Wenn man sich die Andeutungen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron anhört, dass er sich durchaus vorstellen kann, reguläre französische Truppen in die Ukraine zu schicken, möchte man an seinem gesunden Menschenverstand zweifeln. Schon einmal hatte Frankreich versucht das größte Land der Welt zu bezwingen und ist damit kläglich gescheitert. Der verlorene Feldzug Kaiser Napoleons kostete den Imperator letztendlich sogar seine Kaiserkrone. Hat man das in Frankreich vergessen?
Ein Beitrag von Wilhelm Domke-Schulz
Der Präsident eines angeblich demokratischen Staates sollte doch vor allem den Interessen seines Landes, seines Volkes dienen und es nicht ins vorprogrammierte Unglück stürzen wollen. Was ist also los mit Präsident Macron? Ist er noch bei Sinnen, möchte man sich fragen. Die gleiche Frage stellt man sich auch bei den notorischen Kriegstreibern in Deutschland, Brüssel und Washington.
Allerdings hat das, was auf den ersten Blick wie blindes Wüten von russophoben Psychopathen anmutet, ganz pragmatische Hintergründe. Denn es ist nicht so, dass die scheindemokratisch gewählten Staatsoberhäupter der westlichen Welt allesamt an psychischen Störungen leiden. Dieser Eindruck mag vielleicht bei gutgläubigen westlichen Bürgern entstehen, die noch immer ernsthaft davon überzeugt sind, in demokratischen Systemen zu leben, in denen die Bevölkerung der Souverän ist und der jeweilige Präsident als erster „Diener des Staates“, dem Wähler, dem Volk dient. Dem ist aber nicht so. Mitnichten.
Die westlichen, parlamentarischen (Schein-)Demokratien sind Gesellschaftsordnungen, die einzig und allein darauf ausgerichtet sind, die Interessen einer kleinen Minderheit, den Geld-, Macht- und Meinungsmachteliten zu dienen. Das westliche Parteiensystem dient demselben Zweck. Es erweckt oberflächlich betrachtet den Eindruck, dass man als Bürger die Wahl hätte, aber nach jeder „demokratischen“ Wahl erlebt der überraschte Wähler ein böses Erwachen, in dem er plötzlich eine Regierung bekommt, die meist der eigenen Bevölkerung und anderen (nichtwestlichen) Staaten gegenüber noch feindlicher gesinnt ist, als die vorhergehende.
Ich erinnere nur an zwei sehr prägnante Beispiele: Der ukrainische Präsident Selenskyj ist zur Wahl angetreten, mit dem Versprechen den Krieg im Donbass zu beenden – das ganze Gegenteil ist eingetreten. Die grüne Partei hat sich in Deutschland mit dem Versprechen zur Wahl gestellt, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern – nach der Wahl hat sie sich als eine hysterische Kriegspartei entpuppt, die sich laut ihrer Außenministerin „im Krieg gegen Russland“ wähnt.
Was hat das nun alles mit Präsident Macron und seinen Gedankenspielen zu tun, französische Truppen in die Ukraine zu schicken? Um diese Frage zu beantworten, sollte man sich am besten in die Situation der französischen Eliten hineinversetzten.
Der Mythos der „Grande Nation“
Jahrhundertelang war die „Grande Nation“ eine Kolonialmacht, deren Eliten sich durch die Ausbeutung, Plünderung und Unterwerfung anderer Länder maßlos bereichert haben, getreu dem bis heute geltenden westlichen Geschäftsmodell „rauben, plündern, morden“. Ein Gesellschaftsprinzip, das immer mehr dem Untergang geweiht ist.
Der unaufhaltsame Niedergang der französischen Kolonialmacht begann spätestens mit ihren verlorenen Kriegen in Indochina und Algerien. Eine der wichtigsten Einnahmequellen bis in die jüngste Vergangenheit blieben dagegen die westafrikanischen Staaten, die trotz staatlicher Unabhängigkeit durch wirtschaftliche Knebelverträge und französische Militärpräsenz de facto französisches Kolonialgebiet geblieben sind. Aber auch diese Zeit neigt sich ihrem Ende zu.
Mit dem Erstarken der neuen Weltordnung, die auf dem Prinzip der gleichberechtigten politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen souveränen Staaten auf Augenhöhe basiert, ist nun endlich auch in Westafrika eine echte antikoloniale Befreiungsbewegung auf dem Vormarsch. Der Einflussbereich Frankreichs schrumpft dadurch immer mehr.
