Angst vor Russland

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  • Juli 23, 2024
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Die europäischen Mächte fühlen sich von Russland bedroht. Dabei war es doch gerade Russland das mehrmals von Westen her überfallen worden war nicht umgekehrt. Woher kommt die Angst vor der Gefahr aus dem Osten?

Ein Beitrag von Rüdiger Rauls

Geschichtliche Tatsachen

shutterstock/Sunshine Seeds

Mit Vorgängen und Erfahrungen aus der Vergangenheit kann die Angst vor Russland weder erklärt noch begründet werden. Niemals in der europäischen Geschichte war Russland in jenen westlichen Staaten einmarschiert, die sich heute von ihm bedroht sehen. Die Invasionen Russland im Westen waren immer Reaktionen auf die Invasion westlicher Staaten. Eine russische Initiative zur Eroberung westlicher Gebiete hat es nie gegeben, höchstens beteiligte man sich an den Raubzügen anderer Staaten wie den polnischen Teilungen, bei denen Preußen und Österreich treibende Kräfte waren, oder aber dem Hitler-Stalin-Pakt zur Aufteilung Polens.

Die Weltkriege sind die bekanntesten Beispiele von Invasionen aus Richtung Westen. Weniger bekannt ist die Beteiligung westlicher Nationen an der versuchten Niederschlagung der russischen Revolution von 1917/18. Nach der Abdankung des Zaren hatten die deutschen Militärs die Gunst der Stunde genutzt und ihren Vormarsch in Russland fortgesetzt. Nach dem Frieden von Brest-Litowsk mit der neuen sowjetischen Regierung befanden sich große Teile der Ukraine, Weißrusslands und des Baltikums unter deutscher Herrschaft. Sogar das durch die russische Revolution unabhängig gewordene Polen führte 1920/1 Krieg gegen die Sowjetunion, um sich weitere Gebiete einzuverleiben. Aber sowohl Polen als auch Deutsche wurden von der Roten Armee zurückgeschlagen.

Im Jahre 1918 landeten Expeditionsheere der Entente aus französischen, englischen und amerikanischen Truppen im Osten Russlands zur Unterstützung der Weißgardisten im Kampf gegen die Bolschewiki. Im selben Jahr besetzten französische und griechische Truppen die Krim und Odessa. Im Osten Russlands waren 70.000 Japaner einmarschiert, hatten Wladiwostok eingenommen und sogar eine eigene Republik gegründet.

Sie alle wollten der proletarischen Revolution den Garaus machen und die russischen Verhältnisse in ihrem Sinn neu regeln. Doch bald musste sich die französische Schwarzmeerflotte zurückziehen, weil ihre Matrosen meuterten und die rote Fahne gehisst hatten aus Solidarität mit der russischen Revolution. Der von außen unterstützte Bürgerkrieg in der Sowjetunion dauerte bis weit in die 1920er Jahre.

Danach blieben dem Land nur wenige Jahre des Friedens, bis 1941 dann erneut deutsche Truppen einmarschierten. Ihr erklärtes Ziel war die Eroberung eines neuen Lebensraums im Osten. Politisch ging es dem Faschismus um die Vernichtung der nach seiner Sicht bolschewistisch-jüdischen Untermenschen und deren kommunistische Diktatur. Vier Jahre tobte der Zweite Weltkrieg in der Sowjetunion, hinterließ Millionen von Toten, verwüstete Städte, Verarmung, Elend und Hunger.

All diese Länder, die seinerzeit Russland und die UdSSR überfallen hatten, sind dieselben, die sich heute bedroht fühlen. Sie bereuen nicht angerichtetes Leid sondern stellen sich dar als Opfer eines Leides, das ihnen noch gar nicht zugestoßen ist. Sie sind potentielle Opfer eines potentiellen Leids, das sie sich selbst ausdenken, aber im Unterschied zu Russland bisher nicht wirklich erfahren haben.

Ist dieses vorgegebene Mitleiden der Versuch, unterschwellig empfundene Schuld zu tilgen? Oder ist es schlicht und einfach nur die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid, das die Herrschenden aus den westlichen Ländern Völkern in aller Welt im Laufe der Jahrhunderte zugefügt haben. Will man all dieses Leid vergessen machen, indem man sich heute selbst als Bedrohte darstellt, sozusagen als Leidensgenossen in spe?

