Landwirte in Schleswig-Holstein stoppen Vizekanzler Habeck auf einer Fähre und lösen Empörung in Berlin aus. Während die Politik die bevorstehende Bauernprotestwoche kritisiert, erfährt die Klimaaktivistenbewegung Nachsicht. Ein Kampf zwischen etablierten Werten und aufstrebenden Stimmen.
Ein Beitrag von Rüdiger Rauls
Die Stimmung ist aufgeheizt im Land. „Da hat sich mit dem Hin und Her in der Energie- und Haushaltspolitik großer Ärger aufgestaut.“ Nach den Protesten der Bauern in Berlin und der landesweiten Solidarisierung aus allen Kreisen der Bevölkerung scheinen die Meinungsmacher in Panik zu sein. Dabei steht die größte Belastungsprobe für die Regierung und ihren Hofstaat noch bevor, die Protestwoche vom Montag, den 8. Januar, bis zur zentralen Veranstaltung am 15. Januar in Berlin.
Schon jetzt überschlagen sich Medien und willfährige Experten mit der Stimmungsmache gegen die Bauern. Weil diese den Vizekanzler daran hinderten, die Fähre zu verlassen, spricht Regierungssprecher Hebestreit von einer „Verrohung der politischen Sitten“. Viel Weinerliches und Moralisierendes war in der Folge aus Berlin und den Redaktionsstuben zu hören. Das Verhalten der Bauern sei „beschämend und verstößt gegen die Regeln des demokratischen Miteinanders“. In der Öffentlichkeit außerhalb der Medien wurde diese Kritik selten geteilt. Die meisten Menschen im Land verstehen diese Empörung von Politikern nicht, waren es doch gerade deren Entscheidungen und Politik in den letzten Monaten, die den Boden für solchen Protest bereitet hatten. Sicherlich kann man es als beschämend empfinden, dass nach der Ansicht von Meinungsmachern gegen demokratische Regeln verstoßen wurde.
Aber wo ist die Scham von solchen Moralaposteln angesichts des Elends an den Tafeln? Man kann im Handeln der Bauern eine Verrohung der politischen Sitten sehen. Aber welche menschliche Verrohung stellt die landläufige Gleichgültigkeit dar gerade gegenüber den elementaren Bedürfnissen der Bevölkerung? Millionen sinken ab in die Armut und wissen nicht mehr, wie sie ihre Mieten, ihre Heizkosten und ihre Lebensmittel bezahlen können. Wo bleibt da der moralische Appell an das gesellschaftliche Miteinander?
Aber die Meinungsmacher regen sich darüber auf, dass Bauern, denen man von Jahr zu Jahr immer mehr die Lebensgrundlagen zerstört, nun einen der Verantwortlichen zur Rede stellen und ihren Unmut darüber deutlich machen wollen. Habeck konnte seine Fähre nicht verlassen, das ist vielleicht nicht gerade schön. Aber wie unschön wird es für viele Spediteure sein, wenn sie aufgrund von Habecks Beschlüssen ihre Lastwagen stehen lassen müssen, weil die Kosten ihnen davonlaufen? Wie unschön sind die Aufschläge für das Kohlendioxid, die Habeck von 30 Euro auf 45 Euro erhöhen will, wobei ursprünglich nur 40 Euro vorgesehen waren? Ja, das demokratische Miteinander ist vielleicht gefährdet. Aber dazu haben die Entscheidungen und Beschlüsse jener einen großen Teil dazugegeben, die sich nun über die Reaktionen aus der Bevölkerung aufregen. Sie sind es selbst, die diese Situation herbeigeführt haben. Die Bauern haben es mit Sicherheit anders gewollt. Auch die Menschen an den Ladenkassen und Zapfsäulen hatten nicht um höhere Preise gebettelt. All das scheinen jene nicht zu sehen, die sich aktuell aufregen über Reaktionen, die sie selbst verursacht haben. Die Mehrheit der Bevölkerung aber sieht es und steht weiterhin hinter den Bauern.
