Unser Wille geschehe!

Das Taktieren der Westeuropäer wird immer unverständlicher. Es ist offensichtlich, dass die USA das Interesse an dem Krieg verloren haben. Die Westeuropäer wissen, dass sie und die Ukraine alleine Russland nicht besiegen können. Aber wissen sie selbst, worum es ihnen noch geht? 

Ein Beitrag von Rüdiger Rauls

shutterstock/Ivan Marc

Beweglich

Nicht Putin und nicht Trump haben die Westeuropäer ausgetrickst, sondern in erster Linie sie sich selbst. Denn sie wollen die Wirklichkeit nicht anerkennen und glauben immer noch, im Konzert der Großen mitspielen zu können, sie die ehemaligen Kolonialherren. Sie wollen nicht wahrhaben, dass sie trotz eigenem bescheidenen Atomwaffenarsenal und ganz guter, aber zerfranster Rüstungsindustrie nur noch Regionalmächte sind. Sie denken immer noch in Vorstellungen alter Größe und wollen einfach nicht anerkennen, dass die USA, Russland und China das Spiel bestimmen. Die westeuropäischen Nationalstaaten und selbst die Europäische Union dürfen nur mitspielen, wenn man sie lässt. 

Sie schwanken im Konflikt um die anstehende Friedensregelung zwischen Selbstüberschätzung, indem sie glauben, Russland Bedingungen stellen und damit die Führung im Kreml unter Druck setzen zu können. Andererseits wieder rufen sie kleinmütig bei Donald Trump an und versuchen, aus dessen Worten eine Zustimmung oder gar Unterstützung für ihre ausgetüftelten Pläne zu bekommen. 

Die westeuropäischen Schlaumeier haben sich nämlich etwas ausgedacht, womit sie glauben, Putin und Russland das Heft des Handelns wieder aus der Hand schlagen zu können, nachdem der Kreml überraschend Kiew direkte Verhandlungen vorgeschlagen hatte. Sie versuchen, einen größeren Konflikt daraus zu machen, dass Putin nicht ihrer und Selenskyjs Forderung nachkommt, in Istanbul am Verhandlungstisch zu erscheinen. Sie konstruieren daraus, dass der Kreml kein Interesse an einer Friedensregelung habe. 

Denn Moskaus Ansinnen, direkt mit Kiew zu verhandeln, passt den Westeuropäern ganz und gar nicht. Mit dem Vorschlag einer einmonatigen Waffenruhe hatten sie Putins Verhandlungsbereitschaft und Friedenswillen öffentlich als verlogen vorführen wollen, waren sie sich doch sicher, dass der Kreml darauf nicht eingehen werde. Schon bei früherer Gelegenheit hatte Moskau dieses Danaergeschenk abgelehnt. Der Kreml befürchtet, dass den Ukrainern Zeit gegeben werden solle, um sich dem russischen Druck an der Front zu entziehen. In der Zwischenzeit könnten die Westeuropäer die ukrainischen Arsenale wieder auffüllen. Das hatten die Russen auch so der Weltöffentlichkeit mitgeteilt, und diese schien die russische Sichtweise zu verstehen.

Sicherlich dachte man in den westeuropäischen Hauptstädten, Putin mit dieser Forderung nach einer Waffenruhe am Haken zu haben und ihn so vor der Weltöffentlichkeit als Bauernfänger am Nasenring durch die Manege ziehen zu können. Nun aber kommt der listige Kreml mit dem Vorschlag direkter Verhandlungen um die Ecke. Darauf waren die Westeuropäer nun gar nicht vorbereitet. Denn dieser Vorschlag bringt sie jetzt erst recht in Verlegenheit. 

Sicherlich hatte man darauf gesetzt, dass Moskau weiterhin bei seinem bisherigen Standpunkt bleiben würde, keine Verhandlungen mit Selenskyj zu führen, weil dieser durch die ukrainische Verfassung nicht mehr legitimiert sei. Nun aber verhält sich Russland auf einmal ganz anders als erwartet. Es passt sich den veränderten Bedingungen an. Das scheinen westeuropäische Politiker nicht zu kennen. Mit dieser Wendigkeit russischer Politik konnte niemand rechnen, der wie die Westeuropäer in Rechthaberei und Rachsucht verfangen ist. 

