Bis kürzlich war es für die Berliner Blase rechts, wenn man auf Joe Bidens Zustand zu sprechen kam. Jetzt ist es Mainstream.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente
Seit Monaten und Jahren gehen in den sozialen Netzwerken Clips und Ausschnitte viral, die einen US-Präsidenten zeigen, der die Orientierung zu verlieren scheint. Mal will er einem Mann, der ihm die Hand schüttelte, nach drei Sekunden abermals die Hand schütteln – dann spricht er vom Krieg im Irak, den Putin nicht gewinnen darf.
Das alles sind aber Fakenews, sagen demokratische Medien in den USA und Übersee. Die US-Demokraten haben seit vielen Monaten nur noch ein Wahlkampfthema. Und das ist das Alter Joe Bidens. Besser gesagt: Sie wollen beweisen, dass der Präsident sicherlich reich an Jahren ist, aber immer noch nicht so alt, wie er tatsächlich aussieht. Der Mann sei daher selbstverständlich für das Amt geeignet. Eben auch für eine zweite Amtszeit. Biden würde zu Unrecht für seine Betagtheit angegriffen. Er sei mental stark genug, um im Oval Office sitzen zu können. Ja, es sei nichts anderes als eine Kampagne, der er ausgeliefert würde. Die Demokraten führten also einen geradezu metaphysischen Kampf gegen das Alter ihres potenziellen Kandidaten – und damit gegen die Zeit und deren Vergehen.
Aus dem Kontext gerissen?
Folgerichtig wurde er bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei als Kandidat bestätigt. Und das mit einem haushohen Ergebnis: Biden erhielt 3.317 Stimmen. Gegenkandidat Jason M. Palmer ging mit 3 Stimmen aus den Vorwahlen – ebenso wie Dean Phillips. Gegenkandidatin Marianne Williamson bekam überhaupt keine Stimme. Nun muss der Parteitag Joe Biden nominieren – es sei denn, er selbst zieht sich zurück. Trotz seines desaströsen Auftrittes beim TV-Duell gegen den republikanischen Kandidaten Donald Trump, lehnt er dies ab. Er habe auch wieder bessere Tage, ließ er verlautbaren – Trump bleibe aber immer ein Lügner.
Keine Woche vor dem TV-Duell äußerten sich auch die ARD-Faktenfinder zu Wort. Pascal Siggelkow »stellte klar«, dass es sich bei den Clips, die man online sähe, gemeinhin um Fake handle. Um aus dem Kontext gerissene Ausschnitte, die Biden lächerlich machen wollten. Siggelkow fuhr großes Geschütz auf, wies auf Bidens Leibarzt hin, der ihn im Februar noch untersucht hätte und nichts finden konnte. Bedenkliches Argument: Denn über einen Leibarzt, der der Presse verrät, was im Arzt-Patienten-Gespräch thematisiert wurde, sollte man sich wirklich wundern. Und ihn schnell durch einen anderen Leibarzt ersetzen. Aber Siggelkow nimmt den mit ziemlicher Sicherheit vorher instruierten Arzt beim Wort. Für einen, der skeptisch Fakten checken will, ist das schon ein kurioses Vorgehen.
Siggelkow ordnet freilich auch ein, wer diese dreiste Altersdiskriminierung ins Leben rief: Rechte und konservative Kreise, Trump-Anhänger und die Republikaner. Damit übernimmt er die Sichtweise der US-Demokraten. Sie fingierten eine große Verschwörung gegen Joe Biden. Ganz so, als sei an den Vorwürfen nun gar nichts dran. Sicherlich gibt es auch aus dem Kontext gerissene Clips – aber das TV-Duell hat nun eindrücklich bewiesen, wie es wirklich um den POTUS steht. Die Frage, ob er denn geeignet sei, dieses Amt weitere vier Jahre zu besetzen, ist also keine, die auf einer Kampagne beruht, sondern ergibt sich aus dem, was man sieht, wenn man sich ideologisch nicht einwickeln lässt.
Und genau das taten die Demokraten in den letzten Monaten. Der »gute alte Joe« wurde als letztes Bollwerk gegen den Faschismus in Position gebracht. Faschismus meint hier: Donald Trump. Man hätte sich fragen können, ob ein Land, das einen offenbar altersbedingt stark eingeschränkten Mann zur letzten Chance kürt, tatsächlich vielleicht ein viel umfassenderes Problem hat, als eben jenen Trump. Das fragte nur keiner »im guten Amerika«.
Die Realität drückt auf die Blase
Stattdessen fanden sich auch über dem großen Teich willfährige Journalistenmimen, die einfach nachplapperten, was die demokratische Wahlkampfmaschine von sich gab. Siggelkow hat eindrücklich bewiesen, wie Faktenfinder oder Faktenchecker arbeiten – aber auch, wie sehr sie am Rockzipfel des vermeintlich »guten Amerika« hängen. Es wirkt stark so, als ob sie auf Zuruf arbeiten und Ergebnisse liefern, die man vorab bestellt. Journalistische Arbeit lässt Ergebnisoffenheit zu. Wer in einer dieser Redaktionen sitzt, die Fakten zu prüfen vorgeben, darf offene Ergebnisse nicht kennen und sollte diese Idee wieder schnellstens vergessen. Dort ist vor einer vermeintlichen Recherche bereits klar, wohin die Reise geht.
Dass die Politik dieser Simulation von journalistischer Arbeit unter die Arme greift, lässt sich auf der Website der Europäischen Kommission finden. Dort liest man: Um die Desinformation einzudämmen, schlage man Projekte vor »wie: eine Plattform zur Überprüfung von Inhalten; Faktencheck-Programme; eine Methodik zur sozioökonomischen Folgenabschätzung von Desinformation; Strategien und Maßnahmen für mehr Medienkompetenz, zur Analyse juristischer Hindernisse und von Aspekten der kommunalen Selbstregulierung; ein Verzeichnis zum Kenntnisstand über Desinformation.«
Was indes Desinformation ist, entscheiden die Regierenden. Die Europäische Kommission rekurriert in ihrem Papier auf die Corona-Zeit und die damals im Umlauf befindlichen Desinformationen. Unzählige dieser Lügen und Verschwörungstheorien bewahrheiteten sich jedoch im Laufe der Jahre. Die Politik flüchtet sich in eine Parallelgesellschaft. In eine Blase, wie man das heute nennt. Und da die Realität mit immer größerer Macht auf eben diese Blase drückt, richtet man sich einen eigenen Verlautbarungsapparat ein, der über die plumpe Einrichtung eines Staatssenders hinausgeht. Es wird stattdessen Unabhängigkeit simuliert, ein mentaler Angriffskrieg auf die Köpfe vollzogen, ohne dass es so aussieht wie in einem totalitären Regime.
Der Umgang mit Bidens Alter zeigte in nuce, wie dieser Apparat funktioniert. Vor einer Woche verteidigten die Guten, die sich allesamt im Dunstkreis des Transatlantischen tummeln, den alten Herrn Biden. Ein Junggebliebener sei er, man dürfe ihn nicht schlechtmachen. Jetzt dreht der Wind und plötzlich machen sich auch transatlantische Medien Sorgen um den armen alten Mann in Washington. Wird Zeit, dass Pascal Siggelkow einen Faktencheck nachlegt, aus dem hervorgeht, dass Joe Biden noch viel viel älter ist, als er tatsächlich aussieht.
Zum Autor: Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Seit 2017 ist er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.