Niedersachsens Schülerrat hat die Handschrift abgeschrieben. Er fordert die Schulpolitik auf, die Schreibschrift aus dem Lehrplan zu nehmen. Digitalisierung sei das Stichwort. Die jungen Leute wissen nicht, was sie da fordern …
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Natürlich ist es leidig, sich hinzusetzen, einen Stift in die Hand zu nehmen und einen langen Brief zu schreiben. Ungeübten schmerzt schnell das Handgelenk. Die Schrift wird krakelig, vielleicht patzt auch der Füller – aber wer schreibt heute noch mit Füller? Diese Zeiten kennen keinen Stil – und damit auch keine Füller. Zwar kann man sündhaft teure Füllfederhalter von Montblanc oder Cartier kaufen: Aber eher nicht, um damit Briefe zu schreiben – meist kaufen solche Schreibgeräte Leute, die unbezahlbare Küchen zuhause haben, in denen sie nie kochen. Der Zubereitung von Speisen geht es wie dem Schreiben: Es ist eine veraltete Technik, die man nur noch in Koch-Shows zelebriert. Ansonsten kocht Lieferando für einen – oder Dr. Oetker und Maggi.
Zurück zum Schreiben: Der Landesschülerrat Niedersachsens möchte nun endlich mit der antiquierten Form des Schreibens brechen. Ja, er warnt sogar davor, »die Schreibschrift künstlich als Kulturgut zu verklären«, denn »Kultur bedeutet auch, sich weiterzuentwickeln«. Das sind fürwahr markige Worte. Fortschrittsgläubige Sentenzen allemal. Vielleicht sollte jemand einen Brief an den Schülerrat schicken – maschinell geschrieben, versteht sich –, um auf die Qualitäten zu verweisen, die die Handschrift zu leisten vermag.
Respekt und Romantik
Und damit ist jetzt nicht gemeint, dass so ein Brief, über den mühsam die Hand des Geliebten schwebte, um Tinte anzubringen, so viel mehr Romantik verströmt, als ein per Tastatur getippter, akkurat gesetzter Text. Handschrift ist natürlich immer auch Ausdruck von Nähe und Respektsbezeugung. Das wissen auch große Unternehmen, unter hundertausendfach gedruckten Schreiben packen sie die Handschrift ihres CEO, ihres Unternehmensfürsten – für einen kurzen Augenblick fühlen sich Mitarbeiter oder Kunden dann persönlicher angesprochen. Bis sie merken, dass die Unterschrift natürlich auch nur ein Druck ist. Dann wird aus »Handschrift« eher Peinlichkeit. Und die so Gebauchpinselten fühlen sich eher verhöhnt als umgarnt.
Insofern muss man Handschrift oder Schreibschrift – der Schülerrat will letztere abschaffen, Druckbuchstaben mag er vielleicht eher – durchaus als Kulturgut betrachten. Zwar mögen Worte und Schriftarten, ja auch das Schriftbild sich im Laufe der Jahrhunderte verändert haben. Aber eines verbindet uns handschriftlichen Schreiber mit unseren Ahnen: Über einem Stück Papier gebeugt zu sitzen und sich während des Prozesses der Worte gewahr zu werden, die über die Füllfeder oder eine rollende Kugel – und früher einem Federkiel – hinausfließen. Natürlich sinniert man auch über das, was aus einem herausdrängt, wenn man einen Text tippt – aber anders. Die Handschrift gewährt mehr Zeit, jeder Buchstabe nimmt eine kleine Weile in Anspruch – und das erlaubt wiederum eine Zeitspanne, um weiter zu reflektieren und um Ausdruck zu ringen. Man geht tiefer in das Geschriebene hinein, ist mit der Schrift unmittelbar verbunden, der Stift verwächst gewissermaßen mit der Hand, die ihn führt – jedenfalls wenn man es richtig in der Schule lernt.