Erstarrt

Denn ihr Problem mit diesem russischen Vorschlag besteht darin, dass sie selbst darin nicht vorkommen. Andererseits aber ist es ja eigentlich genau das, was man bisher immer verlangt hatte: Verhandlungen auf Augenhöhe, bei denen die Ukraine nicht übergangen wird. Wie hieß es doch bisher aus den westeuropäischen Hauptstädten: „Keine Verhandlungen über die Ukraine ohne sie!“ Das russische Angebot ist sogar noch mehr, als man erwarten konnte, geht über diese Forderung der Westeuropäer  hinaus.

Hatten diese sich immer für die Fortsetzung des Krieges ausgesprochen, damit die Ukrainer mit Putin aus einer Position der Stärke sollen verhandeln können, so bietet der Kreml nun sogar Gespräche an, obwohl die Ukraine so schwach ist wie nie zuvor. Das wirft westeuropäische Sichtweisen über den Haufen, dass man mit Putin nur aus einer Position der Stärke verhandeln könne. Auch die Behauptung, Putin verstehe nur die Sprache der Gewalt, wird mit dem russischen Angebot als falsch entlarvt. Und nun das: Verhandlungen mit der Ukraine, aber ohne die Westeuropäer. 

So war das nun auch wieder nicht gedacht. Die Forderung, dass nichts über die Köpfe der Ukrainer hinweg entschieden werden darf, heißt in Wirklichkeit: Es darf nichts über die Köpfe der Westeuropäer hinweg entschieden werden. Denn sonst gäbe es keinen Grund, gegen Putins Vorschlag ins Feld zu ziehen. Das kann man aber nicht öffentlich sagen. Also konstruiert man nun einen Konflikt um die Teilnahme Putins an den Istanbuler Gesprächen. Dabei ist es doch vollkommen normal, dass vorab Verhandlungen auf unterer Ebene geführt werden, um am Ende ein Dokument zu haben, das dann von den Repräsentanten der Staaten unterzeichnet wird. Das war in der Diplomatie noch nie anders allein schon aus Gründen der Arbeitserleichterung.

Weil man sich mit dieser Wendung der Ereignisse nicht abfinden kann, drohen die Westeuropäer in vollkommener Selbstüberschätzung Russland mit weiteren Sanktionen. Ansonsten wird Putin schon sehen, was es bedeutet, wenn man den Westeuropäern nicht gehorcht. Anscheinend haben sie bis heute nicht gemerkt, dass all die vorangegangenen sechzehn Sanktionspakete, die man als tödlich für Russland dargestellt hatte, ihr Ziel bisher bei weitem verfehlt haben. Russland reagierte auf diese vollmundigen Drohungen unaufgeregt, dass man mit sich nicht in der Sprache der Ultimaten reden lasse.

In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeine Zeitung liefert der neue deutsche Außenminister Johann Wadephul ein weiteres Dokument für die Realitätsferne deutscher Politik, vergleichbar der seiner Vorgängerin. Als neuer Besen scheint er zu glauben, mit markigen Worten Entschlossenheit unter Beweis stellen zu müssen: „Putin muss sich darauf einrichten, dass Europa Gewicht hat und in diesem Prozess eine Rolle spielt“ (1). Glaubt er, damit Russland Angst einjagen zu können? Das Erschreckende an dieser Aussage jedoch ist, dass er das tatsächlich selbst glaubt und von ihrem Inhalt zutiefst überzeugt ist. 

Weltfremd

Größenwahn und Rachsucht aufseiten der Westeuropäer sind derzeit die größten Hindernisse und Gefahren in diesem Prozess der Friedensfindung. Die US-Amerikaner denken an ihren Vorteil –  wirtschaftlich wie politisch. Für Trump stehen eher die wirtschaftlichen Aussichten im Vordergrund, weshalb er einen Krieg beenden will, der bisher nur den Waffenkonzernen nutzte, die US-amerikanische Verschuldung aber weiter in die Höhe trieb. Biden suchte den politischen Vorteil, indem er Russland vor allem militärisch und wirtschaftlich zu schwächen hoffte. Er dachte im Stile  eines kalten Kriegers der alten Schule, für den Putin und Russland weiterhin der Hauptfeind sind, so wie es auch die Westeuropäer immer noch größtenteils zu sehen scheinen. 

Diese aber hatten bei diesem Krieg nichts zu gewinnen, wenn man ihn sachlich betrachtet hätte, das heißt nicht durch die Brille zweideutiger Werte sondern der eigenen Interessen. Das war auch anfangs die Haltung der deutschen Bundesregierung, bis sie dann im moralgetriebenen Taumel Opfer ihrer eigenen Wertepolitik wurde und unter wachsendem politischem Druck die Zeitenwende ausrief. Und da alle Experten und Meinungsmacher in ihrer Verblendung eher den eigenen Wunschträumen glaubten, als die Wirklichkeit genau zu untersuchen, waren alle fest davon überzeugt, Russland besiegen und Putin zum Teufel jagen zu können.

