Die europäische Postdemokratie ist viel älter, als man gemeinhin vielleicht annehmen möchte

Postdemokratie: So tun als ob es demokratisch wäre – und dabei den Schein wahren, indem man die Rituale demokratischen Umganges aufrechterhält, sie aber nicht mit Leben füllt. Postdemokratie ist die Aufhebung der Streitkultur und die Überführung in ein enges Korsett, in dem die einfachsten demokratischen Prozesse nichts mehr hergeben, nicht mehr funktionieren – ja, auch gar nicht mehr funktionieren sollen.

Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

shutterstock/Jaz_Online

Der US-Politikwissenschaftler Sheldon Wolin nutzte den Begriff der Postdemokratie schon einige Jahre, bevor ihn der britische Soziologe Colin Crouch einem breiteren Publikum bekanntmachte. Wolin soll ihn sich vom französischen Philosophen Jacques Rancière entliehen haben. In Crouchs Buch von 2004, das ganz schlicht Post Democracy hieß, wird das Phänomen geschärft – vereinfacht gesagt: Postdemokratie ist Spektakel, das in Apathie münden soll. Ein Popanz, der sediert – im Grunde ist sie als eine Entpolitisierung der Politik zu begreifen.

Wir Zeitgenossen sollten das kennen – zu lange begleitet uns diese »Staatsform« nun schon. Für die jungen Leute ist sie die einzige Normalität, die sie kennen. Ältere Beobachter spüren die Aushöhlung demokratischer Abläufe – sie merken, dass die Show an die Stelle tritt. Während der kürzlich erfolgten Koalitionsverhandlungen zwischen zwei Parteien, die sich vermeintlich spinnefeind gegenüberstehen, konnte man vom postdemokratischen Naturell dieser Republik wieder Notiz nehmen.

Die erste ihrer Art

Wie neu ist diese Idee, demokratische Bestrebungen durch eine Scheindemokratie auszuhebeln? Ist das eine neuere Entwicklung? Brauchten die Machteliten mehrere Dekaden, bis sie wussten, wie sie die »demokratische Bedrohung« ihrer Angelegenheiten so abbremsen konnten, dass sie sie nicht mehr gefährdeten, ohne gleich offen in die Diktatur abgleiten zu müssen, die ihrem Wesen nach ja auch ziemlich kosten- und zeitintensiv ist?

Neu ist das Konzept mitnichten, die erste Postdemokratie war schnell installiert: Wer sich vielleicht mit der neueren spanischen Geschichte etwas auskennt, mit der Zeit des Restaurationssystems, um es genauer zu sagen, der hat vielleicht den Begriff »Pardo-Pakt« oder »Pacto del Pardo« schon mal gehört. Er ist die Überschrift zu einer parteiübergreifenden Scheindemokratie, die ab 1885 das restaurative Spanien prägte.

Als König Alfonso XII. im genannten Jahr starb, war sein Sohn noch nicht mal geboren. Seine Witwe Maria Christina übernahm bis zu dessen Amtsfähigkeit die Regentschaft. Um die Monarchie in dieser schweren Zeit zu sichern, kamen die Liberalen und die Konservativen, die beiden großen Parteien dieser Epoche, zu einer Vereinbarung. Sie beschlossen, ihren Parteienstreit und jeglichen Wahlkampf einzustellen. Der Pakt, der im königlichen Palast El Pardo geschmiedet wurde, sah vor, die Wahlergebnisse so zu fälschen, dass es bei jeder Wahl einen Regierungswechsel zwischen den beiden »Vertragspartnern« gibt. Die Liste der Regierungspräsidenten dieser Zeit liest sich dann auch monoton einfach: Antonio Cánovas, Práxedes Mateo Sagasta, Antonio Cánovas, Práxedes Mateo Sagasta, Antonio Cánovas …

Diese zwischenparteiliche Vereinbarung, sich gar nicht erst mit verschiedenen politischen Positionen und Ansichten aufzuhalten, sondern sich aus Gründen einer übergeordneten Sache zu einigen, kennen wir heute gewissermaßen auch. Oder anders gesagt: Das Spanien des Pardo-Paktes war vielleicht die erste Postdemokratie, die dieser Kontinent je gesehen hat.

Lang lebe der König!

