Über die Qualität der Songs und der Show eines Eurovision Song Contestes, braucht man seit mindestens 20 Jahren kein Wort mehr zu verlieren. Auch die Ausgabe 2024 im schwedischen Malmö lässt sich mit einem Wort schnell umfassen: Grotesk. Männer mit Lidschatten, in flockigen Fummel, dazu billigste, von einer auf Sparflamme arbeitenden KI kreierte Klänge und ganz viel Regenbogen-Pride: Die Conteste gleichen sich Jahr für Jahr bis aufs rosa gefärbte Haar. Zumindest auf der Ebene dessen, was Optimisten »Kunst« nennen. Politisch hat der Wettbewerb in den letzten Jahren aber an Fahrt aufgenommen. Die Europäische Rundfunkunion (EBU), die den Contest veranstaltet, gibt sich allerdings Mühe, den unpolitischen Verputz nicht bröckeln zu lassen. Ihr Engagement in dieser Sache ist aber von Doppelmoral getragen.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente
In diesem Jahr hat man das besonders gespürt. Der ESC schien schier zu zerreißen. Grund war die israelische Teilnahme. Etliche Proteste und Demonstrationen, die schon Tage zuvor durch Malmö zogen, forderten die EBU dazu auf, den israelischen Beitrag nicht zuzulassen. Mit Blick auf das, was in Gaza geschieht, könne man nicht so tun, als sei Israel innerhalb der Staatengemeinschaft geachtet.
ESC setzt ein kleinliches Zeichen gegen Gewalt
Bereits am Freitag wurde dann bekannt, dass der niederländische Beitrag disqualifiziert wurde. Joost Klein, so der Name des niederländischen Interpreten, hatte sich am Donnerstagabend im zweiten Halbfinale für die Show am Samstagabend qualifiziert. Eine »Handgeste« führte jedoch dazu, dass die EBU handelte und den Beitrag ausschloss. Joost Klein habe sich hinter den Kulissen der Gewaltandrohung schuldig gemacht – konkreter wurden die Vorwürfe nicht. Der niederländische Sender AVROTROS nannte die Entscheidung der EBU unverhältnismäßig.
Vor dem politischen Hintergrund des Wettbewerbes, den es laut EBU nicht gäbe, weil Politik grundlegend ausgeschlossen sei, mutet diese Entscheidung geradezu lächerlich an. Eine Drohung, über die wenig bis nichts bekannt zu sein scheint, führt zum Ausschluss. Das systematische Töten von weit über 30.000 Menschen, darunter fast 15.000 Kinder, berechtigt aber weiterhin zur Teilnahme. Noch ist offiziell nicht sicher, ob die internationale Staatengemeinschaft den Krieg in Gaza als einen Völkermord einordnen wird oder nicht – aber grundsätzlich ausgeschlossen ist das nicht. Ein vielleicht rabiater Musiker ist dem Publikum also unzumutbar – aber eine Nation, die offen und zu jedem Preis Vergeltung übt, soll man ertragen können?
Die EBU handelt mit ihrer Entscheidung genau so, wie ihre Shows alle Jahre wieder sind: Grotesk. In der Halle selbst erntete Israel Buh-Rufe. Bei der Punktevergabe wurde jedes Land, das Israel mit Punkten bedachte, niedergeschrien. Der deutsche Kommentator Thorsten Schorn bemühte sich, die Unmutsbekundungen indes zu glätten: Es soll doch ein fröhlicher Wettbewerb sein. Dergleichen las man Tage vorher schon in der Frankfurter Allgemeinen (FAZ): Ein »friedliches Fest« sei in Schweden zu feiern, mahnte die Tageszeitung oberlehrerhaft. Politik sollte folglich bitte schweigen, wenn wir Feste zu feiern gedenken.
Nur ein unpolitischer Wettbewerb?
