Geschichte ohne Vorgeschichte
Als die Russen 1945 Deutschland überfielen, traf es die Deutschen aus heiterem Himmel. Was hatten sie nur verbrochen?
Eine Glosse von Roberto De Lapuente.
Im Osten Berlins wurde mehr zerstört als im Westen der Stadt. Denn die Russen kamen aus dieser Richtung. Am 21. April 1945 passierten sie die Stadtgrenze. Keiner hat das vorher kommen sehen. Plötzlich waren sie da. Mit ihren Panzern und Divisionen. Es war wie ein Überfall. Die Stadtbevölkerung war wie vor den Kopf gestoßen. Sie hatte damit nicht rechnen können. Die Russen walzten sich vom Osten kommend durch die Straßen und Gassen.
Auf der heutigen Bundesstraße 2 betrat die Rote Armee Berlin. Dann zog es sie weiter in Richtung Marzahn. Marschall Georgi Schukow rückte von Nordosten auf die Stadt vor. Ihm unterstand die Erste Weißrussische Front. Von Südosten aus griff Marschall Iwan Konews Erste Ukrainische Front die Stadt an. Stadtteil für Stadtteil eroberten die russischen Angreifer die Reichshauptstadt.
Ein friedfertiges Volk – einfach überfallen
Für die Berliner und die Deutschen kam der Angriff überraschend. Warum nur taten die Russen das den Berlinern an? In etwas mehr als zwei Wochen unterwarfen sie die gesamte Metropole. Am 2. Mai 1945 war Berlin in russischer Hand. Soldaten der Roten Armee hissten die Sowjetfahne auf dem Dach des Reichstages. Das Deutsche Reich fiel in sich zusammen. Es wurde wie aus dem Nichts überfallen. Überrumpelt vom Eroberungsfeldzug der Sowjets und Stalins mörderischen Drang nach Westen.
Die Deutschen wehrten sich so gut es ging. Sogar Kinder und Greise griffen zu den Waffen. Aber die Russen fackelten nicht lange, sie marodierten durch die Stadt – durch das, was davon übrig war. Wer sich ihnen in den Weg stellte, musste sterben. Barbarisch nahmen sie sich das, was sie sich als ihnen zuzustehend glaubten. Gegen die Übermacht aus Osteuropa konnte das kleine Deutschland nichts ausrichten. Berlin war zwangsläufig verloren. Das war neutralen Beobachtern von Anfang an klar – aber leidenschaftlich warfen sich die unterlegenen Berliner den Okkupanten entgegen.
Hilfe aus dem Ausland ereilte Berlin nicht. Im Gegenteil, es sah tatenlos zu, wie die Russen nach Westen expandierten und alles niederwalzten, was sich ihnen in den Weg warf. Wirklich niemand konnte damit rechnen, dass am 21. April 1945 der Angriff erfolgen würde. Die Berliner erlebten bis zu diesem Tage einen schönen Frühling, sie bummelten durch die Straßen und bevölkerten Cafés, lasen Zeitung und verspeisten Schokoladeneis. Ein friedfertiges Volk – einfach so überfallen. Was hatten die Deutschen nur verbrochen?
Vorgeschichte? Was ist das denn?
Wie meinen Sie? Hier wird Geschichtsklitterung betrieben? Verleugnung der Tatsachen? Anzeige ist raus? Nun gut, wahrhaftig zugegeben, Sie haben selbstverständlich völlig recht: dem Autor dieser Zeilen ist vermutlich die gesamte Vorgeschichte entfallen. Wie konnte ihm das bloß passieren? Die Geschichte fing ja gar nicht jenem Apriltag 1945 an. Sie setzte vorher ein. Spätestens am 22. Juni 1941 – damals überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Unternehmen Barbarossa nannte sich der bestialische Kampf um Lebensraum im Osten. Es handelte sich um einen Vernichtungsfeldzug. Verbrechen gegen die Menschlichkeit kamen nicht einfach so vor, waren nicht etwa Kollateralschäden – nein, sie hatten System, sie sollten geradezu sein. Das war die Order aus Berlin, dem Obersalzberg und der Wolfsschanze.
Als die Russen im Frühling 1945 in Berlin angelangten, überfielen sie die Stadt nicht etwa. Sie hatten ihren Befreiungskampf erfolgreich absolviert. Anfangs sah es nicht danach aus – die Wende kam mit Stalingrad. Der Große Vaterländische Krieg war ausgefochten, als die Russen Berlin nahmen. Sie waren nicht mehr unter deutscher Knute. In Berlin kämpften sie gegen die versprengten Reste der deutschen Armee – und gegen Zivilisten, denen man Gewehre in die Hand drückte und die den Widerstand nicht verweigern konnten, wollten sie nicht an Ort und Stelle von den letzten fanatisierten SS-Schergen erschossen werden.
Kurz und gut, dem Autor ist am Anfang dieses Kommentars die Vorgeschichte glatt entfallen. Aber Sie müssen ihm das verzeihen: Das ist die Macht der Gewohnheit. Seit einiger Zeit ist es nämlich Usus in Deutschland, auch in weiten Teilen der westlichen Welt, Vorgeschichten einfach mal zu ignorieren. Am 24. Februar 2022 sind die Russen zum Beispiel völlig überraschend in der Ukraine einmarschiert. Man muss das nun wirklich nicht für lobenswert erachten: Aber überraschend war es nicht – die Motive lagen seit mindestens 2014 auf dem Tisch.
Szenenwechsel: Israel. Am 7. Oktober 2023 überfiel die Hamas israelisches Gebiet und überzog die israelische Zivilbevölkerung mit Terrorismus. Auch hier gilt: Das war absolut kein Akt, der dazu angetan ist, gefeiert zu werden. Aber aus dem Nichts geschah dieser Überfall ganz sicher nicht. Dennoch tat man so in Medien und Politik – und zwar in beiden Fällen. Die Vorgeschichte scheint aus der Mode gekommen. Man schneidet sie ab, wie überschüssiges Papier jenseits der gestrichelten Linie. Dass da mal mehr Papier war: Plötzlich erinnert sich keiner mehr. Hätte man das schon am 21. April 1945 so gehandhabt, die Geschichtsschreibung sähe so verquer aus, wie in den ersten Zeilen dieser Glosse.
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