Das bedeutet eine existenzielle Katastrophe für die westlichen, französischen Eliten, deren Existenz auf dem Prinzip des expansiven, totalitären Radikalkapitalismus beruht.
Der totalitäre Radikalkapitalismus muss zwangsläufig immer wieder expandieren, Konkurrenz bekämpfen, beseitigen oder einverleiben. Er muss sich immer wieder neue Märkte erschließen, um nicht in die Rezession zu geraten. Das hat jahrhundertelang durch die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, durch verbrecherische, völkerrechtswidrige Eroberungskriege, Regierungsumstürze und Farbrevolutionen einigermaßen gut funktioniert. Solange sich der Rest der Welt das gefallen ließ.
Mit der zunehmenden Eindämmung der Einflusssphäre des Westens, verringert sich der Wirkungskreis seines menschenverachtenden Geschäftsmodells „rauben, plündern, morden“ immer mehr.
Zwar versucht der kollektive Westen alles in seiner Macht stehende zu tun, um den eigenen Verfallsprozess aufzuhalten. Das sehen wir an seinem zerstörerischen Wirken in Moldawien, in Armenien, Georgien und nun auch verstärkt in der Mongolei. Aber der zunehmende Überlebenskampf des Westens um seine Einflusszonen, wirkt sich jetzt immer mehr auf den europäischen Raum, auf die EU selbst und ihre Randgebiete aus.
Die EU ist ein Modell, das auf dem Prinzip der Marktbeherrschung durch die starken, westeuropäischen Industrienationen beruht, allen voran Deutschland und Frankreich. Bei allen EU-Erweiterungen ging es nie darum, gleichberechtigte Verhältnisse zwischen den alten und den neuen EU-Mitgliedern herzustellen. Es ging immer nur darum, mit jedem neuen EU-Mitglied den Markt für die führenden, westlichen Industrienationen zu erweitern.
EU-Erweiterung bedeutet deshalb immer Wirtschaftsaufschwung für die EU-Kernländer und Wirtschaftsabschwung für die Neuzugänge der EU. Das hat Ungarn zuerst verstanden und seine eigene Wirtschaftspolitik darauf ausgerichtet, sich nicht allzu abhängig von der EU und seinen Führungsnationen zu machen. Im Gegensatz zu ihren Regierungen verstehen das auch immer mehr große Bevölkerungsgruppen, vor allem in den osteuropäischen EU-Ländern.
Viele Menschen in den osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten und in den Ländern, deren Regierungen in die EU wollen, merken, dass es für ihre nationale Wirtschaft und damit für sie selbst nicht von Vorteil ist unter den vorherrschenden Rahmenbedingungen zur „Europäischen Union“ zu gehören. Dieser Interessenunterschied zwischen Bevölkerung und Regierung führt zu immer größeren Spannungen innerhalb europäischer Staaten, wie z.B. in Moldawien, aber auch in Bulgarien. In der Slowakei hat das schon zu einem Regierungswechsel geführt.
Parallel dazu spricht es sich immer mehr herum, dass sich z.B. für die Bewohner der neuen Gebiete der Russischen Föderation innerhalb kurzer Zeit die Lebenssituation verbessert hat, dass zum Beispiel die Infrastruktur, Straßen, Brücken, die Schulen ausgebaut und modernisiert werden. Allmählich verbessert sich ihr Leben, was in den Jahren unter ukrainischen Verhältnissen nicht der Fall gewesen ist. Eher ganz im Gegenteil.
Und nun stelle man sich einmal vor, dass im Ergebnis des 2014 begonnenen Bürgerkrieges, der mittlerweile immer mehr den Charakter eines Krieges zwischen der Russischen Föderation und dem kollektiven Westen annimmt, immer mehr ukrainische Gebiete den Anschluss an Russland suchen, weil sie von dem ukrainischen Regime und der Ausplünderung der Ukraine durch westliche Staaten genug haben.
Man stelle sich weiter vor, die gesamten östlichen und südlichen Gebiete der Ukraine, einschließlich der Regionen Charkow und Odessa, vielleicht sogar bis hinauf nach Kiew, würden sich der Russischen Föderation anschließen.
Auch Transnistrien und Gargausien würden von einer gemeinsamen Grenze mit Russland profitieren.
