Deutsche Waffen dürfen auch in Russland eingesetzt werden. Das ist das endgültige Ende des »Nie wieder«. Die Nachkriegserkenntnisse sind nun vollständig auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet.
Ein Beitrag Roberto J. De Lapuente
Webpräsenz der Tagesschau am 31. Mai dieses Jahres: Um 13:50 meldet das Portal, dass die Ukraine deutsche Waffen auch auf russischem Boden einsetzen darf. Die Bundesregierung habe dies entschieden. Drei Stunden später, die Tagesschau mit einem Schwenk auf den Katholikentag in Erfurt: Der Bundeskanzler war da. Und er hat Bedeutsames gesagt: »Wir müssen den großen Krieg vermeiden.«
Immerhin liest man auch, da haben sich die Journalisten des ARD-Nachrichtenformates noch kurz zur Sachlichkeit besonnen: »Scholz ging nicht darauf ein, dass die Bundesregierung am Morgen erklärt hatte, die Ukraine dürfe gelieferte Waffen auch gegen Ziele auf russischem Gebiet einsetzen.« Die Nachricht hätte die Tagesschau jedoch anders aufmachen können. Ein Beispiel gefällig? Mit dieser Headline etwa: »Trotz Erlaubnis für Waffeneinsatz – Scholz spricht von Kriegsvermeidung«. Sachlich wäre das immer noch gewesen: Hätte aber die Doppelmoral des Augenblickes unterstrichen.
Kriegsbefürworter erleidet Kratzer
Solcherlei Headlines sind in dieser Republik denen vorbehalten, deren Doppelmoral man mit Wonne kenntlich macht: Der AfD und Sahra Wagenknecht etwa. Den Querdenkern oder dem Vorsitzenden der GDL. Den Ostdeutschen oder den Landwirten. Bei denen setzt man Worte und Taten, Aussagen und Vorstellungen in Relation – und das für weitaus kleinere Widersprüchlichkeiten. Aber ein Kanzler, dessen Regierung dem Einsatz deutscher Waffen auf russischen Boden zustimmt, der ist fein raus: Den begleitet man journalistisch handzahm.
Neu ist das freilich nicht. Das ganze Land, das heißt: die veröffentlichte Meinung, lebt in einer Blase, die genau diese Widersprüchlichkeiten ausblendet. Nehmen wir nur Roderich Kiesewetter von der CDU, der in ein Handgemenge mit einem unzufriedenen Bürger geriet. Der Christdemokrat, Oberst außer Dienst der Bundeswehr, rührt seit zwei Jahren die Öffentlichkeit auf, den Krieg in der Ukraine auszubauen: Letztes Jahr erklärte er noch, es gehe in der Ukraine um seltene Erden. Der Krieg sei quasi auch einer, den man im Sinne des Klimas führe – Doomsday for Future quasi. Kurz darauf empfahl er, den Krieg nach Russland zu tragen. Nun hat der gute Mann Schürfwunden erlitten und wieder sehen manche die Demokratie gefährdet.
Darf Satire das? Einen Mann, der den Tod vieler junger Männer und Frauen für weiterhin angebracht hält, als Opfer stilisieren, weil er einige Kratzer erlitten hat? Und wenn das dann auch noch von jener Maries-Agnes Strack-Zimmermann flankiert wird, die dem netten Herrn Kollegen Genesungswünsche schickt, während sie den Einsatz deutscher Waffen auf russischem Gebiet bei X als »weise« lobt, ahnt man vermutlich ohne weitere Erklärungen, in welchem mentalen Zustand sich die Bundesrepublik befindet.
Vom deutschen Boden
Deutsche Waffen auf russischem Boden? War da nicht mal was? Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht. Sie müssen noch nicht mal so alt sein, dass sie den damaligen Waffeneinsatz hinter der russischen Staatsgrenze selbst miterlebt haben. Es reicht, wenn Sie so alt sind, sich vielleicht maximal an die 2010er-Jahre zu erinnern. Denn bis zu dem Zeitpunkt galt noch die Nachkriegserkenntnis: Nie wieder – so hieß sie.
