wurde, gegenüber der Stadt Pskow auf der russischen Seite.
Während Reisende am meist frequentierten Grenzübergang im Norden Estlands, in der Küstenstadt Narva, drei bis fünf Stunden auf der Straße warten müssen, um in das estnische Pass- und Zollkontrollgebäude zu gelangen, gefolgt von einem 500 Meter langen Fußweg über eine Brücke zum russischen Kontrollpunkt, gibt es am südlichen Grenzübergang keine Wartezeiten und man kann bequem mit dem Bus direkt zum russischen Kontrollpunkt weiterfahren.
Ich habe festgestellt, dass dieser Unterschied in der Praxis zutrifft, aber die zugrunde liegende Realität der brutalen, ja sogar sadistischen Behandlung der Reisenden durch die estnischen Grenzbehörden am südlichen Grenzübergang ist identisch mit dem, was im Norden vor sich geht.
Lassen Sie mich erklären, dass die Wartezeiten in Narva künstlich durch ungerechtfertigte Befragungen jedes Reisenden zu seinen Motiven für die Einreise nach Russland, zum Bargeldbestand in seiner Brieftasche, zum Alter seines Laptops und Ähnlichem verursacht werden. Koffer werden geöffnet und sehr gründlich durchsucht. Ihr Bargeld in Euro kann Banknote für Banknote gezählt werden.
Da Estland derzeit Touristenvisa für Reisen nach oder aus Russland nicht anerkennt, sind die einzigen Reisenden faktisch Doppelstaatsangehörige – Russlands und eines EU-Mitgliedstaats. Dementsprechend unterziehen die estnischen Behörden Menschen einer Inquisition, die sie zu nichts zu befragen berechtigt sind. Ihre schleppenden Verfahren sind der Grund für die stundenlangen Wartezeiten der Reisenden auf der Straße, unabhängig vom Wetter und vom Alter oder der körperlichen Verfassung der Menschen in der Menge.
Hinzu kommt die offensichtliche Tatsache, dass die große Mehrheit der Reisenden auf dieser Strecke arme Menschen sind, die sich die exotische Alternative, nach Istanbul oder Dubai zu fliegen, um nach Russland zu gelangen, einfach nicht leisten können. Und diese Lösung ist umso absurder für estnische Passinhaber aus Tallinn oder anderen Teilen des Landes, die einfach nur die Grenze überqueren wollen, um Verwandte auf der anderen Seite zu besuchen, die vielleicht nur 5 km entfernt wohnen. Das hat insbesondere in den Tagen vor Ostern zu langen Wartezeiten geführt. Das führt das gesamte Prinzip der „humanitären“ Reisen zur Familienzusammenführung ad absurdum.
Mein Punkt ist, dass die an Sadismus grenzende Misshandlung systematisch ist und nicht davon abhängt, wer an einem bestimmten Tag Dienst hat. Sie wird eindeutig von der estnischen Zentralregierung angeordnet und stinkt zum Himmel. Das sagt mir, dass die bösartige Russophobie, die wir täglich im Verhalten der ehemaligen estnischen Premierministerin und jetzigen Vizepräsidentin der EU-Kommission für Außenpolitik, Kaja Kallas, sehen, nur das sichtbarste Zeichen einer estnischen Führungselite ist, die täglich alle „europäischen Werte“ mit Füßen tritt, die laut ihrem Vorgänger Josip Borrell die EU zu einem „Garten“ mache, im Gegensatz zum Zirkus außerhalb ihrer Grenzen.
Sie werden bemerken, dass ich von der herrschenden Elite spreche, nicht vom estnischen Volk. Das auffälligste Argument für die menschlichen Instinkte des estnischen Volkes fand sich ebenfalls auf dieser letzten Reise, und zwar gleich bei unserer Ankunft am Flughafen von Tallinn. Meine Frau geht an einer Gehhilfe, und als wir am Schalter von Air Baltic am Brüsseler Flughafen eincheckten, fragte uns die Mitarbeiterin, ob wir bei der Ankunft in Tallinn besondere Hilfe, also einen Rollstuhl, benötigten. Wir sagten, dass dies nicht notwendig sei. Aber sie wussten es besser: Als wir kurz nach Mitternacht in Tallinn aus dem Flugzeug stiegen, waren wir angenehm überrascht, dass dennoch besondere Hilfe organisiert worden war und dass der stämmige Este, der sie leistete, ein großartiger Kerl war und sehr freundlich zu meiner Frau, trotz oder vielleicht gerade wegen ihres eindeutig russischen Nachnamens Zalesova. Er führte uns nicht nur durch die verschiedenen Etagen und sehr langen Gänge zum Gepäckausgabebereich, sondern brachte uns auch auf die Straße und sprang dank seiner Flughafenuniform über die zwanzigminütige Warteschlange hinweg, um uns in ein Taxi zu setzen und uns sofort auf den Weg zu schicken.