Natürlich war das Spanien vor diesem Pakt keine Musterdemokratie gewesen, an die wir den Maßstab der Gegenwart legen könnten. Es gab ein Zensuswahlrecht, das nur wenige Wahlberechtigte zuließ – und auch Wahlfälschungen leichter von der Hand gehen ließ. Später etablierte man dann ein Männerwahlrecht und vergrößerte so die Zahl derer, die wählen durften. Dieser »kleine Wählerwille« wurde aber gleichwohl verfälscht. Wobei klar ist, dass man die Manipulation des Wahlergebnisses von damals nicht mit der heutigen Leichtfertigkeit verwechseln darf, mit der man das Votum – insbesondere durch Demoskopie – »austrickst«. Um die Monarchie geht es heute zudem auch nicht mehr. Heute handelt es sich um das gekrönte Haupt einer ökonomischen Lehre, die wir Neoliberalismus nennen und der man zuruft: Lang lebe der König! 

Cánovas‘ Konservative und Sagastas Liberale vereinbarten also, dass dieses bisschen an Demokratie, welches innerhalb jener Ära namens Zweite Restauration zugestanden wurde, auch noch zugunsten einer übergeordneten Sache von außerordentlicher Wichtigkeit geopfert wurde. Und das ohne, dass man den Menschen ihre kleine demokratische Freude vermieste und ihnen das Wahlrecht entzog. Sie durften ja wählen, auch wenn sie keine Wahl hatten. Das Gefühl, endlich in der Demokratie angelangt zu sein: Irgendwie durften die Wähler es für sich bewahren.

Lars Klingbeil ist sicher kein Sagasta und Friedrich Merz keine Cánovas – die Geschichte ist zu komplex, als dass sie auch nur Episoden zuließe, die sich ähnlich sind. Aber diese Idee einer demokratischen Struktur, die erhalten bleiben und die trotzdem nicht als Störenfried vorgeordneter Interessen fungieren soll, die ist unserem zeitgenössischen Konzept von »Demokratie« schon ähnlich. Man kann sich als moderner Mensch immer noch gut vorstellen, wie Cánovas einigen Hofberichterstattern in den Notizblock diktierte, dass der Konstitutionalismus eine Art von monarchiekonformer Demokratie sein muss – so wie damals, die ewige Kanzlerin, die die Monarchie durch den Markt ersetzt hat, um so dem König der Stunde zu huldigen.

Brandmauer: Ein Stück postdemokratische Wirklichkeit

Der Pardo-Pakt hielt mehr oder weniger bis Anfang der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Liberale und Konservative wechselten sich in der Regierung ab und unterdrückten allerlei moderne Entwicklungen innerhalb der spanischen Gesellschaft, konservierten miteinander ein System, das schon lange am Ende war. Dann glitt man in die Diktatur Primo de Riveras ab. Das Spanien des Pardo-Paktes hat stumpf gemacht, die spanische Bevölkerung entpolitisiert und durchaus auch den Boden bereitet für Romantizismen von der einen starken Hand, die das Durcheinander des Staates regeln sollte. Die Apathie hatte so stark um sich gegriffen, dass man »Demokratie« als zahnlos wahrnahm, als ein System, in dem die Belange der Bürger nicht mehr vorkamen.

Ein kurzes Zwischenspiel genannt Zweite Republik führte dann doch in Bürgerkrieg und – abermals in eine Diktatur. Die war dann auch langlebiger.

Der Pakt, der die politische Streitkultur aufhob und eine Anpassung der beiden etablierten Parteien aneinander fast vorschrieb, hat den Widerstand gegen diktatorische Tendenzen nicht nur faktisch aufgehoben, sondern sogar noch begünstigt. Denn was nach dem Pakt von Pardo kam, bestätigt dies. So weit sind wir in unserer postdemokratischen Wirklichkeit auch schon – auch die Brandmauer darf als ein Stück postdemokratischer Kultivierung betrachtet werden. Denn sie simuliert einen demokratischen Prozess, der sich hinter abwechselnden Regierungen mit immer denselben Inhalt verbirgt. Wenn diese Praxis sich auch noch einmauert, ist der Übergang von Postdemokratie ins Diktatorische fließend. Ein Aufheben der Brandmauer würde, um das auch noch klarzumachen, die Postdemokratie nicht ins Demokratische hieven. Die besagte Partei, die man ächtet, ist letztlich auch nur als eine postdemokratische Größe zu verstehen.

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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