Bücher sollen klimaschädlicher sein als E-Books. Das behauptet jedenfalls eine Ökobilanz, die es vielleicht in dieser verdummenden Form nicht gäbe, wenn alle mehr Bücher lesen würden.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Vielleicht hat der eine oder andere ein solches Tête-à-Tête ja schon mal erlebt: Zwei Menschen in Leidenschaft kommen sich näher und noch näher, verlieren immer mehr einhüllenden Zwirn, legen in manischer und leicht hektischer Verzückung die Beinkleider ab und dann sagt plötzlich die eine Person zur anderen: »Du übrigens, was wir hier erleben ist die reinste Biochemie, mein Oxytocin strömt, deine Neurotransmitter heizen deine Paarungsbereitschaft auf – und ohne meine Endorphine wäre ich jetzt wohl wirklich viel weniger glücklich.« Wem die Erregung nicht umgehend aus den Gliedern fährt, weil diesem mystischen Akt menschlicher Anziehungskraft schlagartig das Geheimnisvolle entzogen wurde, muss ein ziemlich notbedürftiger Klotz sein.
An so ein Szenario dachte ich, als ich Dieter Sürigs Bericht in der Süddeutschen Zeitung las, warum das gedruckte Buch für die Umwelt schädlicher sein soll als das E-Book. Über das Lesen eines Buches könnte man so viel zum Besten geben: Sei es die Haptik einer Papierseite, sei es der Geruch des Bedruckten oder die Freude vor einer Bücherwand zu stehen und all diese Papierseiten voller Weisheit oder doch wenigstens Unterhaltung vor sich zu wissen. Oder man hätte darüber sprechen können, welche Beglückung es darstellt, Seiten zu blättern, vermerkte Seiten wiederzufinden, mit Bleistift unterstrichene Sentenzen zu erblicken, die einem vielleicht mal wichtig waren und noch sind, auch wenn sie einem entfallen waren. Das alles geht, um im Bild zu bleiben, dem sich die einleitenden Sätze verschrieben haben, mit einem durchaus erotischen Grundgefühl einher – eines, das sich digitalisiert nicht simulieren und aufbereiten lässt.
Kampf dem Analogen
Die Stiftung Warentest war es: Sie hat die Ökobilanz dieser beiden Medien begutachtet. Auf der Website der Stiftung flankiert man den kostenpflichtigen Beitrag mit einem Bild, auf dem zwei Frauen auf einem Sofa lümmeln – eine liest ein Buch, die andere ein E-Book. Drunter zu lesen: »… eine der beiden Frauen liest deutlich umweltschonender als die andere«. Das stimmt: Die Frau mit dem Buch »aus Fleisch und Blut«, was aus Papier und Kartonage bedeutet, liest viel klimabewusster. Sie muss ihr Buch nicht dann und wann an eine Steckdose anschließen und neu aufladen. Dass diese Frau aber nicht gemeint ist, dürfte sachkundigen Lesern klar sein: Denn die Stiftung Warentest bricht hier eine Lanze für das E-Book.
Bevor wir uns überhaupt auch nur mit der Entstehung von Büchern und E-Books befassen wollen – in aller Kürze, wer mehr wissen will, Sürig reitet ausreichend darauf herum –, nur eine Sache: Dass man hier zwei Produkte gegenüberstellt, von dem eines noch nicht mal einen deutschen Namen verliehen bekam, sondern einen dieser grenzdebilen angelsächsischen Termini trägt, der unglaublich originell abkürzt und wichtigtuerisch klingt, zeigt schon mal auf, um was es diesem Produkt mitnichten geht: Um Wissensdrang, um Gelehrsamkeit oder Stil – denn das Elektrobuch macht auf Lifestyle, nicht auf Leidenschaft. Dass letzteres jetzt besser abschneiden soll, zeigt viel von dem Drang, jetzt dem Digitalen den großen Vorzug vor dem Analogen zu geben.
Vergessen wir bitte nie, gerade dann nicht, wenn jemand Ökobilanzen prüft, dass wir unser aller Dasein in einer Zeit fristen, in der dem Analogen der Ruch des Veralteten, des Fortschrittsverweigernden und damit auch dem Querulantischen anhaftet. Wer heute politisch von sich Reden, wer als politisch verlässlich gelten will, ächtet die altbewährten Mittel und Muster – und singt ein Hohelied auf die Modernisierung und damit auf die Digitalisierung und die »Entstofflichung der Welt«.