Ich möchte die Gemeinschaft daran erinnern, dass von den 1,37 Millionen Einwohnern Estlands etwa 300.000 russischsprachig sind und sich vor allem in der Hauptstadt konzentrieren, wo sie etwa 40 % der Bevölkerung ausmachen. Dass Tallinn eine russischsprachige Stadt ist, wird jedem Besucher sofort auffallen. Alle Hotel- und Restaurantmitarbeiter sprechen fließend Russisch. Die Kunden in den großen Einkaufszentren sprechen fast alle Russisch. Im Fernsehen können sie einen russischsprachigen staatlichen Sender empfangen. Die rein estnischsprachige Bevölkerung konzentriert sich wie seit Jahrhunderten auf das Hinterland.
Wenn estnische Wissenschaftler von einer sowjetischen oder russischen Besetzung ihres Landes sprechen, meinen sie den Zeitraum von 1939 bis 1991, der mit dem Molotow-Ribbentrop-Pakt begann, der das 20-jährige Bestehen des ersten estnischen Staates in der Geschichte der Nation beendete. In den 250 Jahren zuvor war Estland nicht infolge einer militärischen Eroberung, sondern aufgrund einer dynastischen Heirat, wie sie im Ancien Régime in Europa weit verbreitet war, Teil des Russischen Reiches gewesen. Selbst die russophobe Regierung, die ihre Bürger, die nach Russland reisen, demütigt, unternimmt nichts gegen die Denkmäler aus der Zeit der zaristischen Herrschaft, denn dann gäbe es den Touristen nichts mehr zu zeigen. Das heutige Tallinn war im 18. Jahrhundert Russlands wichtigster Hafen und im 19. Jahrhundert ein beliebter Badeort der russischen Aristokratie.
Um fair zu bleiben, schließe ich diesen Essay mit einer Anmerkung an Sergei Lawrow, die er hoffentlich an den Chef weiterleiten wird. Die Behandlung von Reisenden, die an Grenzübergängen wie dem im Süden Estlands gegenüber von Pskow nach Russland einreisen, ist ebenfalls beschämend, wenn auch nicht sadistisch. Man muss zwar nicht auf der Straße warten, verliert aber eine Stunde. Die Busse werden fast auseinandergenommen, wahrscheinlich auf der Suche nach versteckten Drogen. Aber die Spürhunde, die ebenfalls eingesetzt werden, können diese Arbeit in wenigen Minuten erledigen. Warum werden mehrere Kontrolleure eingesetzt, um zu überprüfen, ob ihr Kollege den Einreisestempel korrekt in den Reisepass gestempelt hat? Russland sollte sich freuen, diese Besucher willkommen zu heißen und sie schnell weiterreisen zu lassen, anstatt sie langwierigen Befragungen und Kontrollen zu unterziehen. Wenn dieser Unsinn nicht am Flughafen Pulkovo stattfindet, wo Passagiere der Mittelklasse in beide Richtungen, nach Russland hinein und aus Russland heraus, schnell abgefertigt werden, warum dann an den provinziellen Grenzübergängen, an denen hauptsächlich weniger privilegierte Menschen abgefertigt werden?
Dr. Gilbert Doctorow, Jahrgang 1945, ist politischer Analyst mit Sitz in Brüssel. Gilbert Doctorow ist seit 1965 professioneller Beobachter der Sowjetunion/ Russischen Föderation. Er ist Absolvent des Harvard College (1967) mit magna cum laude, ehemaliger Fulbright-Stipendiat und Inhaber eines Doktortitels mit Auszeichnung in Geschichte von der Columbia University (1975). Nach Abschluss seines Studiums verfolgte Gilbert Doctorow eine Geschäftskarriere mit Schwerpunkt UdSSR und Osteuropa. 25 Jahre arbeitete er für US-amerikanische und europäische multinationale Unternehmen im Marketing und im General Management mit regionaler Verantwortung. Von 1998 bis 2002 war Doctorow Vorsitzender des Russischen Booker-Literaturpreises in Moskau. Im akademischen Jahr 2010–2011 war er Gastwissenschaftler am Harriman Institute der Columbia University. Seit 2008 veröffentlicht Herr Doctorow regelmäßig analytische Artikel über internationale Angelegenheiten auf verschiedenen Websites, z.B. auf https://gilbertdoctorow.com Er hat Sammlungen von Essays als eigenständige Bücher sowie eine zweibändige Ausgabe seiner Tagebücher und Erinnerungen als Memoirs of Russianist veröffentlicht
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