Joost Klein soll indes wütend geworden sein, weil er gegen seinen Willen hinter den Kulissen gefilmt wurde. Unter Umständen hat er sich aber aufgeregt, weil er am Samstag gleich nach dem israelischen Beitrag auftreten sollte, meldet indes 20 Minuten aus der Schweiz. Wurde unter Umständen ein Exempel statuiert, nachdem der EBU klar wurde, dass der diesjährige Wettbewerb zu einem Desaster werden könnte? Mehrere Musiker hatten sich im Vorfeld mit den antiisraelischen Protesten solidarisiert. Island, Finnland und Norwegen drohten sogar, den Wettbewerb zu boykottieren. Ob die EBU die Causa Joost Klein nutzte, um ein für alle Mal Stärke zu mimen, steht als Vorwurf mindestens im Raum.
Dass der ESC unpolitisch sein soll, wie die EBU immer wieder betont, bedarf zur Entkräftung nun wirklich keiner großen Kennerschaft des Song Contestes. Vor zwei Jahren wurden Russland bis auf weiteres vom Wettbewerb ausgeschlossen. Die Gründe sind hinlänglich bekannt. Am Ende erhielten die Ukrainer, die von den Wertungen der nationalen Jurys nur bescheiden mit Punkten bedacht wurden, eine grotesk hohe Punktwertung seitens des europäischen Publikums.
Just in dem Moment musste allen klar sein, dass an diesem Abend nicht das beste Lied gewonnen hatte – ohnehin ein euphemistisch verfasster Wunsch, bei der Fülle an musikalischer Gülle, die bei diesem Wettstreit immer wieder ausgebracht wird. Es war den Veranstaltern damals klar, dass die Ukrainer aus politischen Gründen, nenne man es Mitgefühl oder Solidarität, als Sieger die Bühne verlassen durften. Dennoch bemühte sich die EBU, das Resultat als unpolitisches Votum zu verkaufen. Wenn die Parole der EBU stimmt und ein Liederwettbewerb unpolitisch an die Menschlichkeit appellieren könne, wenn also »ein Lied eine Brücke sein kann«, um einen bekannten Wettbewerbsbeitrag Deutschlands aus den Siebzigern zu zitieren: Warum schloss man dann Russland aus?
Das woke Schaufenster
Natürlich glaubt man den eigenen Parolen nicht, weswegen man sich politisch instrumentalisieren lässt und je nach Vorgabe ausschließt – oder eben zulässt, wie im aktuellen Falle Israels. Und deswegen reicht die Handbewegung eines Interpreten aus, um ihn zu sperren, während ein Land, das von der Handbewegung eines Ministerpräsidenten gesteuert wird, der sein politischen Überleben zu einer Überlebensfrage der Palästinenser werden lässt, ohne viel Federlesens weiter dabei sein darf.
Trotz wütender Proteste auch am Veranstaltungsabend gab es vom europäischen Publikum reichlich Punkte für Israel – und ebenso für die Ukraine. Die Jurys hatten deren Beiträge weitestgehend verschmäht. Wieder mal hat das ESC-Publikum so votiert, wie es die Regierungslinie dieses Europas voraussetzt in seinem Weltanschauungskampf gegen Russland. Der ESC hat sich im Laufe der letzten 20 Jahren zu einem Schaulaufen identitätspolitischer Kuriositäten entwickelt. Vormals ein seriöser Wettstreit von Interpreten, mauserte er sich mit Beginn der 2000er-Jahre zu einem LGBTQ-Schaufenster. Der diesjährige Wettbewerb war, neben seinen politischen Ausreißern, ein Paradebeispiel für diese Regenbogeninszenierung.
2023 inszenierte man in Liverpool, dort wurde der ESC für die Ukraine ausgetragen, eine große Zurschaustellung der eigenen Weltoffenheit. Interpreten, Moderator und andere marschierten geschlossen auf die Bühne und sangen laut den Gassenhauer »You’ll never walk alone«. Adressiert war diese Choreographie an Waldimir Putin und Russland. Das typische ESC-Publikum ist ein erwachtes – ein wokes. Es feiert sich selbst als brutal weltoffen und aufgeklärt, als friedlich und zutiefst menschlich. Der Wettbewerb preist sich jährlich neu für seine Werte und Qualitäten – und verrennt sich in der regierungsnahen Politisierung, die freilich von der EBU zu kaschieren versucht wird. Dass die Russen indes froh sind, diesem Spektakel nicht mehr beiwohnen zu müssen, lässt sich als Behauptung nicht beweisen – aber vorstellen.
Zum Autor: Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Seit 2017 ist er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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