Hätte bis vor einigen Jahren jemand laut von sich gegeben, dass deutsches Zerstörungs- und Vernichtungsgerät durchaus auch in Russland und vor allem gegen Russen zum Einsatz kommen sollte, falls es mal nötig wird, wäre er ganz schnell jenen zugeordnet worden, die die Lehren aus der deutschen Geschichte nicht gezogen haben. Ja, man kann unumwunden behaupten: Ein solch kühner Ratgeber, hätte bis vor einiger Zeit noch damit leben müssen, als Rechtsextremer eingenordet zu werden. Denn wer wie Großvater deutsche Panzer in Russland probefahren möchte: Was kann der schon anderes sein als ein Ewiggestriger?
Dass vom deutschen Boden kein Krieg mehr ausgehen sollte, war in der bundesrepublikanischen Muttermilch – und das für lange Zeit parteiübergreifend. Für eine Weile hielten wir uns – die Deutschen, sagen wir es des Effektheischens wegen mal fraternisierend – von der deutschen Lust am Kriege kuriert. Nie wieder halt …
Die Vorzeichen haben sich heute selbstverständlich geändert. Die Ukraine soll nicht unser Lebensraum im Osten werden. Jedenfalls nicht so wie einst. Denn der Westen steht längst auf ukrainischem Boden. Die Ukrainer werden nach dem Krieg verstehen, dass der nächste Krieg in ihrem Alltag angekommen ist: Er nennt sich Austerität und zeigt sich, indem das Land und seine dann amtierende – vielleicht auch gewählte? – Regierung nicht selbstständig das Haushaltsrecht ausüben kann und wird.
Kampf gegen rechts heißt: Mehr Krieg wagen!
Außerdem will dieses beste Deutschland aller Zeiten Russland nicht vernichten – auch wenn die Außenministerin das Nachbarland im Osten mindestens ruinieren möchte. Es geht um den russischen Präsidenten. Man müsse kämpfen, um ihm Einhalt zu gebieten. Besser noch: Um ihn abzusetzen. Was dann sein soll, sagen die europäischen und deutschen Sicherheitspolitiker nicht. Immerhin könnte es sein, dass so ein Szenario – falls es überhaupt realistisch ist – einen russischen Bürgerkrieg zur Folge haben könnte. Und dann? Der wird in jedem Falle gefährlicher als jener Stellvertreterkrieg, der nun um die Ukraine tobt.
Währenddessen wütet auch innerhalb Deutschlands ein Bürgerkrieg. Nur mit anderen Mitteln. Genauer: Als Fortführung der Diffamierung mit anderen Mitteln. Überall glaubt man rechter Umtriebe ansichtig zu werden. Die Regierung führt zusammen mit wohlgesinnten Bürgern einen Kampf gegen rechts. Gemeint sind damit all jene, die nicht auf Regierungslinie sind und oft – nicht immer! – die richtigen Fragen stellen. Es geht gegen die, die sie Nazis nennen. Also im Grunde gegen die Enkel derer, die damals deutsche Waffen auf russischen Boden einsetzten.
Man sieht schon: Deutschland ist ein in der Logik völlig zerrissenes Land. Nicht nur, dass der Kanzler Frieden predigt, während sein Kabinett synchron dazu Krieg exportiert oder ein Kriegsinfluencer jammert, wenn er Schürfwunden erleidet: Nein, auch die Nazis sind in diesem Land jetzt Leute, die nicht Militärfahrzeuge auf Gleisketten in fremde Länder lotsen wollen. Nazis sind nun die, die das unterlassen möchten. In der Tat, dieses Land im Herzen Europas, dieses Deutschland, es ist im wahrsten Sinne des Wortes verrückt. Man kann es sachlich, nüchtern und analytisch gar nicht mehr begreifen. Es ist aber vielleicht immerhin die beste Irrenanstalt, in der wir je lebten.
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