Taumeln und Tränen

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  • Oktober 29, 2024
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Der 7. Oktober war für viele ein Tag der Tränen. Einige wurden für Familienmitglieder vergossen, die während des Angriffs der Hamas vor einem Jahr gestorben oder gefangen genommen worden waren. Andere – und ich fürchte, weitaus mehr – trauerten um die mehr als 40 000 Menschen, die seither in Gaza getötet wurden. Jetzt kommen noch die im Libanon Getöteten hinzu. Und ebenso bittere Tränen, als ich von den vielen, vielen Kindern hörte, die überlebt haben – als Waisen, mit amputierten Gliedmaßen, mit physischen und psychischen Narben, die sie ein Leben lang belasten werden. Doch an diesem Tag gab es auch ein paar weniger schmerzhafte Tränen, einfach bei der Erinnerung an ein Ereignis, das lange, lange her ist, völlig schmerzlos und für einige damals ein sehr freudiges Ereignis. Vor fünfundsiebzig Jahren wurde in einem kleinen, höchst zerrütteten, höchst rückständigen Winkel eines Landes die Deutsche Demokratische Republik geboren.

Ein Artikel von Victor Grossman.

Quelle: Shutterstock

Aber wie viele waren damals skeptisch! Erst vier Jahre zuvor hatten sich hier kleine Gruppen zusammengefunden, die aus dem Exil, aus Widerstandsbewegungen oder aus den Armeen der Alliierten zurückgekehrt waren, die Konzentrationslager und Gefängnisse überlebt oder Jahre des ängstlichen Schweigens beendet hatten. Nach zwölf Jahren des Terrors und der physischen und psychischen Zerstörung waren sie entschlossen, etwas Neues zu schaffen, das von den Giften des Faschismus, des Rassismus und des menschenfeindlichen Hasses gereinigt war, und auf dieser Grundlage einen Staat zu errichten, der den Hunger, die Armut und die ständigen Ängste der Verzweiflung in einer Woche, einem Monat, einem Jahr überwinden würde, der frei von gieriger Ausbeutung, von der Unterdrückung der Frauen und der Kinder wäre und der sich der Freundschaft und der Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn und anderen Völkern und Kulturen auf allen Kontinenten verschrieben hätte.

Das kleine Land, das daraus hervorging – oder die kleine Ecke eines Landes – sah sich einer gebrochenen, zerrissenen Bevölkerung gegenüber, die durch die Vergiftung der vergangenen Jahre oder durch einen zynischen Unglauben an weitere Pläne oder Theorien gezeichnet war. Es war schon vor seiner Geburt heftigen Angriffen mit Worten, später mit Bildern ausgesetzt, die von Meistern der Wahrheitsverdrehung und unablässigen, geheimen Aktivitäten und Rekrutierungen geprägt waren. Die Angriffe wurden von denjenigen motiviert und organisiert, die von Ausbeutung, Expansion, Feindschaft und Konflikt mit den Nachbarn profitiert und die Spaltung mit so schrecklichem Erfolg genutzt hatten, Giganten wie Krupp, Siemens, Bayer, BASF, Deutsche Bank, Rheinmetall und der Gutsherrenadel, die Junker, die jeden preußischen und deutschen Krieg unterstützt hatten, die aufgebaut und mit Hitler zusammen ganz Europa ausgeraubt und so viele Millionen versklavt oder getötet haben. Sie alle wurden aus Ostdeutschland hinausgeworfen – wenn sie nicht schon vor der vorrückenden Roten Armee und der kleinen Schar antifaschistischer Träumer geflohen waren. Sie beherrschten wieder einen viel größeren Teil Deutschlands, aber sie waren besessen von ihren Plänen, zurückzukehren.

Und am Ende erwiesen sie sich als stärker und erfolgreicher. Im Jahr 1990 konnten sie ihre Ausbeutung wieder aufnehmen, mit moderneren Werkzeugen und Waffen, aber mit demselben alten Ziel, ja der Notwendigkeit der Expansion. Auch sie begingen letzte Woche einen Jahrestag, den 3. Oktober, den Tag ihres Triumphes im Jahr 1990, ihrer glorreichen „Wiedervereinigung“ Deutschlands – was manche im Osten als Annexion oder Kolonisierung bezeichnen. Es war dieser Sieg, ein Triumph für einige, der aber auch nach so vielen Jahren noch bittere Tränen bei denjenigen von uns hervorrief, die einst von unseren sehnsüchtigen Hoffnungen und Träumen beseelt waren.

