Die Infrastruktur in Deutschland ist dem Vizekanzler peinlich. Und damit er sich nicht weiter genieren muss, sollte jetzt schneller instandgesetzt werden.
Ein Kommentar von Roberto J. De Lapuente

Jetzt aber! Jetzt muss es schnell gehen. Die Infrastruktur in Deutschland, so lässt sich Lars Klingbeil, Vizekanzler dieser großen Zeit, in einer dieser politischen Plauderrunden mit unbegabter Moderation zitieren, seien »einem ja peinlich«. Wir benötigten nun ein »anderes Tempo«, müssten schneller investieren und bauen und wiedererrichten – das Geld sei ja da, man müsse nur zulangen: Das Sondervermögen macht es möglich.
Peinlich also. Ob es diese Empfindung ist, die Menschen plagt, wenn sie die Infrastruktur in Deutschland nutzen? Das war vielleicht mal anfangs so, als einen der Verfall noch beschämte, als es noch Reste von Stil und Ästhetik in der Gesellschaft gab. Heute ist der Niedergang doch sexy; je derangierter Hosen, Frisuren, Hausfassaden oder ganze Stadtteile sind, als desto kultiger wird es einem unter die Nase gerieben. Wie kann einem Volk von Jogginghosenträgern die Infrastruktur denn noch peinlich sein? Seit Jahrzehnten wird der Bevölkerung der Gang vor die Hunde als nicht nur alternativlos, sondern auch noch als Chance verkauft: Und nun ist dem Merzersatz alles so schrecklich peinlich?
Infrastruktur nach Osten
Ihm, der einer Partei vorsitzt, die ganz maßgeblich zuständig war für diese Peinlichkeiten. Seit 1998 sitzen die Sozialdemokraten in diversen Bundesregierungen – nur von 2009 bis 2013 hielt man den Regierungskurs der letzten Dekaden auf der harten Oppositionsbank. Aber jetzt fällt ihm ein, dass man sich genieren müsse für die Infrastruktur, für die seit dieser Zeit auch seine regierenden Mitgenossen verantwortlich sind. Wie gesagt, die Menschen sind längst über peinliche Berührung hinaus – sie ärgern sich stattdessen, verlieren Tag für Tag wertvolle Lebenszeit, weil es offenbar nicht mehr möglich ist, ein pünktliches Bahnnetz aufzustellen. Straßen sind verstopft und baufällig, marode Brücken werden gesperrt und bleiben erstmal unberührt. Kein Wunder, dass die Deutschen so ein ausgeprägtes Faible für das Homeoffice haben – denn in Deutschland Wege zu machen, ist immer mit massivem Zeitverlust verbunden.
Als im letzten Jahr die Europameisterschaft in Deutschland stattfand, hätte man sich schämen können – die Berichte der internationalen Presse waren eindeutig: Deutschland funktioniere nicht mehr. Man sollte alles vergessen, was man über Deutschland zu glauben dachte, las man in der New York Times. Doch nicht mal da haben sich die Deutschen geschämt. Dass Deutschland dysfunktional ist, damit hat man sich längst abgefunden. Die Jungen kennen es ja gar nicht anders, für sie war Deutschland immer nur das Land angedeuteter Perfektion. Und denen, die es noch anders wissen, ist der Zustand nicht peinlich, sondern ein Zornesgrund – denn immerhin hat man sie um gute Strukturen beraubt und enteignet.
Ein Grund zum Zorn: Das sind Klingbeils Worte auch. Über Jahrzehnte haben seine Sozialdemokraten nun dabei zugesehen, wie die Infrastruktur mehr und mehr den Bach runtergeht. Schulgebäude wurden in dieser Zeit baufällig – Krankenhäuser auch. Schwimmbäder und Jugendtreffs wurden geschlossen. Und jetzt, da Infrastruktur wichtig wird, weil sie auch in der goldenen Zukunft dieses Landes Personal und schweres Gerät an die Ostgrenze bringen soll, fällt dem Sozialdemokraten eine gewisse Peinlichkeit auf. Die ihm Stichworte zuwerfende Mittelmäßigkeit, die in ihrer Sendung so tut, als würde sie jenen Lars Klingbeil richtig ausquetschen, lässt dem Merzimitat freilich seine Investitionsforderungen auf Sondervermögen- und Kriegsertüchtigungsbasis durchgehen und fragt garantiert nicht weiter nach. Nun gut, man könnte einwenden: Die Infrastruktur muss einem ja peinlich sein. Eben auch jene Infrastruktur, die wir öffentlich-rechtlichen Rundfunk nennen.
Einer von uns
Im Publikum dieses Abends zu sehen: Chic uniformierte Bundeswehr-Herren – alle älteren Semesters. Es ist einfach wieder sexy, in Uniform zu Anlässen zu gehen in diesem selbstbewussten Deutschland, das einem gleichzeitig aber auch peinlich sein kann. Ein bisschen ist es heute so wie damals, als Zarah Leander sang, dass davon die Welt nicht untergehe. Im Publikum schunkelten damals bei ihr auch Uniformierte. Manche mit Verband um den Kopf oder dem Armstumpf. Die Uniformierten vom Sonntagabend im Ersten lauschten andächtig dem Vizekanzler, der bekanntlich immer schon gegen das Bürgergeld gewesen sei. Als er im September 2022 der Zeit sagte, dass jenes Bürgergeld »ein erheblicher Schritt nach vorne« sei, war ja wohl für jeden mehr als deutlich zu erahnen, dass Klingbeil das natürlich ganz anders meinte.
Nun gehe es aber gegen Sozialbetrug, lässt die stellvertretende Richtlinienkompetenz die ondulierte Gedächtnisstütze, die dem Sozialdemokraten dann und wann mal ein Kärtchen unter die Nase zu halten verpflichtet ist, damit der den roten Faden nicht verliert, dann auch wissen. Dabei klang er wie Selig-Clement, der einst bei einer anderen dieser mittelbegabten Kartenhalter lümmelte und Langzeitarbeitslose zum Parasitenbefall der Stunde erklärte. Klingbeil tut das aber nicht, wie jener damalige Superminister, weil er Dünkel gegenüber Schlechtergestellten habe, sondern weil man Geld einsparen müsse – schließlich müsse man auch rüsten. Sachzwang: So nennt man das wohl.
Der Vizekanzler hat jedoch ein Herz für die kleinen Leute, daher ist sein Halali – nein, nicht Dunja! – auf die Arbeitslosen und Betrüger, nicht klassistischer Art, sondern eben eine Notwendigkeit am Rande des Waffenganges. Klingbeil kommt nämlich selbst aus kleinen Verhältnissen, er ist einer von uns allen, ein Kumpel und Bro: Mutter Verkäuferin, Vater bei der Bundeswehr. So klein sind diese Verhältnisse im Grunde gar nicht, aber er redet sie kleiner: Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die für sein Leben gehalten werden soll. In keinem Land sonst hätte er es zum Vizekanzler geschafft, schiebt er nach. Das kann tatsächlich sein. Denn anderen Völkern ist vieles wirklich noch peinlicher als den Menschen in Deutschland. Denn den Deutschen – wie gesagt –, die in großer Zahl wie Penner herumlaufen, ist ja gar nichts mehr peinlich. Noch nicht mal der Vizekanzler …
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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