Das Leben von vielen Millionen Menschen könnte sich verbessern, wenn sie aus der Einflusszone der westlichen Staatsumstürzler und Wirtschaftsplünderer befreit werden würden. Die Signalwirkung auf die Bevölkerungen der osteuropäischen EU-Mitglieder und EU-Beitrittskandidaten wäre enorm und für die westeuropäischen EU-Kernländer und deren Eliten verheerend. Am Ende dieses Prozesses könnte der Zusammenbruch der EU stehen.
All das ist der Hintergrund der Überlegungen von Präsident Macron, was das Engagement Frankreichs in der Ukraine angeht. Macron will das Schlimmste für die französischen Eliten verhindern. Das kann er eigentlich nur, wenn er den eben geschilderten Prozess aufhält. Und das geht nur mit Waffengewalt. Das ist ihm durchaus bewusst.
Da die Ukraine ihrer Aufgabe immer weniger gewachsen ist, für die Interessen der westlichen Führungsnationen, insbesondere der USA und ihrer EU-Vasallen, Russland zu besiegen, bleiben den westlichen Eliten hauptsächlich nur drei Möglichkeiten.
Möglichkeit eins: sie schaffen mehrere neue „Ukraine“, z.B. in Moldawien, Armenien, Georgien, der Mongolei, um doch noch ihr Ziel zu erreichen, Russland zu zerschlagen und seine Ressourcen unter sich aufzuteilen.
Möglichkeit zwei: Wenn Variante eins nicht erreicht werden kann, müssen die westlichen Staaten den Krieg in der Ukraine wenigstens einfrieren, um das restliche ukrainische Staatsgebiet, wie vorher mit Hilfe der Minsk-Verträge, für einen späteren, erneuten Krieg gegen die Russische Föderation aufzurüsten.
Möglichkeit drei wäre, nach dem sehr wahrscheinlichen Sieg Russlands in der Ukraine das Eingeständnis der endgültigen Niederlage der westlichen Hegemonie und ein Friedensvertrag mit der Russischen Föderation, was unweigerlich einen Macht- und Reichtumsverlust der westlichen Eliten bedeuten würde.
Das will Macron mit aller Macht verhindern. Deshalb überlegt er, Truppen in die Ukraine zu schicken, um das Schlimmste, den Anfang vom Ende des westlichen, expansiven, totalitären Radikalkapitalismus zu verhindern. Aber dieses Szenario gleicht einem Himmelfahrtskommando.
Keinem westeuropäischem Staat, auch keiner westeuropäischen Staatenkoalition ist es jemals gelungen, Russland zu bezwingen. Die Chancen für einen solchen Sieg sind heute nicht besser als in den vergangenen Jahrhunderten. Das verstehen sogar viele westliche Eliten. Deshalb haben sich eine ganze Reihe westlicher Staaten sehr beeilt zu erklären, dass sie nicht bereit sind, Truppen in die Ukraine zu schicken, denn das würde unweigerlich den dritten Weltkrieg bedeuten, aus dem keine Sieger hervorgehen werden, sondern nur Verlierer.
Stellt sich die Frage, wie sich die USA, die selbsterklärte Weltmacht und Führungsnation der westlichen Welt in dieser Frage positioniert.
Mein Eindruck schon seit geraumer Weile ist, dass sich die Eliten der USA durchaus des Endes der unipolaren Welt unter ihrer Herrschaft bewusst sind. Ihr weltweiter Einfluss schwindet immer mehr. Immer weniger Staaten wollen sich weiter der westlichen Hegemonie unterwerfen und wirtschaftlich ausplündern lassen. Mit der weltweit abnehmenden Einflusssphäre, verlagert die USA notgedrungen den Konkurrenzkampf um die Erweiterung ihres Marktes immer mehr auf die Territorien ihrer ehemals engsten Vasallen, vor allem in Westeuropa. Dafür setzen sie auf radikale Maßnahmen.
Die Sprengung der russischen Gasleitungen in der Ostsee war ein wichtiger Schritt, um russische Marktanteile in West- und Mitteleuropa zu eliminieren. Auch die westeuropäische Landwirtschaft verliert auf ihrem eigenen Territorium immer mehr Marktanteile, vor allem durch die ukrainische Konkurrenz, die allerdings gar keine ukrainische, sondern in Wahrheit eine US-amerikanische Konkurrenz ist.