Trotz all der vielen Jahre hassen diejenigen, die die DDR gehasst haben, sie auch heute noch. Sie scheinen sie sogar zu fürchten und schimpfen fast täglich auf ihre Erinnerungen – wie auf einen alten Pferdekadaver, der noch zubeißen oder mit dem einen oder anderen Huf ausschlagen könnte. Sie sind besorgt; vielleicht können auch diejenigen, die der Vergangenheit keine Tränen nachweinen, noch ein paar unerwünschte DDR-Erinnerungen bewahren und sie sogar weitergeben.

Oh ja, es wurden Fehler gemacht, manchmal große Fehler und Makel, deren Ende niemand wirklich bedauern kann. Manche wurden von Menschen gemacht, deren zwölfjähriger Kampf gegen den Faschismus, mit so viel Leid und so vielen Verlusten, sie selbst im Alter in einer Weise verhärtet und verengt hatte, die es schwierig machte, ein Verhältnis zu Generationen zu finden, die diese Erfahrung nicht gemacht hatten und sich nicht so sehr darum sorgten, dass die Feinde ihrer kleinen Republik oft dieselben Männer oder deren Erben waren, die einst für das deutsche und weltweite Elend verantwortlich waren. Außerdem hatten viele DDR-Führer diese Jahre in der UdSSR verbracht, mit ihren großen Errungenschaften – vor allem mit der Hauptlast beim Sieg über die mächtige Kriegsmaschinerie der Nazis -, aber auch mit so vielen Elementen der Unterdrückung. Viel zu selten haben sie gelernt, so zu sprechen und zu schreiben, dass sie bei großen Mehrheiten auf uneingeschränkte Zustimmung oder Begeisterung stoßen.

Und doch wurden trotz Fehlern und Mängeln so viele Wunder vollbracht! Solch grundlegende Wunder: Keine Arbeitslosigkeit, keine Schließung einer Abteilung, einer Fabrik oder eines Bergwerks ohne einen gleichwertigen Arbeitsplatz für alle. Gleicher Lohn für Frauen und junge Arbeitnehmer, ein halbes Jahr bezahlter Mutterschaftsurlaub und ein bezahlter „Haushaltstag“ pro Monat. Kostenlose, unumstrittene Abtreibungen. Gegen eine begrenzte monatliche Steuer alle Arzt- und Zahnarztbesuche, wobei Krankenhausaufenthalte zu 100 % abgedeckt sind. Hörgeräte, Brillen, alle vorgeschriebenen Tests und Medikamente, vierwöchige Kuren, zur Erholung oder zur Vorbeugung – und nie wird ein Pfennig verlangt! Dazu dreiwöchige bezahlte Urlaube, oft in Gewerkschaftshotels am See oder am Meer.

Dazu kommt eine völlig kostenlose Ausbildung, von der Kinderbetreuung bis zur Lehre, Hochschule, Studium, mit Stipendien, die Unterbrechungen beim Arbeiten oder Geldverdienen überflüssig machen und Studienschulden unbekannt machen. Die Wohnungsmiete lag unter zehn Prozent des Einkommens, das Fahrgeld in der Stadt und auf dem Lande bei zwanzig Pfennigen, die Preise in Bäckereien, Molkereien, Lebensmittelgeschäften und Metzgereien waren überall gleich, erschwinglich und über all die Jahre hinweg eingefroren. Selbst das Wort „Tafelladen“ war unbekannt; in jedem Beruf und in jeder Schule war für weniger als eine Mark ein gutes Mittagessen garantiert – in Deutschland die Hauptmahlzeit des Tages. Keiner musste hungern. Auch war niemand obdachlos; Zwangsräumungen waren gesetzlich verboten. Der Wohnungsnot wurde mit einem gigantischen Programm begegnet, um jedem Stadtbewohner eine angenehme, moderne Wohnung zur Verfügung zu stellen. Etwa zwei Millionen wurden gebaut – bis zur Wiedervereinigung. Heute erweist sich dieses Problem aufgrund „bedauerlich hoher Zinsen und steigender Kosten“ als unlösbar – es sei denn, es handelt sich um Super-Luxus-Gentrifizierungsprojekte. Zu DDR-Zeiten wurde sogar ehemaligen Sträflingen nach Verbüßung ihrer Strafe ein Arbeitsplatz und eine Wohnung garantiert!

