Mehr Beleidigung wagen

Das Wort »Lüge« ist für die Bundestagspräsidentin Klöckner schon zu polarisierend – wenn das die Debattenkultur retten soll, ist Krieg auch Frieden und Rheuma Beweglichkeit.

Ein Kommentar, verdammt nochmal! Von Roberto J. De Lapuente

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner
Tobias Koch, Deutscher BundestagCC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Julia Klöckner wollte für alle sichtbar eine neue Kultur im Bundestag aufblühen lassen. Schon nach kurzer Zeit gilt sie als harte Hündin, erlaubt keine ideologischen Zwischenrufe, erbittet sich Rücksichtnahme auf die Kleiderordnung und entblättert das Hohe Haus von der Buntheit der letzten Jahre – mit Hinweis auf das Neutralitätsgebot. Das gefällt freilich nicht jedem – muss es aber auch nicht. Denn der Bundestag hat nicht gefallsüchtig zu sein. Das ist nicht die Aufgabe, die das Grundgesetz für ihn vorgesehen hat.

Zurück zum alten Bundestag?

Man könnte dieses Engagement Klöckners als den Versuch begreifen wollen, die Unordnung der letzten Jahre, insbesondere der Ampeljahre, im Parlament wieder so arrangieren zu wollen, dass sie dem Ansehen des Hohen Hauses gerechter werden. Der Bundestag hat– in der Tat, da hat Merz mal recht! – kein Zirkus zu und keine Event-Location für Pappschild-Hochhalter zu sein. Und er ist schon gar keine Bekenntnisbude, die die Bürger – lachen Sie nicht: immerhin Souverän! – zu belehren hat. Klöckner versucht sich also in der Renaissance eines alten Wertigkeitsgefühls für das Parlament – einer Empfindung, die ganz offensichtlich verlorengegangen war in den letzten Jahren. Dass sie nun aber auch den manchmal rüderen Umgang regulieren will, entspricht nicht den traditionellen Gepflogenheiten im Bundestag. Hier ist Klöckner genau das, was ihre Kritiker selbst sind: Überempfindlich und weinerlich – und das an falscher Stelle.

Vorausgegangen war ein Disput mit Alice Weidel. Die Vorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD) bezichtigte den Fraktionsvorsitzenden der Union, den ehemaligen Maskenminister Jens Spahn, während einer Bundestagsrede mehrmals per Zwischenruf der Lüge. Für die AfD war dies ein Skandal, da die Partei sich von der Bundestagspräsidentin einseitig zurückgerufen fühlte – dieser Vorwurf gegen die Klöckner ist nun wirklich nicht nachvollziehbar, denn auch die Linken und die Grünen, die den Bundestag immer wieder für diverse Clownerien missbrauchen, werden von der ehemaligen Weinkönigin in die Schranken gewiesen. Parteiisch mag Julia Klöckner selbstverständlich dennoch sein, da sie ganz offenbar besonders sensibel reagiert, wenn ihre eigenen Parteikollegen sprechen.

Ist es nun angemessen, dass Klöckner die Debattenkultur im Bundestag zähmen und von Zwischenrufen reinigen möchte? Stellt das jene Würde und Ordnung wieder her, die sie – mit einer gewissen Nachvollziehbarkeit – rehabilitieren wollte? Während das Reichstagsgebäude unter ihrer Leitung nicht mehr mit bunter Flagge ausstaffiert, sondern als Bauwerk präsentabel sein soll, dass dem Auftrag der politischen Willensbildung angemessen abbildet, steigert sich die Bundestagspräsidentin bei der Einhegung der Debatte im Hohen Haus selbst allerdings in eine zartbesaitete Empfindsamkeit hinein, die nicht der Tradition des Bundestages entspricht.

