Alles guckte auf Alaska. Alles bangte. Die Vertreter der Europäischen Union auch. Denn, wenn ihnen der Krieg ausgeht, müssen sie sich mit dem europäischen Haus befassen. Und da sieht es dunkel aus.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Die Europäische Union steckt in der Krise. So behaupten es viele, die den Kurs der EU der letzten Jahre kritisch betrachten – unter Ursula von der Leyen, so meinen diese Kritiker, habe die EU ihren Anspruch verloren, Interessenspolitik durch Verhandlungen zu betreiben. Sie setzt nun auf Waffen, Konfrontation und Eskalation. Aber diese Kritik läuft ins Leere – denn für die Verantwortlichen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten sieht es anders aus: Sie forcieren diesen Kurs, damit die EU eben nicht in die Krise gerät. Denn aus ihr kommt sie ja. Das hat man in der Öffentlichkeit – der veröffentlichten Meinung – nur mal eben vergessen.
Seit 2020 sind die Erosionsprozesse des nicht mehr ganz so vereinten Europas in den Hintergrund getreten. Das Virus übertünchte die Probleme, die der Kontinent in seinem Bündnis aufwies. An vielen Stellen wurde die Übermacht der leistungsstarken Länder moniert – allen voran die Deutschlands, die sich während der sogenannten Eurokrise zeigte, als der »hässliche Deutsche« zurückkehrte. Andere Länder wollten zudem die Übergriffigkeit der Union eindämmen und ihre nationale Souveränität nicht preisgeben – ihnen war sicher die Troika-Politik während der Finanzkrise, die ganz wesentlich von Berlin aus gesteuert wurde, Mahnung genug.
Europäisches Krisenhaus
Bevor ab dem Jahr 2020 die internen Probleme der Europäischen Union hintangestellt wurden, schwand die Wirkkraft dieses Zusammenschlusses von 28 europäischen Staaten. Die Briten scherten aus, womit es nur noch 27 Mitglieder waren – sie verließen die Union unter dem vollen Unverständnis des westeuropäischen Festlandes. Ursächlich dabei auch: Der Migrationskurs der EU und speziell Deutschlands. Überhaupt nahm Deutschland eine Rolle ein, die der Idee eines europäischen Zusammenschlusses, stark das Ansehen ramponierte. Als Exportweltmeister führte man eben auch Arbeitslosigkeit in die Nachbar- und Partnerländer aus – gleichzeitig kanzelte man den linksrheinischen Nachbarn Frankreich für seine schlechte Wirtschaftspolitik ab. Den politischen Verantwortlichen schwebte eine EU vor, die die Konzepte beherzigen sollte, die auch Deutschland anwandte: Hartz IV für Europa – das war die Parole.
Deutschland war in jenen Jahren weiterhin stolz darauf, einen Niedriglohnsektor zu besitzen, der so groß war, wie sonst nirgends in der EU. Die Bundesrepublik lebte auf Kosten der europäischen Partner – das aber auch nur in einer Debatte anzubringen, wurde als defätistischer Frevel beschimpft. Deutschlands neoliberalen Reformen sollte europäische Agenda werden – und wurden es letztlich auch. Wohin das in Deutschland geführt hat, lässt sich exemplarisch nun an einer YouGov-Umfrage für das TeamBank-Liquiditätsbarometer ablesen: 47 Prozent der Erwachsenen im Lande haben weniger als 2.000 Euro Ersparnisse verfügbar – um die 20 Prozent der Erwachsenen verfügen sogar nur über 500 Euro Rücklagen. Deutschlands Bevölkerung verarmt – und dieses Programm wollte man Europa überstülpen?
Dazu kamen europäische Behörden, die immer stärker in die nationalen Belange der Regierungen der Mitgliedsländer eingriffen. Während der griechischen Misere wurde dem Parlament dieses Mittelmeerlandes mehr oder weniger das Haushaltsrecht entzogen. Unzählige EU-Programme und -Verordnungen kollidierten mit den Lebenswirklichkeiten der Mitgliedsländer. Gerade in Osteuropa zeigte sich, dass ein Bündnis, dass so stark in die Lebenswirklichkeit ihrer Bürger eingreifen möchte, nicht gewollt ist: Man darf das sicherlich als Erbe des Warschauer Paktes und dessen Moskauer Zentrale verbuchen. Die Polen und Ungarn wehrten sich jedenfalls sehr plakativ gegen die EU-Omnipräsenz – sie stellten damit das europäische Projekt auch immer mal in Frage. Oder besser gesagt: Diejenigen, die die polnischen und ungarischen Querulanten anmahnten, die Franzosen, die Deutschen, die Niederländer, kurz die leistungsstärkeren Industrienationen des europäischen Nordens, sahen in jeder Zuwiderhandlung gleich das Ende heraufdämmern.
Dysfunktional und bürokratisch
Nicht zu Unrecht, denn die Überlebensfähigkeit der EU nur deshalb infrage zu stellen, weil die Mitgliedsstaaten hier und da noch ihre nationale Souveränität bewahren wollten, hat den Prozess des Erodierens sicherlich begünstigt. Außerdem taten wohl auch all die Drohungen aus Brüssel ihr Übriges, die stets dann hinausposaunt wurden, wenn gewisse Länder sich nicht an EU-Recht halten wollten. Jedenfalls interpretierte man in der belgischen Hauptstadt deren Vorgehen als Verstöße gegen EU-Recht – während aber beispielsweise die Polen ihren Staatsfunk staatsnäher ausrichten ließen und dafür Schelte ernteten, ignorierte Brüssel die politisch erzwungene Staatsnähe der Medien anderer Mitgliedsländer: Man nehme hier nur Deutschland als Negativbeispiel.