Was die Makel, ja Grausamkeiten betrifft, so werden immer wieder die „Stasi“-Schnüffelei und Bespitzelung, die Beschränkung der Berliner Mauer, die Zensur in den Medien und in der Kunst am meisten gegeißelt. Ihre Ursache war nicht nur die harte Vergangenheit der Männer an der Spitze, sondern in erster Linie, um dem extremen Druck aus dem „Westen“ entgegenzuwirken, gestützt auf eine Gesellschaft, die reich an Geld und Einfluss der alten Kriegsherren war, die wieder – oder immer noch – an der Macht waren, die mit den üppigen Dollar-Millionen des Marshall-Plans überhäuft wurde und die über reiche Ressourcen an Eisen, guter Steinkohle und anderen Mineralien verfügte, die im Osten so sehr fehlten. Die DDR verschaffte fast jedem einen anständigen, sicheren Lebensstandard, mit immer mehr Haushaltsgeräten, Autos und Auslandsreisen. Unsere Reiseziele waren das schöne Prag, Budapest, Leningrad, Moskau, unsere „Alpen“ die Hohe Tatra in der Slowakei, unsere „karibischen“ Strände die Schwarzmeersandstrände Bulgariens, Rumäniens, Sotschys oder, näher gelegen, die kühle, aber schöne Ostsee, in der fast die Hälfte der Badegäste in fröhlicher, unbefangener DDR-Nacktheit badete.

Aber Rom konnte nicht an einem Tag erbaut werden, ebenso wenig wie die totale Utopie. Das Warensortiment Westdeutschlands, vielleicht das zweitgrößte nach dem der USA, konnte von dem kleinen Bruder nicht erreicht werden. Erschwerend kamen in den letzten Jahren die Milliarden für die neu benötigte Elektronik für den Maschinenexport hinzu, die die kleine DDR ohne Hilfe von Sony, IBM, Silicon Valley oder gar der bedrängten UdSSR herstellen musste. Dann die Milliarden, die ausgegeben wurden, um in einem immer moderneren Rüstungswettlauf nicht zu weit zurückzufallen. Und schließlich das gigantische Wohnungsbauprogramm, das ohne die Erhöhung von Mieten, Fahrpreisen, Grundnahrungsmitteln, Gesundheits-, Bildungs- und Kulturausgaben oder die Kürzung von stark subventionierten Kinder- und Jugendclubs, Büchern, Schallplatten, Theater, Oper, Ballett und sogar Musicals finanziert werden sollte.

Diese Anziehungskraft kam den unablässigen Versuchen zugute, die am besten ausgebildeten Menschen aus dem Osten, qualifizierte Maschinenbauer, Ingenieure, Ärzte, Professoren, sogar Schriftsteller und Schauspieler, abzuwerben, indem man ihnen weniger Beschränkungen, weitaus umfassendere internationale Verbindungen und vor allem weitaus höhere Gehälter, stattliche Villen und schnittige Autos versprach. Es war gar nicht so einfach, dem zu widerstehen. Oft gab es ein Vorwort für die Jüngeren: „Machen Sie erst einmal Ihre Ausbildung, auf Kosten der DDR. Dann haben wir einen guten Job für Sie.“ Die Berliner Mauer war ein harter Versuch, dies zu verhindern, aber sie konnte es nie ganz verhindern, ohne jede Reise zu verbieten.

Heute wird das Reisen nicht behindert, wofür alle dankbar sind. Ich denke an die Jahre zurück, in denen der offizielle Sprachgebrauch sogar das Wort „Mauer“ tabuisierte und es zum offiziell korrekten „antifaschistischen Schutzwall“ umfunktionierte. Wir alle wussten, dass er nicht errichtet wurde, um uns vor anderen zu schützen, sondern um uns drinnen zu halten, und der unangenehme beschönigende Begriff wurde immer mit einem sarkastischen Grinsen – oder einer Grimasse – ausgesprochen.