Selbsttäuschung

Angesichts des Niedergangs der Fähigkeit zu analytischem Denken im Westen kann es natürlich sein, dass selbst große Teile der westlichen Führungskräfte sich all dieser Tatsachen aus der eigenen Geschichte nicht mehr bewusst sind. Die allgemeine Verdummung bis hinauf in die obersten Führungsebenen sollte nicht unterschätzt werden. Es ist erschreckend, wie viele Menschen im Westen sich all dieser geschichtlichen Tatsachen nicht bewusst sind beziehungsweise sie nicht wahrhaben wollen. Einiges an diesem Denken ist vielleicht Kalkül, das meiste jedoch politische Überzeugung beziehungsweise Ignoranz.

So verwundert es nicht, dass selbst ein großer Teil der westlichen Führungskräfte ganz offensichtlich zu tiefst davon überzeugt ist, dass Russland den Krieg wieder nach Europa gebracht hat. Das ist immer wieder zu hören in politischen Sichtweisen und Stellungnahmen. Dass der Krieg durch NATO-Staaten gegenüber Jugoslawien erstmals wieder seit 1945 in Europa Einzug hielt, ist vielen dieser Führungskräfte gar nicht mehr bewusst, so unglaublich das auch sein mag.

Sie haben es vergessen, verdrängt, die jüngeren vielleicht sogar nie gewusst. Zudem hat man sich über die Jahre erfolgreich eingeredet, dass zwischen dem eigenen Handeln damals und dem russischen heute ein Unterschied besteht. Die Öffentlichkeit in und außerhalb der Talkshows und Magazine der Öffentlich-Rechtlichen gab sich damit zufrieden. Niemand hinterfragte, worin denn dieser Unterschied bestehen soll. Hinzu kommt, dass man sich im Recht fühlt aufgrund der Überlegenheit der eigenen Werte, für die man vorgibt einzutreten.

Man will nicht wahrhaben, dass die Tatsachen anders sind als das Bild, das man sich von ihnen macht. Die westlichen Führer sind sich nicht mehr der Tatsachen bewusst, dass sie selbst es waren, die an die russischen Grenzen herangerückt sind. Sie haben vergessen oder verdrängt, dass sie diejenigen waren, die die Zusagen gegenüber Russland gebrochen haben, keine Ausweitung des NATO-Gebiets vorzunehmen. Nach vielen Warnungen reagierte Russland nun darauf, und der politische Westen fiel aus allen Wolken.

Weil sich Polen und die baltischen Staaten tatsächlich bedroht fühlen, fordern sie die Errichtung von Befestigungsanlagen entlang ihren Grenzen zu Russland und Weißrussland, die Russlands Armee am weiteren Vordringen hindern sollen. Es sind Sperranlagen, weniger Vorbereitungen für Angriffe auf russisches Gebiet. War der sogenannte Eiserne Vorhang von den Staaten des Warschauer Paktes errichtet worden als Schutz vor westlichen Angriffen, so zeigen die Forderungen nach Sperranlagen heute, wie sehr sich die NATO inzwischen in der Defensive sieht. Einen Angriff auf Russland scheint man sich selbst nicht mehr zuzutrauen.

Die westlichen Meinungsmacher aus Medien, Wissenschaft und Politik glauben ihren eigenen Schreckensszenarien, dass nach einer Niederlage der Ukraine Russland sich mit diesem Sieg nicht  zufrieden geben wird. Sie sind fest davon überzeugt, dass Moskau weiter nach Westen ausgreifen wird. Das ist zwar zum Teil Stimmungsmache, aber im Kern entspricht es ihrem eigenen Denken, und dieses Denken ist der Kern ihrer Angst. Sie befürchten, dass Russland genau so handeln könnte, wie sie es tun würden, wenn sie an Russlands Stelle wären.

Es entspricht ihrem eigenen Denken, nicht nachzulassen, wenn ein Gegner schwach scheint und man sich sicher sein konnte, dass er sich ihrer Übermacht nicht erwehren kann. Das war so in Jugoslawien, wo sie keine Ruhe gaben, bis das Land zerstückelt war. Das war auch so bei den erfolgreichen Farbenrevolutionen im postsowjetischen Raum. Je erfolgreicher dieses Vorgehen war, um so öfter setzte man darauf. Die Zeit und Umstände waren günstig und wieso sollte man die Gunst der Stunde nicht für den eigenen Vorteil nutzen?

Wenn sie Russland wären, würden sie so handeln, denn so haben sie es selbst immer gehalten. Sie haben die Osterweiterungen der NATO vorangetrieben, als sie sich sicher waren, dass Russland zu schwach ist, um diesem Vordringen etwas entgegen zu setzen. Sie hielten es immer noch für schwach und überschätzten die eigene Stärke, als sie begannen, die Ukraine aufzurüsten. Trotz der Niederlagen in Afghanistan und im arabischen Raum, die sie schnell übergangen haben, waren sie zu Beginn des Krieges immer noch fest davon überzeugt, dass sie Russland zerlegen könnten wie seinerzeit Jugoslawien.