Jedenfalls driftete der organisierte Kontinent auseinander, eine europäische Familie gab es längst nicht mehr – die Union gab sich eine parlamentarische Vertretung, die man bis heute nicht als Demokratie bezeichnen kann: Damit hat sich Norbert Faulhaber kürzlich auseinandergesetzt. Der langen Vorrede kurzer Sinn: Europa hatte Probleme – existenzielle Schwierigkeiten. Der Austritt Großbritanniens war nur die Episode, die am augenfälligsten war. Der Zuspruch zur Union schwand aber; in allen europäischen Himmelsrichtungen schien die EU wie ein Alpdruck auf den Mitgliedsländern zu liegen.
In den Neunzigerjahren vernahm man noch recht häufig, dass Menschen sich als Europäer vorstellten – nach dem Fall des Eisernen Vorhanges war eine Aufbruchsstimmung fassbar geworden, die sich aus der Vorstellung speiste, dass diese Union ein ganz großer Wurf werden sollte. Europäer zu sein: Das wirkte für einen Moment der Geschichte wie die Mitgliedschaft zu einer fortschrittlichen Idee von der Zukunft. Aber der große Wurf scheiterte, denn beim Abwurf verhedderte man sich. Als Europäer bezeichnen sich heute nur mehr Staatsleute – nennen wir sie mal so, es gibt in Europa kaum noch welche, die diesen Namen verdienen. Sie tun es vornehmlich in Sonntagsreden. Den Bürgern hingegen ist die Union zunehmend seltsam fremd geworden. Ihnen gilt der Apparat als dysfunktionaler Bürokratiewasserkopf, der sich kaum bewegungsfähig zeigt.
Angst vor der Wiederkehr existenzieller Fragen
Kommen wir zurück zum Jahr 2020: Im Januar, kurz bevor man die Pandemie ausrief, ratifizierte das britische Parlament gerade das Brexit-Abkommen. Am 31. Januar trat das Vereinigte Königreich aus. Vier Tage vorher gab es den ersten Covid-19-Fall in Deutschland. Die Krise der EU ging unter in der Hysterie um das Virus. Die Stimmung in den Mitgliedsländern in Bezug auf die EU war da schon auf einem Tiefpunkt angelangt, der Austritt der Briten handelte der EU schon im Vorfeld einen Ansehensverlust ein. Europa schien müde, sich ein Stück weit auch aufgegeben zu haben – die Union taumelte, sie musste sich damit abfinden, womöglich ein Flickwerk zu bleiben, es sei denn, sie erpresst ihre Mitgliedsstaaten, indem sie gewissen Ländern mit abtrünnigen Sonderwegen die Einstellung von Zahlungen aus Brüssel in Aussicht stellte. Bevor die Pandemie ausgerufen wurde, war die EU auf dem Weg dazu, sich zu einem Bündnis mit pekuniärem Zwangscharakter zu transformieren. Dann kam das Virus, man steigerte sich in die größte Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg hinein – und alle EU-Probleme schienen auf Eis gelegt.
Der Übergang in ein nächstes Krisenszenario war vielleicht nicht geplant, kam aber gerade richtig. Im Februar 2022 weitete sich der Bürgerkrieg in der Ostukraine zu einem Konflikt zwischen zwei Ländern aus – oder zwischen mehreren, je nachdem, ob man dem Waffengang den Charakter eines Stellvertreterkrieges zusprechen möchte oder nicht. Für die EU war das die Zeit, in der sie nochmals die Einigkeit der Union forcieren konnte: Ein äußerer Feind, der nicht – wie das Virus – im Nanopartikelbereich zu suchen war, sondern auf menschlicher und staatlicher Ebene, kam genau passend. Die Etablierung eines Feindbildes brachte die EU in die Lage, alle ihre Mitglieder halbwegs in eine Wagenburg-Stellung zu bringen. Zwar leisten sich einige osteuropäische Länder nach wie vor noch Sonderwege und monieren den EU-Kurs der letzten Jahre. Aber final reihen sie sich dennoch ein – die EU befasst sich jedenfalls intern kaum noch mit sich selbst, sie lenkt sich durch Wladimir Putin ab und kommt auf andere Gedanken als jene, in einer existenziellen Krise zu stecken. Zwar sagen die EU-Verantwortlichen heute gerne, dass sie die Existenz der EU gegen Russland verteidigen wollten – aber die Wahrheit ist wohl, dass die EU nur frei von Existenzsorgen ist, weil sie einen äußeren Feind angenommen hat. Wäre dem anders, würde die EU längst um ihr politisches Überleben kämpfen.
Insofern ist es nicht allzu abwegig davon auszugehen, dass die Westeuropäer mit einer gewissen Angst Richtung Alaska geblickt haben. Denn sollte der große Wurf gelingen, sich die beiden Präsidenten auf ernsthafte Verhandlungen einigen, ein potenzieller Frieden wahrscheinlicher werden, steht die EU vor einem Scherbenhaufen. Und das nicht nur, weil sie in den letzten drei bis fünf Jahren die Mitgliedsstaaten in eine wirtschaftliche und politische Sackgasse führte, sondern auch, weil dann die lästigen Fragen wieder auf die Tagesordnung kommen werden, wie es mit ihr weitergehen soll. Und ja: Ob es mit ihr weitergehen kann. Natürlich wird die EU nicht von heute auf morgen auseinanderfallen. Aber sukzessive wird sie sich mit ihrem Niedergang befassen müssen – oder sie überspringt den Punkt und macht weiter auf Krieg, wie auch immer das dann aussehen mag.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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