Aber ich schaue auf das Deutschland von heute – und ich denke nach. In der DDR führte ein geschmiertes Hakenkreuz in einer Schultoilettenkabine oder auf einem alten jüdischen Grabstein sofort zu polizeilichen Ermittlungen und, wenn es gefunden wurde, oft auch zu Strafen. Dies war jedoch eine extreme Seltenheit, bis kurz vor dem Ende, als junge Westberliner Rassisten freier auftraten und ihren Einfluss verbreiteten.

Hakenkreuze und dergleichen sind heute ebenfalls verboten, aber ihre Befürworter und Bekehrer sind überall. Viele Städte und Dörfer, vor allem in unzufriedenen, benachteiligten, aufmüpfigen Ostgebieten, sind eine leichte Beute für faschistisches Gedankengut und faschistische Aktionen, mit kaum verhüllten Parolen, die auf lärmenden Konzerten gesungen, bei Fußballspielen gebrüllt, beim Körpertraining oder in Schützenvereinen skandiert und von Staatsanwälten, Polizisten, Richtern, Bürgermeistern geduldet werden – aus Angst oder Gefälligkeit. Sie haben Unterstützer in hohen Positionen; der Chef des FBI-Äquivalents war jahrelang ein AfD-Anhänger; nicht wenige Berliner Polizisten sind ihre schützenden Freunde.

Ja, die verbliebenen Tränen an diesem 7. Oktober mögen an die Hoffnungen von 75 Jahren erinnern. Keiner der Träumer in den Trümmern von 1949 hätte sich vorstellen können, dass eines Tages wieder Polizisten alte und junge Nazis abschirmen würden, die Horst-Wessel-Gesänge grölen, während sie durch die wieder aufgebauten Straßen Berlins marschieren, manchmal auch an meinem Fenster vorbei auf einem Boulevard, der – noch – den Namen Karl Marx trägt.

Und nun verrät eine politische Partei, die zwar nicht offen faschistisch, aber rassistisch, nationalistisch und prokapitalistisch ist, mit gelegentlichen Versprechern ihre Nostalgie nach alter deutscher Größe und Macht. Wie ein Strudel zieht sie kleinere, offen extremere Gruppen an. Sie hat alarmierend an Stärke gewonnen. In bundesweiten Umfragen duelliert sich die Alternative für Deutschland (AfD) mit den Sozialdemokraten um den zweiten Platz. Bei den jüngsten Landtagswahlen verpasste sie den ersten Platz in Brandenburg und Sachsen nur knapp. In Thüringen, wo die LINKE zehn Jahre lang an der Spitze lag, hat die AfD den ersten Platz erobert. Normalerweise hätte sie das Recht, den Ministerpräsidenten zu stellen, aber niemand will sich mit ihr zusammenschließen, um eine Mehrheit von 50+ zu bilden.

Inzwischen scheint die deutsche Wirtschaft zum Stillstand zu kommen, mit Wachstumsraten nahe oder unter Null, hohen Stromkosten für Industrie und Haushalte nach der Schließung (und Zerstörung) russischer Gas- oder Ölpipelines und verflüssigtem Fracking-Gas aus dem fernen Amerika, das sowohl die Haushalte als auch die Umwelt an der Küste gefährdet. Die führende Industrie des Landes, die Automobilproduktion, befindet sich in einer Krise, für die sie China verantwortlich macht, aber nicht glücklich darüber ist, mit ihrem wichtigsten Handelspartner aneinander zu geraten. Volkswagen (VW), das Kronjuwel des Landes, droht mit der Schließung großer Werke in Ost- und Westdeutschland, während seine Arbeiter, die aufgrund langer Kämpfe in der Vergangenheit zu den bestbezahlten gehören, drohen, ihre eher ruhige Rolle durch Militanz aus alten Zeiten zu ersetzen, was zu den allgemein wütenden Unruhen beiträgt, die durch teurere Mieten und Lebensmittel verursacht. Die AfD hat von der wachsenden Unzufriedenheit stark profitiert. Und die Linken, die den Kampf gegen die Profiteure anführen sollten? Leider sind sie gespalten! Die aus dem Zusammenschluss von Ost- und Westparteien hervorgegangene LINKE erreichte 2009 nach der Rezession mit 11,9 % der Stimmen und 76 Bundestagsmandaten ihren Höhepunkt und war damit die stärkste Oppositionspartei. Doch verwöhnt von den Erfolgen mit bis zu 30 % in den ostdeutschen Hochburgen, die Koalitionen auf Landesebene zuließen, hofften einige Spitzenpolitiker, sich auch auf Bundesebene mit Sozialdemokraten und Grünen zusammenzuschließen. Um dies zu erreichen, reduzierten sie jede beunruhigende Militanz, bewegten sich in Richtung akzeptabler keynesianischer Positionen, die das kapitalistische System erleichtern und verbessern, ohne wirklich darauf abzuzielen, es zu stürzen, außer, wer weiß, in irgendeiner wolkigen Zukunft.

