Die Entwicklung auf dem Schlachtfeld wirkt sich zwangsläufig auf die politische Arena in Kiew aus. Und diese Entwicklung ist für die Ukraine momentan nicht gerade positiv. Der erste, der dies nach einer Mehrheit der Ukrainer zu verantworten hat, ist Präsident Wolodymyr Selenskyj.
„Der einst unumstrittene Präsident hat bei der Bevölkerung an Beliebtheit eingebüßt. Einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Kiev International Institute of Sociology zufolge vertrauen Selenskyj nur noch 62 Prozent“, hieß es kürzlich in einem vom RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) veröffentlichten Beitrag. „Das ist für Staatschefs immer noch ein Traumwert, dennoch kommt es einem Absturz gleich – im Dezember 2022 vertrauten noch 84 Prozent dem Präsidenten.“
Denn laut einer anderen Umfrage stehen 88 Prozent der Ukrainer hinter dem ukrainischen Armeechef Walerij Saluschnyj.
An die Oberfläche kam der Streit zwischen den beiden im November, als der an sich eher medienscheue General einen Text im britischen „Economist“ veröffentlichte, in dem er von einer Patt-Situation an der Front schrieb und damit mit Selenskyj polemisierte, der einen solchen Stand der Dinge nicht akzeptieren wollte.
Saluschnyj wurde von einem anderen politischen Schwergewichtler unterstützt – dem Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko. „Er hat die Wahrheit gesagt“, äußérte der ehemalige Star-Boxer gegenüber der Schweizer Zeitung „20 Minuten“. „Manchmal wollen die Menschen die Wahrheit nicht hören.“ Klitschko selbst wäre wohl auch nicht abgeneigt, sich in den Machtkampf einzumischen, seine Popularität hält sich aber selbst bei den Einwohnern Kiews in Grenzen.
Mit „den Menschen“ war nicht zuletzt Selenskyj gemeint, der wenig später auf den Ausfall des Generals – merkwürdigerweise ebenfalls über eine britische Zeitung – reagierte. „Wenn man den Krieg mit dem Gedanken führt, dass man morgen Politik oder Wahlen macht, dann verhält man sich in seinen Worten und an der Front wie ein Politiker und nicht wie ein Militär“, sagte er im Interview mit dem britischen Boulevardblatt „The Sun“.
Dabei hat Saluschnyj etwaige politische Ziele bisher kein einziges Mal erkennen lassen. Der Ukraine-Experte Andreas Umland, Analyst am Stockholm Centre for Eastern, glaubt nicht an politische Ambitionen des Militärs. Momentan profitiere der Armeechef von seiner derzeitigen Position, stellte er in einem RND-Gespräch fest. „Sobald er seine politischen Absichten erklären würde, würde er auch an politischen Maßstäben gemessen werden“, vermutet Umland. „Die Beliebtheitswerte würden wohl zurückgehen.“
Laut Umfragen würden Selenskyj und Saluschnyj in die Stichwahl gehen müssen, sollten in absehbarer Zeit Präsidentenwahlen anstehen. Die für den kommenden März angesetzten Wahlen werden wohl aber angesichts des Krieges nicht stattfinden. Mindestens zwei Drittel der Ukrainer wären jedenfalls dagegen.
Sicherlich ist Moskau daran interessiert, das Thema des Konflikts zwischen den beiden maximal hochzufahren. Wie Selenskyj kürzlich erklärte, arbeite Moskau an einem Plan „Maidan 3“, also an einem Umsturz in Kiew. In den letzten Wochen gab es „reichlich Deep Fakes mit Saluschnyj, bei denen dieser auf gefälschten Videos zu einem Putsch gegen Selenskyj aufruft“, schreibt der „Tagesspiegel“. „Auch auf Facebook wird ukrainischen Nutzern gelegentlich bezahlte Werbung angezeigt, die von Eintagesseiten stammt und diese Thematik anspricht.“ Wie die Zeitung behauptet, sei der vermeintliche Machtkampf zwischen den beiden nur ein „Fake“.
Indessen lässt sich eine Siegesstimmung in der Ukraine weitgehend vermissen. Erfolgsmeldungen von der Front lassen auf sich warten. Zwei Gesetzentwürfe, die dem Ziel dienen, 400.000 neue Soldaten für die ukrainische Armee zu rekrutieren, sind bereits unterwegs. Etwaigen Verweigerern drohen Haftstrafen. Kriegsmüdigkeit setzt sich in der ukrainischen Gesellschaft durch. Aber auch aus dem Westen sind immer häufiger Stimmen zu vernehmen, die für eine Friedenslösung plädieren.
Sollte sich also der Machtkampf in Kiew weiter zuspitzen, könnte wohl derjenige als Sieger hervorgehen, der den Weg zum Frieden bieten würde.