Neurosen auf allen Seiten

Dieser Ort war einst von scharfen Disputen geprägt – zugegeben in Bonn mehr als in Berlin. Die Berliner Republik war im parlamentarischen Ringen stets weichgewaschener, als es die vormalige Bonner Ausgabe war. Aber wenn man sich heute den Streit ansieht, der noch vor 20 Jahren stattfand, ist das zu heutigen Debatten schon gar kein Vergleich mehr – und schon damals war das im Vergleich zu den Auftritten Franz-Josef Strauß‘ und Herbert Wehners im Parlament, ein starker Abbau der Streitkultur im Parlament. Diese beiden Kontrahenten schenkten sich bekanntlich nichts, zuweilen ging es (nicht nur zwischen diesen beiden) recht derb zu – Beleidigungen kamen regelmäßig unter. Die Debatte wurde deswegen nicht dauerhaft unterbrochen, es gehörte zum Handwerk der politischen Diskussion, dass man auch austeilt und seinen politischen Kontrahenten scharf anging. Der zeitgenössische politische Betrieb ist davon nicht nur Meilen, er ist Galaxien entfernt.

Und selbst eine konservative Person wie Klöckner, die irgendwie wie die Ikone der Richtigstellung aller Fehlentwicklungen im Bundestag gelesen werden kann, als Restauratorin – (und die diese Rolle nicht nur zugeteilt bekommt, sondern aktiv darauf hinwirkt, als genau diese Bewahrerin eines Hohen Hauses mit Würde betrachtet zu werden) –, das direkte und schonungslose Wort zu bändigen, weil Debatte angeblich frei von Polemik, Spott und persönlichen Angriffen stattfinden sollte, erstaunt dann schon. Die Wokeness hat ganz offensichtlich tiefer eingewirkt, als es diejenigen zugeben wollen, die mit den woken Auswüchsen schlussmachen wollen.

An der Personalie Klöckner lässt sich erkennen, dass die Restauratoren, die die woken Übergriffigkeiten einhegen wollen, unter derselben Neurose leiden, nämlich Streit als etwas einzuordnen, was so gut wie möglich »zivilisiert« gehört. Aber warum eigentlich, verdammt nochmal? Einerseits die Schwachköpfe kritisieren, die damit nicht fertig werden, wenn sie von Leuten aus dem Volk als Schwachköpfe tituliert werden – andererseits selbst schon ins Höschen machen, wenn einer der ihren als Lügner bezeichnet wird: Das ist grotesk.

In Berlin wurde der Streit zum Ärgernis

In der Angelegenheit sind uns die Amerikaner sicher voraus. Beleidigung ist dort nicht so leicht justiziabel. Jemanden mit son of a bitch zu belegen, mag vielleicht nicht allzu fein sein – aber welcher Richter sollte über so einem Quatsch ein Urteil sprechen wollen? Es wäre gut, wenn im Bundestag wieder gekeilt würde. Das wäre ein Dienst im Sinne demokratischer Streitkultur. Ein Bundestag, in dem nett Bitte und Danke zueinander gesagt wird – von der AfD liest man, dass sie eine Etikette für ihre Abgeordneten plant –, dient letztlich nicht dem Sinn des Hohen Hauses, sondern stützt jene alternativlose Zahnlosigkeit, die man als Beobachter heute schon kaum ertragen kann.

Klöckner ist halt ein Gewächs der Berliner Republik. Einer Scheinrepublik, in der Streit mit Verantwortungslosigkeit gleichgesetzt wurde – in ihren Anfängen in den 2000er-Jahren kritisierte man die Parteien für ihre Uneinigkeit und erklärte medial, dass zerstrittene Politiker einen Reformstau bewirkten und Bürger von der Urne fernhielten. Tatsächlich hat man damit die Grundressource dieses schlechtesten aller Systeme – außer all den anderen – in die Schmuddelecke gestellt.

Heute sehnt man sich nach mehr Streit und Beleidigungskultur im Bundestag. Eine, die auch zugelassen und nicht sofort sanktioniert wird – eloquente Leidenschaft mit konfrontativer Agitation täte dem Land gut. In anderen Ländern prügeln sich Abgeordnete dann und wann auch mal. So weit muss man ja hierzulande nicht gehen – aber weniger herumjammern, wenn es mal unflätig wird, hilft keinem weiter. Nur denen, die wollen, dass nicht mehr gestritten wird. Wer das will, hat die Systemfrage schon beantwortet.

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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