Am deutlichsten war dieser Wandel in der Außenpolitik. Die LINKE-Führung rückte von der früheren scharfen Opposition gegen die NATO und ihre Tsunami-Erweiterung ab, die auf eine totale Einkreisung Russlands abzielte, sie verwässerte die Ablehnung aller Waffenlieferungen in Konfliktgebiete und wackelte bei der Haltung zu den Kriegen in der Ukraine und im Gazastreifen. Doch eine Minderheitengruppe in der Partei mit ihrer dynamischen, weithin populären Vorsitzenden Sahra Wagenknecht widersetzte sich den Kompromissen und forderte Verhandlungen über einen Frieden in der Ukraine, keine weitere Unterstützung für Netanjahu, einen Rauswurf amerikanischer Raketenbasen auf deutschem Territorium und eine Abkehr von der Abhängigkeit von den USA zugunsten einer Wiederaufnahme des Handels und normaler Beziehungen zu Russland nach dem Frieden in der Ukraine.

Da die LINKE von zu vielen als „nur ein weiterer Teil des Establishments“ angesehen wird und dementsprechend abstimmt, spitzte sich der innerparteiliche Streit im Februar 2023 zu, als ihre Führer eine von Wagenknecht angeführte Friedenskundgebung boykottierten. Trotz des Boykotts erwies sich die Veranstaltung mit bis zu 50.000 Teilnehmern als großer Erfolg; viele traten aus Protest gegen den Boykott aus der Partei aus, und im Januar 2024 führte Sahra eine Gruppe von Anhängern zur Gründung einer neuen Partei, dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Bei den Wahlen zur Europäischen Union erreichte diese neue BSW, die kaum organisiert war, 6,2 % und beschämte damit die LINKE, die auf tragische 2,7 % abfiel und bei den drei jüngsten ostdeutschen Landtagswahlen noch weiter abstürzte: Sie verlor ihren Gouverneursposten in Thüringen, kam in Sachsen nur knapp durch und erlitt in Brandenburg ein totales Desaster, das von einem Höchststand von 28 % im Jahr 2008 auf 3 % zurückging – und das ohne einen einzigen Abgeordnetensitz, die für einige bereits unerschwinglich sind.

Es gibt zwei Hauptgründe für die Erfolge – nur der AfD und der neuen Wagenknecht-BSW, die die meisten Wähler nicht von der aufgeblähten AfD abgeworben hat, wie einige gehofft und erwartet hatten, sondern von ihrer kollabierenden Mutterpartei LINKE.

Zweifellos auch deshalb, weil die BSW, wie die AfD, gegen die Einwanderung nach Deutschland war. Die AfD, offen rassistisch, zum „Schutz der deutschen Kultur“. Der BSW, so Sahra, wolle die Rechte der Arbeitnehmer in Deutschland schützen; „Wirtschaftsmigranten“ sollten in ihren Heimatländern bleiben und ihre Probleme dort lösen. Diese Position, die sicherlich ernsthafte Probleme widerspiegelt, kam für einige zu nah an die AfD-Rhetorik heran – hat aber traurige Popularität in vielen Arbeiterkreisen, besonders in Ostdeutschland.

Doch die beiden haben noch eine weitere überraschende Gemeinsamkeit. Sicherlich nicht in der wütenden Unterstützung der AfD für den („antimuslimischen“) Netanjahu und auch nicht in ihrer Unterstützung für die deutsche Wiederbewaffnung, die Wehrpflicht und das „heldenhafte Deutschland in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“! Aber sie stimmt mit dem BSW überein in der Ablehnung von Waffenlieferungen, dem Abzug von US-Waffen in Deutschland und einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zur Ukraine.