Nun nach Russlands Angebot an Kiew, direkt miteinander zu verhandeln, befürchten die Westeuropäer im Regen stehen gelassen zu werden. Dabei haben auch sie gewaltige Summen in diesen Krieg gesteckt. Inzwischen aber hat Trump sich bereits die Rohstoffvorkommen der Ukraine unter den Nagel gerissen,  soweit nicht bereits Russland die Hand darauf hat. In dieser Lage klingt Wadephuls Drohung, Russland verschärft ins Gebet zu nehmen, zahnlos, fast lächerlich. Wie soll das geschehen angesichts der wirkungslosen Sanktionen, der weitgehend leer geräumten Arsenale und der Vorbehalte, eigene Truppen in die Ukraine zu schicken?

Dennoch ist Wadephul unverbesserlich überzeugt, weil er aus Trumps Äußerungen Unterstützung für die westeuropäischen Pläne herauslas: „Jetzt gibt es jedenfalls ein neues europäisches Momentum, das ist ein Faktor in der Weltpolitik, der überall wahrgenommen wird. Dazu trägt Deutschland bei, weil wir wieder als Aktivposten gesehen werden“(2). 

Meint er dieses Westeuropa, das von jeder Verhandlung bisher ausgeschlossen war? Jenes Westeuropa, das eigentlich nirgendwo mehr ernst genommen wird außer im eigenen Mustopf? Es wird nicht mehr ernst genommen, weil es gegen seine eigenen Interessen handelt und vor allem weil die Welt außerhalb gar nicht mehr erkennen kann, was eigentlich das Ziel dieser westeuropäischen Politik ist. 

Uneinsichtig

Russland will mit der Ukraine an den Verhandlungen von 2022 anknüpfen und zwar in Istanbul. Diese Stadt ist sehr symbolträchtig. Russland macht damit nicht nur dort weiter, wo man damals aufgehört hat. Es führt gleichzeitig auch den Ukrainer vor Augen, wo sie heute stehen verglichen mit den Bedingungen, die bei ihrem letzten Treffen an diesem Ort geherrscht hatten. Diese wären für die Ukrainer sehr viel günstiger gewesen, hätten sie nicht auf die Westeuropäer und den Rest des politischen Westens gehört. Nun ist ihre Lage wesentlich schlechter.

Und es wird auch deutlich, dass es heute wieder die Westeuropäer sind, die sich zum Schaden der Ukraine in die Vorgänge einzumischen versuchen. Was aber haben die westeuropäischen Superstrategen Merz, Starmer und der superschlaue Macron der Ukraine noch zu bieten, was Aussicht auf Frieden, geschweige denn gar den Sieg über Russland böte? Man habe einen Plan, glänzen die großen Strategen gegenüber Trump: Man will zweigleisig fahren: „eine Waffenruhe für dreißig Tage, um Friedensverhandlungen vorzubereiten“(3). Der zweite Teil besteht darin, Putin durch Drohungen mit Sanktionen zum Einlenken zu zwingen. 

Sie scheinen ernsthaft zu glauben, damit eine ganz neue Strategie gefunden zu haben, und sie merken nicht, dass sie weiter auf dem Weg der bisherigen Erfolglosigkeit taumeln. Anders als Putin fällt ihnen nichts Neues mehr ein, als weiter zu machen wie bisher. Zudem steht all das unter dem Vorbehalt, dass sie Trump auf ihre Seite ziehen können, anstatt dass dieser mit Putin ein Ende des Krieges aushandelt.

Denn trotz aller vollmundigen Kraftmeierei wissen sie, dass sie ohne Amerika Russland hoffnungslos unterlegen sind. Aber wahrhaben wollen sie es nicht und noch weniger sich danach verhalten. Denn immerhin waren sie einst die Herren der Welt, viele scheinen sich weiterhin als Herrenmenschen zu fühlen, zumindest was die moralische Überlegenheit angeht. Deshalb gilt in ihren Augen immer noch: Unser Wille geschehe.

(1)  Frankfurter Allgemeine Zeitung 14.5.2025 Interview mit Außenminister Johann Wadephul: Die USA stehen an unserer Seite

(2) ebenda

(3) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 12.5.2025: Fünf Mann, ein Sofa und ein Handy

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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