Bedroht von allen Seiten

Im dem Maße, wie die Ukraine im Krieg gegen Russland schwächer wird, wachsen die Ängste und Warnungen vor der russischen Bedrohung. Die Medien werden nicht müde, die Bevölkerung damit in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie überschlagen sich förmlich in der Schaffung von Bedrohungsszenarien. Man sucht nach Wegen, die Verteidigungsfähigkeit der Armeen und die Abwehrbereitschaft der Bevölkerung zu erhöhen. Auch eine Wiedereinführung der Wehrpflicht rückt immer näher. Öffentliche Diskussionen und Appelle, kriegstüchtig werden zu müssen, verstärken den Eindruck höchster Gefahr.

Statt das eigene Verhalten von Sachlichkeit und Besonnenheit leiten zu lassen, werden kurzsichtige Entscheidungen getroffen, die von Ängsten, Wunschdenken oder gar Wahnvorstellungen getrieben sind. Kopflosigkeit regiert, getrieben von Überheblichkeit einerseits und Selbsttäuschung auf der anderen. Die Entscheidungsträger im politischen Westen sind außer Stande, die Grundsätze des russischen Handelns zu erkennen und zu verstehen. Noch weniger aber scheinen sie sich darüber im Klaren zu sein, was eigentlich sie selbst antreibt und welche politischen Ziele sie verfolgen. Was will man erreichen in diesem Konflikt mit Russland oder auch mit China oder gar mit beiden?

Die Führungen des politischen Westens sehen sich als Opfer, bedroht von allen Seiten. China zerstört mit seinen Überkapazitäten unsere Wirtschaft. Russland will uns überfallen und unsere Demokratie zerschlagen. Rechte bedrohen unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt, Moslems wollen uns übervölkern und unsere Kultur abschaffen. Und dann ist da auch noch der Klimawandel. Die Bevölkerungen im Westen sind in Panik. Sie sind von den Meinungsmachern in Medien, Politik und Wissenschaft kopflos gemacht und ohne Orientierung zurückgelassen worden.

Diese schaffen Ängste, weil sie selbst Verängstigte sind. Sie glauben selbst an die Gefahren, mit denen sie die Menschen beunruhigen. Es sind ihre eigenen Ängste, die sie in ihren Medien und Erklärungen zur Lage in der Welt verbreiten. Sie sind die Wohlhabenden, die um ihren Wohlstand fürchten. Das ist der Kern ihrer Angst. Russen, Chinesen, Zuwanderer, die Bezieher von Bürgergeld, sie alle bedrohen mit ihren Interessen und Ansprüchen den Wohlstand, den die Wohlhabenden sich erworben haben. Freiheit, Demokratie, unser westliches Lebensgefühl und all die anderen wohlklingenden Werte sind nur andere Worte dafür.

Der politische Westen und seine Eliten haben keinen Plan, auch wenn so manche nicht müde werden, gerade einen solchen hinter all dem Chaos zu vermuten. Sie geben sich wissend oder tun geheimnisvoll oder ergehen sich in düsteren Andeutungen. Aber mit dieser Wichtigtuerei spielen sie gerade jenen in die Hände, die für Verängstigung sorgen. Die Führungskräfte im Westen sind Getriebene, planlos getrieben von den inneren Widersprüchen ihrer Gesellschaften. Welch ein sinnvoller Plan soll dahinter stecken, sich gleichzeitig mit Russland und China anzulegen, nachdem man vor einer Armee von afghanischen Bauern Reißaus hatte nehmen müssen?

Da fehlt jegliche realistische Einschätzung der Lage und der Kräfteverhältnisse sowohl bei den Führungskräften wie auch bei ihren Kritikern. Wer glaubt denn allen Ernstes, dass Leute wie Baerbock, Biden, von der Leyen und wie sie sonst noch alle heißen mögen in den Machtzentralen des politischen Westens einen realistischen und tiefgehenden Überblick über die Entwicklungen in der Welt haben?

Russland hat eine Strategie für seinen Krieg und seine politischen Ziele im Rest der Welt, besonders im Rahmen der BRICS-Staaten. China hat eine für seine wirtschaftliche und politische Entwicklung. Das ist erkennbar in ihrem unaufgeregten Handeln und ruhigen Vorgehen. Dass der politische Westen all das nicht hat, das gerade macht seine Angst aus und sein Gefühl der Bedrohung.

Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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