Vielleicht spiegelt dies die Betonung der AfD auf ein starkes Deutschland wider, das an die Stelle der US-Bindung und -Abhängigkeit tritt. Aus welchem Grund auch immer, ihre Forderung nach Frieden ähnelt der des BSW und den Gefühlen von 70% der Ostdeutschen und vielleicht 40% der Westdeutschen. Dies mag die Erfolge und Verluste der Parteien im „Krieg bis zum Tod“ erklären. 

Das verärgert die Krupp-Rheinmetall-Leute, die jetzt Milliarden mit Kriegen verdienen. Aber es gab auch hoffnungsvolle Überraschungen: Die Gouverneure der drei östlichen Bundesländer, die den Wind vor Ort spürten, trotzten ihren nationalen Parteien, der christlichen CDU und der SPD, indem sie es wagten zu warnen, dass eine Verstärkung des Ukraine-Krieges mit Waffen größerer Reichweite, auch aus Deutschland, zu einer Katastrophe führen kann und überdacht werden muss. Bis jetzt eine fast strafbare Ketzerei! Aber sie sind es, die sich darum kümmern müssen, trotz Tabus Koalitionen zu bilden, mit oder ohne die AfD, den BSW, sogar Reste der LINKE. Alle drei drängen auf den Abzug der US-Waffen!  

Am 3. Oktober, dem „Tag der deutschen Einheit“, gab es in Berlin wieder eine große Friedenskundgebung mit 40.000 Menschen (laut Veranstalter, laut Polizei 10.000). Zu den Rednern gehörten erfreulicherweise nicht nur Sahra, sondern auch ein führender Kopf der LINKE und, in diesen Tagen mutig, ein ehemaliger, bekannter Sozialdemokrat und sogar ein Rentner der bayerischen Christen – keine Rivalität, sondern gemeinsame Sorge!

Weitere Überraschungen: Nach dem miserablen Abstimmungsergebnis für die lauteste Kriegspartei, die Grünen, treten nun auch ihre beiden Co-Vorsitzenden zurück. Ebenso der junge Co-Vorsitzende der Sozialdemokraten (aus gesundheitlichen Gründen, wie er beteuert). Der christliche Kanzlerkandidat nach der Bundestagswahl im nächsten Jahr, Friedrich Merz, ehemals Millionärschef von BlackRock in Deutschland, steht fest. Er will mehr Waffen.

In der Tat werden die Kriegstrommeln trotz der Zweifel und des politischen Chaos lauter denn je. Es wird eine zentrale Frage auf dem LINKE-Kongress der LINKEN am 18. und 20. Oktober sein. Wer löst die bisherigen Co-Vorsitzenden ab, die ebenfalls zurücktreten? Können die konsequent linken Kräfte in der Partei diejenigen verdrängen oder schwächen, die Kompromisse predigen und dabei laut oder leise die NATO und Netanjahu unterstützen? Wird eine Rezession die Konflikte auf die Spitze treiben? Es gibt viele Fragezeichen in einer Zeit, die weniger nach Tränen, ob nostalgisch oder nicht, als vielmehr nach Taten gegen Rassisten und Faschisten, IDF-Bomber, gierige Milliardäre und Klimazerstörer ruft. Vor allem aber im Kampf gegen einen Krieg, der plötzlich und endgültig alle Fragen und Meinungsverschiedenheiten lösen könnte – mit der totalen Vernichtung.

Dieser Artikel erschien erstmals auf Victor Grossmans Website.

Victor Grossman, 1928 in New York geboren, seit der Jugend links-aktiv, in Oberschule, an der Uni, als Fabrikarbeiter. Während des Koreakriegs eingezogen. Da für die McCarthy-Leute und die US-Army gefährlich weit links, floh er vor der gefürchtete Haftstrafe, schwamm über die Donau in die Sowjet-Zone Österreichs, landete in der DDR, lernte Dreher, studierte Journalistik (der einzige in der Welt mit Diplomen von Harvard- und Karl-Marx-Uni, auch der einzige USA-Trabi-Fahrer.) Seit 1968 freischaffender Journalist, Autor, Redner. Schreibt noch Bücher und dieses monatliche Bulletin. Bücher (u.a.):  Nilpferd und Storch, Weg über die Grenze, Crossing the River, Madrid du Wunderbare, Rebel Girls, (34 große USA-Frauen), Socialis.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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