Zweierlei Maß
Die Erwartung in der Bevölkerung an die Aktionswoche der Bauern ist groß. Es scheint immer weniger um die wirtschaftlichen Forderungen zu gehen. Denn trotz der Zugeständnisse, die die Politik vor der Aktionswoche gegenüber den Landwirten in Bezug auf ihre wirtschaftlichen Forderungen gemacht hat, wird an der Protestwoche festgehalten. Zum einen reichen ihnen die Zugeständnisse nicht, wird doch die Steuererstattung auf Diesel nun über drei Jahre zurückgefahren anstatt sofort. Die Bauern scheinen zu merken, dass sie aufgrund der Unterstützung aus der Bevölkerung am längeren Hegel sitzen, und den wollen sie nutzen. Selbst der zum Skandal aufgebauschte Protest von Schlüttsiel und der anschließende Aufschrei aus Berlin und den Medienhäusern hat wenig Einfluss auf die Solidarität mit den Bauern. An der Bevölkerung scheint das spurlos vorbeizugehen. Auch die Warnhinweise auf rechte Unterwanderung oder gar Kaperung scheinen immer weniger zu verfangen. Zu oft wurde die Nazikeule inzwischen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ausgepackt. Die Stimmung im Lande ist erwartungsvoll. Viele wollen der Regierung heimzahlen, was ihnen in den vergangenen Monaten aufgebürdet und zugemutet worden ist.
Aber auch andere Stimmungen spielen eine Rolle und finden nun zusammen mit dem Protest ein Ventil. Da ist die weinerliche Märtyrerhaltung von Politikern, die jetzt den Volkszorn zu spüren bekommen und sich aufregen über „Grenzüberschreitung“ (Britta Haßelmann, Die Grünen), „Gepöbel“ (Annalena Baerbock, Die Grünen), und über Beschimpfungen vonseiten der Bürger. Wenn aber Özdemir Bauern, die er nicht kennt, als Radikalinskis und Fanatiker bezeichnet, wenn er behauptet „Denen geht es nicht um die deutsche Landwirtschaft“, ohne deren Einstellung wirklich zu kennen, dann gelten andere Maßstäbe. Wenn Politiker Bürger beschimpfen als Nazis in Nadelstreifen, als Pack (Sigmar Gabriel), als Schmeißfliegen (Franz Josef Strauß), als Friedensengel aus der Hölle (Scholz), dann hält sich die Empörung in Grenzen. Wenn Haseloff Helfer in den Hochwassergebieten auffordert, zu arbeiten, oder seinerzeit Macron oder auch Kurt Beck, dann wird ein verständnisvoller Ton angeschlagen. Dann lässt Haseloff seinen Sprecher vor das Volk treten und erklären, die Äußerung des Ministerpräsidenten sei als „konstruktive Aufforderung“ zu verstehen gewesen, bei der Flutbekämpfung mitzuhelfen. „Dazu stehen wir auch, das muss auch mal erlaubt sein.“ Nicht nur, dass man glaubt, das Volk mit solchen Erklärungen für dumm verkaufen zu können ‒ es gilt dann nicht als Verrohung, nicht als beschämend oder Verstoß gegen das demokratische Miteinander.
Da soll dann das Volk für den Ministerpräsidenten das Verständnis zeigen, das seine Kollegen und die Medien nicht für das Volk aufbringen. Auch wenn sich die Menschen nicht gegen das Messen mit zweierlei Maß empören, so nehmen sie es doch wahr. Es schafft Verbitterung. So ist die Stimmung im Lande und der Unmut gegen die herrschende Politik und Meinungsmache sehr stark geprägt von zunehmender Verbitterung und Überdruss.