Gleichzeitig muss das Geschriebene so sicher sein, dass man es wagt, die Feder auf das Papier zu setzen. Denn anders als bei der Arbeit mit der Tastatur gibt es kein Zurück mehr – und wenn, dann macht es hässliche Stellen und nimmt dem, was man sagen will, die Ästhetik und stellt immer auch einen Makel dar, den man auch als Respektlosigkeit gegenüber dem Empfänger werten könnte. Wer schickt seiner Geliebten schon einen Brief, der unzählige Korrekturen mittels Tintenkiller beinhaltet? So ein Tintenkiller ermordet nicht nur das Flussmittel, das zu Buchstaben, Worten und Sätzen wird, sondern meuchelt auch die Romantik und den Respekt hinterrücks.
Mehr als ein Handwerk
Handschrift ist also durchaus Kulturleistung und Kulturgut. Etwas, das uns mit der alten Welt verbindet, aber niemals veraltet wird. Denn solange es was zu sagen gibt, solange gibt es auch was zu schreiben. Es ist aber nicht einfach nur plumpes Schreiben, sondern ein komplexer Vorgang, der mehrere parallele Abläufe in Anspruch nimmt – Multitasking sagen die Deutschsprachigen heute dazu. Nicht, dass man nicht auch ausgezeichnete Gedanken per Tastatur zu Papier bringen könnte. Oder besser gesagt: »zu« Bildschirm. Aber eine Behauptung will dann schon in den Raum gestellt sein: Seitdem Autoren mit Schreibmaschinen schreiben, hat sich die Literatur verändert – und seitdem sie es mit Computern tun, hat sie sich nochmals gewandelt. Es macht einen Unterschied, ob man bei Kerzenschein an Sätzen herumbastelt oder bei einer Tasse Kaffee büromäßig ans Werk geht. Wenn Autoren bald schon dazu übergehen, ihre Gedanken einer Künstlichen Intelligenz zu diktieren, die dann wiederum das Rohmanuskript glättet und straffzieht, werden wir die nächste Umgestaltung des Literarischen erleben. Es ist einfach nicht dasselbe, ob man Bilder mit Steinen in Felswände haut oder mit Aquarellfarben auf eine Leinwand pinselt – der Prozess verändert immer auch das Produkt.
Dennoch kann man mit Tastaturen sehr gelungene Texte fabrizieren. Da kann man schon mal auf den Gedanken kommen, dass gewisse Leute die Handschrift verherrlichen: So wie es dieser Artikel hier vielleicht auch tut – zugegeben verlogen, denn er liest sich, wie Sie sehen, nicht handschriftlich. Die Handschrift des Autors würden Sie auch gar nicht entziffern können. Dennoch hat der Text seine Handschrift, wie man so sagt. Vielleicht sogar einen Wiedererkennungswert. Man könnte also schon durchaus die Idee haben, dass Handschrift oder Schreibschrift auf die Müllhalde der Geschichte kann, weil es immer noch gute Texte zu lesen gibt, die nie handschriftlich vorverfasst wurden. Gerade in so kulturfeindlichen Zeiten wie diesen, könnte man zu diesem Schluss gelangen. Aber händisches Schreiben ist viel mehr als bloßes Kommunikations- und Stilmittel. Es ist eine Technik, die beim Verstehen der Welt hilft.
Denn es ist nicht nur so, dass derjenige, der schreibt bleibt – es bleibt auch das präsent, was mittels Hand geschrieben wurde. Nämlich präsent im Kopf des Schreibenden. Jedenfalls sehr viel stärker als das, was man in eine Tastatur klimpert. Handschrift ist eine Merktechnik, ein Prozess, der offenbar die Merkfähigkeiten ankurbelt. Was jemand auf ein Stück Papier schreibt, bleibt eher haften, als das, was er auf einem Bildschirm getippt begutachtete. Der feinmotorische Einsatz der Hände scheint direkt das Erinnerungsvermögen zu stärken – das Tippen eines Textes ist ja keine Feinmotorik, sondern recht brachial. Und auch gar nicht gesund – als man noch schwerfällige Schreibmaschinen nutzte, verprellte sich mancher nachhaltig die Kapseln der Handgelenke. Bei modernen Tastaturen ist das Risiko wesentlich niedriger, aber deswegen ist der pure Akt des Tippens noch lange keine filigrane Aufgabe für menschliche Hände. Handschrift ist weitaus mehr Haptik als 150 Anschläge die Minute – und daher regt sie gewisse Gehirnregionen an.