Die Absicht jeder Ökobilanzierung ist immer einseitig
Das heißt natürlich nicht, dass die Stiftung Warentest parteiisch bewertet hat – dergleichen kommt in der deutschen Presselandschaft nicht vor. Objektivität und Unvoreingenommenheit sind von jeher die Säulen deutscher Servicemagazine. Von A wie ADAC-Motorwelt bis A wie Apotheken Umschau: Unparteiische Qualitätserzeugnisse sind Deutschlands journalistisches Rückgrat. Gehen wir also ruhigen Gewissens von der Seriosität dieser Ökobilanzierung aus. Die Journalisten, denen übrigens – siehe Website – ein Faktenchecker zur Seite gestellt wurde, haben sicher frei von möglichen Zielvorgaben gearbeitet. Der Faktenchecker überwacht die journalistische Arbeit sicherlich nur neutral – Arbeitsteilung ist das Stichwort, denn früher waren Journalisten Leute, die Fakten prüften. Täuschen können sich die Macher der Bilanz ja trotz Blockwart – zumal schon alleine die Bilanzierung des ökologischen Bedarfes ein ziemlich einseitiges Unterfangen darstellt.
Wir wissen freilich, dass die Produktion von Papier ressourcenintensiv ist und viel Energie benötigt. So ein Elektrobuch aber durchaus auch. Seltene Erden werden verbaut – und die werden, was nicht in der Ökobilanz zu finden sein wird, unter brutalsten Bedingungen von Menschen geschürft, denen man zwecks besserer Motivation auch noch Menschenschinder vor die Nase setzt. Faktenchecker gewissermaßen, die den Fakt überprüfen wollen, ob die jungen Nachwuchskräfte auch ausreichend schuften. So ein geknechteter Arbeiter, sei er noch so jung, findet in der Ökobilanz gar nicht statt. Und wenn doch, dann vielleicht sogar als positiver Aspekt, denn alt wird der arme Kerl freilich nicht – und wer früher stirbt, der ist nicht nur länger tot, der belastet auch nicht länger den Planeten mit all seinen Lebens- und Wohlstandsansprüchen, die sich dann in solcherlei Bilanzierungen niederschlagen würden.
Aber überhaupt: Will man uns weismachen, dass die Herstellung von Papier, eine Tätigkeit und Kunst, die die Menschheit seit ungefähr 2.000 Jahren ausübt, am Ende schädlicher sein soll, als die Herstellung eines elektronischen Lesegerätes, das – wir kennen unsere findigen Köpfe aus der Industrie – mit einer eingepreisten Obsoleszenz ausgestattet sein dürfte? Bauen Sie aus Holz, sagte man mal, denn Holz ist ein Naturprodukt – das Buch ist so ein Produkt aus Holz. Das Elektrobuch bzw. der dazugehörige Reader jedoch nicht – jedenfalls ward noch keiner aus Holz gesehen. Wenn es auf dem Müll landet, liegt es da etliche tausend Jahre – das Buch nicht, es zersetzt sich eher früher als später oder wird von Ratten gefressen. Die Ökobilanz der Stiftung Warentestgeht offenbar vom ewigen Leben von E-Book-Readern aus. Wie viele Mobiltelefone die zuständigen Journalisten wohl schon besessen haben?
Sexy Bücherregale
Es kann ja auch sein, wie es der Beitrag der Stiftung vermitteln will, dass Menschen Bücher im Schnitt zweimal lesen, bevor sie es in Altpapier werfen. Aber zunächst mal: Altpapier klingt anders, viel freundlicher und umweltbewusster, als der Plastikmüll, auf dem diverse andere Produkte landen, wenn man sie entsorgen möchte. Es ist jedenfalls um Längen leichter, entsorgtes Papier zu recyceln, wie man im Althochdeutschen sagt, als aus einem nutzlosen Kunststoffkasten ein ganz neues Produkt zu kreieren. Aber Menschen werfen Bücher gar nicht so grundsätzlich weg, wie die Ökobilanzexperten der Stiftung Warentest vielleicht annehmen. Manche finden Bücherregale richtig sexy – und dort landen vor allem Bücher, die sie bereits gelesen haben. Manche stellen ihre alten Bücher auch in Büchervitrinen, die es in vielen Orten gibt – dort kann man sich die aussortierten Exemplare anderer Leute kostenlos mitnehmen: E-Book-Reader habe ich da noch nie gesehen. Und ob es wohl jemals eine Börse für Elektrobücher gibt, sprich also für Dateien?