Eigenes und fremdes Fleisch
Nach den Protesten von Schlüttsiel soll nun ermittelt werden. „Landfriedensbruch steht schon im Raum“, sagte ein Polizeisprecher. Insgesamt ist zu erkennen, dass man die Bauernbewegung kriminalisieren will. In diese Richtung zielen auch die immer stärker werdenden Hinweise und Warnungen, dass diese Bewegung von rechts unterwandert sein könnte oder bereits ist. Damit will man ihr die Unterstützung durch die Bevölkerung entziehen. Während man den Bauern nun mit strafrechtlicher Verfolgung droht, weil Hunderte von ihnen einen Minister nicht hatten von Bord gehen lassen, geben sich Politik und Justiz ratlos und machtlos beim Vorgehen gegen Klimakleber, wo einige wenige sogenannte Aktivisten Hunderte von Arbeitnehmern auf dem Weg zur Arbeit blockieren. Gegen die Aktivisten der „Letzten Generation“ sind allein in Berlin bisher rund 3.428 Anzeigen eingegangen, „seit Juni 2023 seien nur elf Urteile gefällt worden“, berichtete die Zeitung Welt am Sonntag. Die unterschiedliche Behandlung kann nicht allein mit Justizversagen begründet werden. Immer wieder gerade in Berlin war auffällig, wie sehr die Klimakleber moralisch besonders von den Grünen unterstützt wurden. Man hatte in den Senatskreisen der rot-rot-grünen Vorgängerregierung sehr viel Sympathie und Verständnis für die Aktionen der Umweltaktivisten. Das hat seine Gründe. Sie sind Fleisch vom eigenen Fleische.
Der politische Westen ist werteorientiert. Darin versucht er sich von den sogenannten Autokratien abzuheben und für sich die Berechtigung in Anspruch zu nehmen, andere Nationen mit seinen Werten missionieren zu dürfen. Neben Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und all den anderen sogenannten westlichen Werten gehört dazu auch der Kampf für das Klima. Dieser Kampf ist inzwischen zu einer der Kernmarken des politischen Westens geworden. Dementsprechend nachgiebig ist man gerade gegenüber den Verfechtern im Kampf gegen den Klimawandel. Diese kann man doch nicht als Vertreter der eigenen Werte mit ähnlich harten Bandagen anfassen wie die Bauern, die doch nicht für Werte kämpfen, sondern nur für ihre wirtschaftlichen Interessen. Das ist besonders im intellektuell ausgerichteten Westen belanglos, ja fast verachtungswürdig. Interessen, erst recht wirtschaftliche, werden weitgehend herablassend behandelt.
Beim westlichen Führungspersonal zählt eigentlich nur Überlegenheit, und das ist alles, was mit Intellekt, Wissenschaft, Bildung und Geistesgröße zu tun hat. Sie sind die Grundlage des eigenen Überlegenheitsgefühls. Die meisten Eltern hierzulande wollen, dass ihre Kinder studieren. Handwerk und Handarbeit gelten als unbedeutend. Nur wer studiert hat, genießt Ansehen in der Gesellschaft. Der umständlichste Akademiker genießt höheres Ansehen als ein geschickter und erfolgreicher Handwerker.Und nun kommen da einige Bauern daher, und bringen dieses wunderbare gesellschaftliche Modell durcheinander. Sie, in Verbindung mit all den anderen Handarbeitern, die man in den letzten Jahren und Jahrzehnten kaum noch wahrgenommen hat, die man schon ganz vergessen hat, sie bringen nun all diese Überlegenheitsgefühle zum Einsturz. Sie zeigen, wozu sie in der Lage sind. Ohne langwierige Diskussionen und Theoriestreit stellen sie in kurzer Zeit eine kraftvolle Bewegung auf die Beine, die alles ins Wanken bringt. Sie sind nicht Fleisch vom eigenen Fleische. Sie sind aus einer anderen, einer fremden Welt.
Zum Autor: Rüdiger Rauls ist Buchautor und betreibt den Blog Politische Analyse.