In Deutschland herrscht Hysterie gegen die Taliban. Ihre Rückkehr an die Macht in Afghanistan im August 2021 wird für alle Missstände im Land verantwortlich gemacht. Deutsche Medien und Spitzenpolitiker haben in den Taliban eine Art diabolischen Gegenspieler ausgemacht. Doch die Wirklichkeit in Afghanistan sieht anders aus.
Ich bin Anfang November 2023 in die Hauptstadt Kabul gereist. Anlass war eine von der Taliban-Regierung unterstützte Expertenkonferenz zum Wiederaufbau des von jahrzehntelangem Krieg geschundenen Landes. Mein Eindruck weicht von dem in Deutschland verbreiteten Zerrbild ab. Eine ehrliche Aufarbeitung mit der zwei Jahrzehnte währenden westlichen Besatzung wird offensichtlich umgangen. Nach den NATO-Bombardements auf afghanische Ziele im Jahr 2001 besetzte ein westliches Bündnis unter Führung der NATO das Land, entmachtete die damalige Taliban-Regierung und bekämpfte sie 20 Jahre lang mit modernem NATO-Kriegsgerät. Auch die Bundeswehr war daran beteiligt, wenn auch in einer begrenzteren Rolle als die USA oder Großbritannien. Mit enormen finanziellen Mitteln wurde eine Statthalterregierung samt militärischem Arm aufgebaut. Doch im August 2021 brach alles zusammen. Wir erinnern uns noch an die chaotischen Bilder des Abzugs der amerikanischen und deutschen Soldaten. Auch lokale Mitarbeiter des westlichen Besatzungsregimes flohen vor den vorrückenden Taliban-Milizen. Seitdem haben die Taliban eine Art Kabinett gebildet und versuchen, die Staatsgeschäfte so weit wie möglich eigenständig zu führen. Zwar haben die meisten Staaten die neue Führung in Kabul nicht anerkannt, doch gibt es längst Schritte in Richtung Normalisierung. Ziel ist, die Differenzen im Dialog zu überwinden. So arbeiten die Europäische Union und die Vereinten Nationen zumindest im humanitären Bereich mit den Taliban zusammen.
Bei der Ankunft auf dem Flughafen Kabul sehen mein Berliner Kollege und ich im Ankunftsbereich immer wieder die gepanzerten und gepflegten Toyota Land Cruiser der UN-Mitarbeiter. Zwischen den zerkratzten und zerbeulten Fahrzeugen der Afghanen wirken sie deplatziert. An das Chaos, das vor zweieinhalb Jahren auf Fernsehbildern zu sehen war, erinnert hier nichts mehr. Es ist ruhig auf dem Flughafengelände. Vor dem Gebäude steht in großen Lettern „I Love Afghanistan“. Dutzende afghanische Jugendliche stehen hier und fotografieren sich gegenseitig. Der erste Eindruck auf der einstündigen Fahrt vom Flughafen zum Hotel erinnert mich an meine Kindheit in der Türkei. Vor über 40 Jahren habe ich ähnliche Szenen in Istanbul gesehen: ein Gewimmel aus Straßenhändlern, Transportern, Handkarren, lebensmüden Fahrradfahrern. Viele Gebäude sind im Bau. Wie ein Land, das gerade dem Bürgerkrieg entronnen ist, sieht es nicht aus. Auf den Bürgersteigen laufen die Menschen in langen traditionellen Gewändern und Schals. Die Frauen sind nicht verschleiert, sondern tragen ein Kopftuch. Auch das überrascht mich, so sehr unterscheidet sich die Realität von den Fernsehbildern, die den Eindruck erwecken, hier würden alle Burka tragen.