Denn nach dem hauptsächlich von den USA finanzierten und orchestrierten Staatsstreich in der Ukraine 2014, wurde durch das illegitime Kiewer Regime die ukrainische Verfassung geändert. Dadurch wurde es möglich, Grund und Boden an ausländische Investoren zu verkaufen. Ganz im Interesse des Finanzkonzerns Black Rock, der riesige Landstriche übernommen hat und mittlerweile die ukrainische Landwirtschaft beherrscht.
Die Eliten der USA erweitern also ihren Marktanteil in der EU auf verschiedensten Gebieten, einschließlich der Abwerbung mächtiger Unternehmen und Industriezweige, denen aufgrund der durch die Sprengung der Gasleitungen in der Ostsee und der Einfuhr des viel zu teuren US-amerikanischen Fracking Gases, eine rentable Produktion unmöglich gemacht wurde.
Die USA bluten also die Volkswirtschaften ihrer engsten „Verbündeten“ ganz bewusst aus, um damit ihre eigene Wirtschaft zu stärken, nachdem sie durch die selbst voran getriebene Globalisierung zuvor sehr viel eigene Wirtschaftskraft verloren haben.
Damit bereiten sich die amerikanischen Eliten sehr bewusst und radikal auf die neue, multipolare Weltordnung vor, mit „America first“, die Stärkung und den Wiederaufbau ihrer eigenen nationalen Wirtschaft zulasten ihrer früheren „Verbündeten“.
Das heißt nicht, dass die USA nicht weiter auf die militärische Karte setzen. Allerdings möchten sie, wie bei den beiden vorangegangenen Weltkriegen, ihr eigenes Territorium aus einem solchen Szenario heraushalten.
Womit wir wieder bei Frankreich und den Ambitionen von Präsident Macron auf ein militärisches Abenteuer in der Ukraine sind.
Seit zwei Jahren wird das Weiße Haus nicht müde zu betonen, dass die USA, falls zum Beispiel Polen, aber eben auch Frankreich Truppen in die Ukraine schicken, die USA dies nicht als einen Bündnisfall der NATO und damit der USA betrachten würden. Die Truppenverlegung einer „Koalition der Willigen“ in die Ukraine wäre aus Sicht der USA einzig und allein eine Angelegenheit der daran beteiligten Staaten und würde keinesfalls den Kriegseintritt der USA bedeuten.
Unterm Strich heißt das, die USA halten selbstverständlich weiter an ihrem Hauptziel, der Vernichtung Russlands und der Aneignung seiner Ressourcen fest. Allerdings, nicht auf eigenes Risiko.
Wenn die Ukraine, und das ist abzusehen, bis zum letzten Ukrainer gekämpft hat, sind die USA bereit, anschließend bis zum letzten Polen, bis zum letzten Balten, bis zum letzten Tschechen oder auch bis zum letzten Franzosen zu kämpfen, nicht nur mit dem Ziel, Russland zu schwächen, sondern auch, um am Ende die EU-Konkurrenz zu vernichten und den nach Kriegsende verbleibenden EU-Restmarkt komplett zu übernehmen.
Ein düsteres Szenario für die EU, ihre Eliten und vor allem ihre Bevölkerung.
Wie wird sich Macron also entscheiden? Ihm sollte bewusst sein, dass er nicht viel Spielraum hat. Entsendet er keine Truppen in die Ukraine, könnte das Ende der Hegemonie der westlichen EU-Kernländer schneller kommen, als es deren Eliten lieb ist. Entsendet er Truppen, ist ihr Sieg gegen Russland genauso unwahrscheinlich, wie der Sieg Napoleons von Anfang an unwahrscheinlich war. Riskiert er trotzdem den Einmarsch in die Ukraine und tausende Särge kehren nach Frankreich zurück, könnte das endgültig einen Aufstand der ohnehin schon rebellischen französischen Bevölkerung auslösen, mit einem anschließenden Sturz der noch herrschenden französischen Eliten. Ein durchaus wahrscheinliches Szenario.
In einer solchen Situation kann man, im Interesse aller betroffenen Bevölkerungen nur hoffen, dass dem französischen Präsidenten ein Rest Verantwortungsbewusstsein und Patriotismus geblieben ist und er die Finger vom ukrainischen Abenteuer lässt.