Die Etablierung der Dummheit
In der deutschen Sprache kommen die Hände auch wörtlich zum Einsatz, wenn es um das Verstehen geht: Dann begreift man etwas. Oder man erfasst es. Im Grunde so, wie man nach einer Frikadelle greift oder ein Glas umfasst. Versteht man eine Aussage oder einen Sachverhalt nach einer Erklärung, so vergleicht man diesen Prozess also mit der Mechanik, die unseren Händen zugrunde liegt. Dann hat man begriffen, hat erfasst: Die Abläufe im Gehirn werden sprachlich gewissermaßen mechanisiert – woher kommen diese Redensarten denn? Haben die Altvorderen etwas gewusst, was uns heute gar nicht mehr auffällt? Dass die Hände uns die Welt auch mental besser verstehen lassen etwa? Ergotherapeuten nutzen jedenfalls durchaus Finger- und Handübungen, die das Sprachzentrum anregen sollen, wenn sie mit ihren Patienten arbeiten.
Das Broca-Areal, das Sprachzentrum im menschlichen Gehirn, liegt direkt an der Stelle, wo im Gehirn die Hand- und Bewegungskoordination gesteuert wird. Evolutionsbiologen erklären diese Nähe damit, dass Gesten vor der Sprache das Kommunikationsmittel der Wahl waren – Sprache und Handbewegungen sind also vermutlich in einem gemeinsamen Prozess entstanden. Vom Broca-Areal hatten die Menschen früher keine Ahnung, aber dennoch hatten sie offenbar ein gutes Bauchgefühl dafür, dass Sprache und Hände eine Einheit bilden – Bauchgefühl wäre auch so eine Formulierung, die darlegt, wie stark der Körper in der Entscheidungsfindung eingebunden ist. Hier wäre es der Darm, der durchaus einen eigenen Kopf hat und Logiken befolgt, die Internisten übrigens bis heute noch nicht zufriedenstellend erklären können. Ohne ein tiefergehendes Wissen von Anatomie oder Evolution war also schon früh klar, dass Hände einen wichtigen Beitrag zum Verstehen der Welt leisten – und damit auch zum Denken. Wer seine Hände einsetzt, der aktiviert also auch Gehirnregionen, die intellektuelle Aufgaben übernehmen.
Das händische Schreiben aufzugeben ist also mehr als Kulturverachtung – es ist die Preisgabe biologischer Prozesse. Und ganz drastisch gesagt: Auch die Verachtung der Menschwerdung. Die Forderung des Schülerrates stammt sicher nicht aus dem Silicon Valley und aus den Köpfen irgendwelcher transhumanistischer Spindoktores. Aber sie entspricht einem Zeitgeist, der durchaus immer häufiger die Überwindung des Menschen ins Visier nimmt. Digitalisiert zu leben: Das ist eine Scheinwelt – die Digitalisierung macht uns nicht klüger, sondern wird uns zu Sklaven von Technologien herabwürdigen, die uns entmündigen. Eine Werbung sieht man jetzt häufig bei YouTube: Ein junger Mann kocht, dann ruft er eine App auf, sagt ihr, er habe die Soße versalzen – er wisse nun nicht, was er tun soll und brauche jetzt Hilfe. Die App gibt ihm daraufhin Ratschläge. Ist das Intelligenz? Wir verdummen in einer Geschwindigkeit, die Angst machen sollte. Wenn wir nichts mehr händisch schreiben werden in Zukunft – wir Menschen, ist damit gemeint –, dann werden wir uns noch weniger merken können und mehr von solchen Applikationen brauchen. Der Schülerrat fordert im Grunde nicht die Abschaffung der Handschrift, sondern die Etablierung der Dummheit.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
Mehr Beiträge von Roberto De Lapuente →
Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.