Am ersten Konferenztag kommen weit über 600 Teilnehmer, darunter rund 100 Frauen. Die Veranstalter vom so genannten Ibn Sina Research and Development Center haben neben Vertretern der Taliban-Regierung auch Nichtregierungs-Organisationen, Think Tanks, Experten, Diplomaten und Geschäftsleute eingeladen. Unter dem Motto „Afghanistans kommendes Wirtschaftswunder“ soll ein Aufbauplan des Internationalen Schiller-Instituts vorgestellt und diskutiert werden. Es geht um Wasser-, Industrie- und Bildungsprojekte, um Verkehrs- und Energieinfrastruktur. In Afghanistan fehlen alle Grundlagen für einen modernen Lebensstandard. Der Bau einiger Schulen mit westlichen Spendengeldern ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der Direktor des Ibn Sina Zentrums, Daud Azimi, sagte in seiner Einführung, man solle das Wort „Geber“ aus dem Wortschatz streichen und stattdessen hart für den Aufbau des Landes arbeiten. Der stellvertretende Außenminister Mohammad Abbas Stanikzai ruft zur Einheit des afghanischen Volkes auf und garantiert allen Rückkehrern Sicherheit. „Wir sind alle Afghanen, Brüder und Schwestern. Jeder hat unter der islamischen Verfassung die gleichen Rechte“, erklärt Stanikzai. Alle müssten die Ressourcen gleichberechtigt nutzen können, Bildung sei das Recht jedes Einzelnen, egal ob Mann oder Frau. Das ist das Gegenteil dessen, was man in Deutschland zu hören bekommt.
Der Korrespondent der siebtgrößten italienischen Tageszeitung Il Fatto Quotidiano, Stefano Citati, berichtete, er habe in Kabul auf der Konferenz und in den Straßen „wenige Burkas und viele Handys“ gesehen. Die Veränderungen in Afghanistan seien auf die neue Generation der Taliban-Führung zurückzuführen. Sie strebe wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt an, im Gegensatz zur traditionalistischen alten Generation. Er schreibt: „Zahlreiche Regierungsmitglieder erschienen mit einer großen weiblichen Gefolgschaft, die den Konferenzsaal füllte und Selfies mit Smartphones machte, die niemandem mehr verboten sind“. Die Reden sind keine Hasstiraden gegen den liberalen Westen oder ideologisches Geschwafel. Oberste Priorität hat der Aufbau der afghanischen Wirtschaft. Der Minister für Energie und Wasser, Dr. Ghulam Farooq Azam, wirft der Vorgängerregierung allerdings vor, eine falsche Erwartungshaltung im Volk verankert zu haben, nämlich dass man ohne westliche Hilfe nicht überleben könne. Man wolle sich wieder auf bewährte Institutionen wie die staatlichen Landwirtschaftsbanken stützen. Dabei geht es vor allem um groß angelegte Wasserprojekte. Im Zentrum vieler Diskussionen steht beispielsweise der im Bau befindliche Kush-Tepa-Kanal. In ein bis zwei Jahren soll das Mammutprojekt fertiggestellt sein und über eine halbe Million Hektar Land bewässern. Auch Dämme an den Flüssen im Pandschir-Tal seien geplant, so der Minister. Er rief die Afghanen in der Diaspora auf, in ihre Heimat zurückzukehren und sich am Wiederaufbau zu beteiligen.
Mein eigener Beitrag zur Konferenz war: Wie Afghanistan durch Eisenbahnkorridore an den internationalen Güterhandel angeschlossen werden kann. Afghanistan ist der weitaus ärmste unter den landeingeschlossenen Staaten. Zwei Projekte standen im Vordergrund, die bereits von der Vorgängerregierung ausgearbeitet und von einigen Anrainerstatten unterstützt wurden. Die Taliban-Regierung hat diese Projekte aufgegriffen und treibt sie voran. Zum einen die Trans-Afghanische Route, die von Usbekistan aus durch Afghanistan führt und zwei Übergänge nach Pakistan hat. Dieses Projekt wird Afghanistan mit Zentralasien und mit dem chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor mit Verbindungen zu den Häfen von Gwadar und Karatschi vernetzen. Die Frage der hohen Investitionen ist bislang nicht geklärt, da Afghanistan von den etablierten Entwicklungsbanken gemieden wird. Zum anderen ist da der Fünf-Nationen-Eisenbahnkorridor. Er soll durch Iran, Afghanistan, Tadschikistan, Kirgisistan und China führen. Diese Strecke soll einmal Afghanistan im Westen mit dem iranischen Netz verbinden, das sich bis nach Westasien und im Süden des Iran bis zum Hafen Chabahar am Golf von Oman erstreckt. Gleichzeitig soll die Trasse Afghanistan mit der chinesischen Region Xinjiang und so mit der Produktions- und Technologielandschaft Chinas vernetzen.