Anders gesagt: Das Buch ist um Längen sozialer, als es ein Elektrobuch je sein könnte. Man kann es mit denen teilen, die sich weniger leisten können – im Grunde haben wir hier Parallelen zur Bargeldabschaffung, einer Verschwörungstheorie, ich weiß. Schrecklich, dass sich Zentralbanken in diesem Verschwörungssumpf hineinziehen lassen. Das ist ein anderes, aber zugleich dies betreffendes Thema, das den Rahmen sprengt. Es geht um die Abschaffung eines analogen Grundrechtes auf allen Ebenen. Antiquariate gibt es noch – sie tun sich freilich schwer, existieren aber hier und da. Dort findet man Bücher, die ziemlich alt sein können. Ob es je Antiquariate geben wird, die Elektrobücher verkaufen werden?
Aber wofür sollten solche Läden auch gut sein? Heute gibt man in der Suchmaschine der betreffenden Software einfach Begriffe ein und bekommt allerlei serviert. Dem Leser steht also alles offen, Überraschungen werden seltener. Im Zeitalter des Buches fand man immer mal wieder einen kleinen Verlag, der interessante Bücher publizierte oder einen spannenden Autor, der unterhaltsam schrieb und gleichzeitig auch etwas zu vermitteln hatte und den man vorher noch nicht kannte. Es gab einfach keine Suchfunktion – es gab nur die Suche. Heute fasst einem eine Applikation Leseempfehlungen zusammen. Wer es dann noch lesen will, ein Klick und alles ist da. Wo ist da die Spannung, das Prickeln, die Vorfreude auf ein Buch, das man bald in Händen halten wird, nachdem man in der Buchhandlung nochmal gestöbert hat? Wo bleibt der Kick, etwas zu finden, mit dem man nie und nimmer gerechnet hätte? Das Digitale schafft den Zufall ab – schrieb auch neulich Ulrike Guérot in ihrem neuen Buch. Und vor allem ist die Digitalität ein Generalangriff auf die Spontanität.
Das Gewicht des Buches
Den Verlust von Lebensqualität erfasst eine Ökobilanz auch nicht. Wer rein nach ökologischen Parametern taxiert, erfasst nichts von der Gesamtheit, die jedem Ding zugrunde liegt. Wer beim Vorspiel, wie eingangs dargelegt, nur die Biochemie im Kopf hat und sich selbst nur als biologischen Apparat begreift, der ist zwar auch ein Mensch: Aber alles Menschliche scheint ihm fremd. Man darf bei dieser Arbeit der Stiftung Warentest durchaus auch an der Bilanz des Ökologischen selbst zweifeln – zu fingiert scheinen die Argumente und zu deutlich gewisse Ausblendungen.
Aber auch abseits der Einseitigkeit ökobilanzierender Vorhaben gäbe es Fragen, die gestellt werden müssen: Zentral wäre natürlich, was dieses Lesen eigentlich ist. Wer macht es noch? Und wie bekommen wir wieder mehr Menschen dazu, sich Büchern zu widmen? Das Elektrobuch wirkt nicht wie die Antwort auf diese Fragen. Immer wieder hört man zwar, dass E-Book-Reader es nun möglich machten, unzählige Bücher mit in den Urlaub zu nehmen, aber das ist eigentlich nur ein Marketingspruch. Als ob zwei, drei Taschenbücher im Koffer ein Hemmnis waren – und wer liest schon mehr in ein, zwei Wochen Urlaubsaufenthalt? Wer vorher kein Buch dabei hatte, wird jetzt auch nicht zum Leser werden – E-Book-Reader sind kein Argument, um jetzt mit dem Lesen zu beginnen. Das Gewicht von Büchern: Das ist eine Ausrede von Leuten, die stumpf genug sind, auch ohne ein Buch stundenlang auf einem Liegestuhl zu brennen.
So ein Urlaub könnte ja an sich die analogste Zeit des Jahres sein. Das stinkt denen, die mit der Digitalität ihr Geld verdienen und denen, die mit ihr die Menschheit verwalten wollen, schon mal ganz grundsätzlich. Verbieten kann man im Augenblick das Analoge nicht – noch nicht. Wir leben ja in »unserer Demokratie«. Aber Ökobilanzen erzeugen Sachzwänge und rechtfertigen unorthodoxe Vorgehensweisen. Ich weiß schon, alles Verschwörungstheorie – ganz perfide Verschwörungstheorie! Wenn es diese Verschwörungstheorie nur noch in digitaler Form zum Nachlesen gibt, kann man sie jedenfalls leichter in die vertrauensvollen Hände eines Sachbearbeiters des Wahrheitsministeriums geben, als wenn sie auf Papier geschrieben steht. Denn in irgendeinem Regal überdauert sie dann die Zeiten. Und während andere gerade ihren sechzehnten E-Book-Reader kaufen mussten, steht das toxische Buch immer noch im Regal herum. Tolle Ökobilanz! Oder fast schon: Ökobrillanz!
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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