In den vergangenen Wochen, wahrscheinlich bedingt durch das Ende des ersten Quartals und die bevorstehenden Europa- und Kommunalwahlen, häuften sich in den staatlichen Nachrichten und assoziierten Social Media Accounts Siegesmeldungen über die Erfolge der Energiewende, typischerweise nach dem Muster, ‚gestern Nachmittag zwischen 11:35 Uhr und 11:47 Uhr wurden 120 Prozent des Stroms erneuerbar hergestellt. Die Strompreise sind so niedrig wie nie und die Kohleverstromung ist auf dem niedrigsten Stand seit dem Ende des Bauernkrieges, also dem von 1525. Und einen Blackout gab es auch noch nicht.‘ Natürlich erkennt man solche Aussagen schon anhand der willkürlich gewählten Zeitfenster als kindische Rosinenpickerei, die von der Gegenseite umgehend mit Daten aus den frühen Abendstunden gekontert werden, die tiefbraune CO2-Bilanzen und gewaltige Importmengen von Kohle- und Atomstrom ausweisen. An solchen Spielen wollen wir uns nicht beteiligen. Aber es ist sicher Zeit für einen nüchternen Blick auf die Entwicklung des Strommarktes in den letzten Jahren.
Eine datenbasierte Einordnung der deutschen Energiewende von Dr. Helge Toufar.
Zunächst betrachten wir die mittelfristige Entwicklung unter besonderer Beobachtung der Erfolge der Ampelregierung. In den fünf Jahren von 2015 bis 2019 lag der Stromverbrauch Deutschlands sehr stabil um die 500 Terawatt-Stunden (TWh) mit einer Schwankungsbreite von nur plus/ minus 1 Prozent. Im Jahr 2020, dem einzigen Coronajahr mit einem nennenswerten Einfluss auf die Industrieproduktion, fiel der Verbrauch um 15 TWh, das heißt, gut 3 Prozent. Um sich im darauffolgenden Jahr 2021 wieder auf 504 TWh zu erhöhen.
Seit dem Regierungswechsel sind die Verbräuche aber systematisch und dramatisch gefallen. Um 4 Prozent in 2022 und weitere 5 Prozent in 2023 auf zuletzt noch 458 TWh. Am Verbrauch der privaten Haushalte lag das nicht, da er sich unverändert im Bereich zwischen 130 und 140 TWh bewegte. Der Minderverbrauch von fast 10 Prozent geht also auf das Konto der industriellen Produktion. Das erstaunt auf den ersten Blick, da doch das Bruttoinlandsprodukt im gleichen Zeitraum um kaum 1 Prozent gesunken ist. Hier ist aber zu bedenken, dass das BIP sich zum überwiegenden Teil aus privatem Konsum und diversen weitgehend immateriellen Dienstleistungen zusammensetzt, die vom Rückgang der Industrieproduktion für den Moment zumindest kaum betroffen sind.
Im Gegensatz dazu ist ein energieintensiver Industriezweig wie die Grundstoffchemie um 20 bis 26 Prozent eingebrochen, woraus sich der verringerte Strom und Gasverbrauch erklärt. Auf der Strom-Produktionsseite stellt sich der Ablauf etwas anders dar. Die Netto-Stromproduktion lag hier in den Jahren 2015 bis 2018 konstant bei 555 TWh, also gut 10 Prozent über dem Verbrauch. Der Überschuss von gut 50 TWh jährlich wurde entsprechend exportiert.
Seit 2019 geht die Stromproduktion immer schneller zurück. Bis 2021 wurden vor allem Kohlekraftwerkskapazitäten, etwa 120 TWh, vom Markt genommen. 2022 23 dann noch 60 TWh Atomstrom. Etwas weniger als die Hälfte dieser Ausfälle wurden durch Erneuerbare aufgefangen, die im gleichen Zeitraum um 80 Stunden zulegten.
2023 endete mit einer Netto-Stromproduktion von 432 TWh, das heißt 22 Prozent weniger als im oben genannten Vergleichszeitraum. Da die Produktion also viel schneller geschrumpft ist als der Verbrauch, wurde gleichzeitig aus einem Exportüberschuss von 50 TWh ein Importbedarf von zehn TWh. So weit, so gut.
Wie wirkt sich das nun auf unsere Treibhausgasbilanz aus?
Wir vergleichen das aktuelle erste Quartal 2024 mit dem ersten Quartal 2019. Das heißt mit dem letzten normalen Jahr. In Übereinstimmung mit den oben genannten Jahreszahlen sank der Stromverbrauch zwischen diesen Quartalen um 7,5 Prozent von 131 auf 121 TWh, die Produktion aber um 19 Prozent von 147 auf 119 Stunden. Dabei legten die Erneuerbaren um 14 Prozent auf 72 TWh zu.
Die Fossilen wurden um 27 Prozent auf 47 TWh abgeschmolzen und die 20 TWh Kernenergie fielen ersatzlos weg. Um das Defizit auszugleichen, wurden aus 18 TWh Export eine TWh Import.
Im Ergebnis generierte dieser Strommix im ersten Quartal 2019 65 Millionen Tonnen CO2 und im ersten Quartal 2024 nur noch 46 Millionen, also etwa 30 Prozent weniger. Das ist toll. Aber im Wesentlichen der eingebrochenen Produktion zu verdanken.
Welchen Beitrag hat nun die Energiewende geleistet?
Um das zu prüfen, machen wir folgendes Gedankenexperiment. Wir versetzen den Kraftwerkspark von 2019 in das erste Quartal 2024. Das heißt, wir behalten die AKW am Netz und verzichten auf alle Neuinvestitionen in Windräder, Solarpanele, Netzausbau und Speicher. Nun senken wir unsere Produktion so weit wie möglich ab. Das heißt, wir passen uns an den niedrigeren Verbrauch an, verzichten auf jeglichen Export und nehmen sogar ein Terawattstündchen Import in unsere Rechnung auf, um den Bedarf von 2024 genau bedienen zu können.
Dann brauchen wir 28 TWh weniger als 2019. Und das ist rein zufällig genau der Betrag, den 2019 die Braunkohlekraftwerke in den Strompool geliefert haben. Wir hätten also in 2024 unter diesen Umständen alle Braunkohlekraftwerke vom Netz nehmen können und hätten dieselbe Strommenge mit nur 31 Millionen Tonnen CO2 hergestellt, das heißt 15 Millionen Tonnen oder 33Prozent weniger CO2 als mit der Energiewende.
Man sieht, die Energiewende, so wie wir sie im Moment betreiben, ist eine tolle Sache. Nur halt nicht fürs Klima.
Dieser Kommentar erschien in Erstveröffentlichung beim Kontrafunk am 16. April 2024. Wir danken für die Genehmigung. Direkter Link zur Sendung mit weiteren spannenden Beiträgen: https://kontrafunk.radio/de/sendung-nachhoeren/politik-und-zeitgeschehen/kontrafunk-aktuell/kontrafunk-aktuell-vom-16-april-2024
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