Vertreter der Ministerien für Straßenbau, Verkehr und Eisenbahnen unterstützten eine dritte Variante. Sie würde Afghanistan über den Wachan-Korridor direkt mit China verbinden. Afghanistans Territorium besteht im Nordosten aus einem 300 km langen schmalen Landstreifen, dem Wachan-Korridor, an dessen Ende eine 75 km lange Grenze zu China verläuft. Diese Strecke würde dann Afghanistan durchqueren, um schließlich an das Schienennetz im Iran anzuschließen. Der Vorteil: Es wäre die geografisch schnellste Verbindung zwischen China und Europa, wenn man die Strecke über die Türkei verlängert; man müsste nicht die Spurweite wechseln; und Afghanistan könnte sowohl seine reichen Rohstoffzentren für Kupfer, Lithium und Seltene Erden anbinden als auch Transitgebühren einnehmen. Das wäre ein großer Sprung nach vorne nicht nur für Afghanistan, sondern für das gesamte Projekt Neue Seidenstraße.
Die Teilnehmer der Konferenz diskutierten auch über Stadtplanung, Aufbau eines Gesundheitssystems, Ausbildung von Fachkräften und Wissenschaftlern. Ein Schwerpunkt lag auf der Landwirtschaft. Denn der Anbau von Opium wurde verboten und die Bauern brauchen dringend Alternativen. Während die NATO die Kultivierung des Rauschgifts 20 Jahre lang duldete, verhängten die Taliban einen Bann. Die UNO stellte in ihrem Drogenbericht 2023 fest, dass die Opiumernte um 95 Prozent zurückgegangen ist. Der ehemalige Leiter der UN-Drogenbehörde, Professor Pino Arlacchi, erklärte, die Welt müsse den Taliban dankbar sein. Arlacchi schlug vor, in den nächsten fünf Jahren 100 Millionen Dollar zu investieren, um Afghanistan auf moderne landwirtschaftliche Methoden umzustellen. Nach seinem Vortrag schüttelten ihm Mitglieder der Taliban-Regierung dankbar die Hand.
Was die Medien in Deutschland nicht berichten: Die Taliban unternehmen Schritte, um sich in die internationale Gemeinschaft zu integrieren und die am Boden liegende Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. Delegationen reisen zu Wirtschaftsgipfeln nach China, Russland, in die Türkei, aber auch nach Europa. Dort werben sie um Investitionen in den afghanischen Gesundheitssektor. Nur wenn einer von ihnen in Deutschland auftritt, reagieren Politik und Medien entsetzt. Es genügt, einen Mann mit Bart und traditioneller Kopfbedeckung zu zeigen, um die eingespielten Angst- und Feindbilder zu wecken.
Der Westen predigt den Afghanen Menschenrechte, aber seine Finanzsanktionen tragen zum Elend von Frauen und Kindern in Afghanistan bei. Seit 2022 soll eine Enquete-Kommission des Bundestages das Scheitern des deutschen Afghanistan-Einsatzes untersuchen. Der Beitrag der Frauenrechtlerin Zarifa Ghafari bei der Anhörung im Mai 2022 spricht Bände: „Der einzige Faktor, der die Bildung einer offenen und liberalen Gesellschaft verhinderte, war die offene Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für die Waffenbarone, Gangster, Schmuggler, die Mafia und Kriegsverbrecher.“ Es ist an der Zeit, unsere Haltung gegenüber Afghanistan zu ändern.