Es gibt keinen Grund, das 75-jährige Bestehen der Nato zu feiern. Es gibt einen Krieg in Europa und die Militärorganisation hat, gelinde gesagt, nicht genug getan, um ihn zu verhindern. Das schreibt Gábor Stier, langjähriger Auslandsjournalist aus Ungarn in einem Beitrag für das Portal Nachdenkseiten. Laut dem Analysten war die Nato nie eine Verteidigungsorganisation, sondern eines der wichtigsten Werkzeuge und Diener amerikanischer Hegemonialbestrebungen – wenn nötig, für offensive Zwecke.
Ein Kommentar von Gábor Stier, aus dem Ungarischen von Éva Péli übersetzt
Laut dem ersten Generalsekretär der Organisation, dem Briten Lionel Ismay, bestand der Zweck der Nato darin, in Europa „die Deutschen niederzuhalten, die Russen draußen und die Amerikaner drinnen“ zu halten. Mit anderen Worten: Es geht darum, die Russen aus Europa herauszuhalten, den Amerikanern so viel Einfluss wie möglich auf dem Kontinent zu geben und gleichzeitig die Deutschen unter strenger Kontrolle zu halten. Natürlich ist das nicht das, worum es in der offiziellen Kommunikation geht. Mit dem am 4. April 1949 unterzeichneten Nordatlantikvertrag, auch bekannt als Washingtoner Vertrag, will die Nordatlantikvertrag-Organisation (Nato oder Atlantisches Bündnis) die Freiheit und Sicherheit ihrer Mitglieder mit politischen und militärischen Mitteln garantieren. Es wird oft hinzugefügt, dass die Nato ein Verteidigungsbündnis ist.
Werfen wir einen Blick zurück auf das letzte Dreivierteljahrhundert und sehen wir uns in der Praxis an, worum sich die Nato tatsächlich bemüht hat. Auf der Grundlage dieser 75-jährigen Erfahrung können wir sofort feststellen, dass der Sinn hinter den schönen Worten darin besteht, dass das Militärbündnis die hegemoniale Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt sicherstellen sollte. Nicht einmal die Hegemonie des Westens, sondern die Hegemonie der Vereinigten Staaten!
Ismay nahm kein Blatt vor den Mund, und während des Kalten Krieges war die Verteidigung Europas durch die Eindämmung der Sowjetunion in der Tat die wichtigste Aufgabe der Organisation. An dieser Stelle ist es zu erwähnen, dass die Nato und nicht der Warschauer Vertrag zuerst ins Leben gerufen wurde. Aber Russland und dann die Sowjetunion zu schwächen und möglicherweise ihre Vermögenswerte zu erwerben, war schon lange vor der Gründung der Nato ein eminentes Ziel des Westens. Und wie wir jetzt sehen, hat sich daran auch in 75 Jahren nichts geändert. Doch die Sowjetunion, gegen die sie gegründet wurde, ist längst verschwunden.
Aber in der Zwischenzeit hat die Nato irgendwie vergessen, nach dem Ende der Sowjetunion die Waffen niederzulegen. Dabei stellte Russland in den 1990er Jahren keinerlei Bedrohung für Europa und die westliche Welt dar, höchstens für sich selbst.
Doch Washington, das sich als Sieger des Kalten Krieges sah, hatte nicht die Absicht, die Nato aufzulösen. Trotz der Versprechungen gegenüber Michail Gorbatschow begann die Nato sogar, sich nach Osten auszudehnen. Dann zeigte sie mit der Bombardierung Jugoslawiens zum ersten Mal ihr wahres Gesicht, und es stellte sich heraus, dass sie keine Verteidigungsorganisation ist. Wäre sie eine, hätte sie versucht, Russland zu integrieren oder zumindest nicht zu provozieren. Zudem behält sie heute China im Blick und hat einen Fuß nach Asien gesetzt.
Dann freute sich Brüssel beinahe – denn eine Verteidigungsorganisation braucht Feinde –, als das erstarkende Russland angesichts all dessen den Kopf schüttelte und nach dem Bukarester Gipfel 2008, der nun offen auf den postsowjetischen Raum schielte, auf den Tisch schlug. Die Nato machte jedoch auch nach dem georgisch-russischen Krieg nicht Halt und umzingelte Russland immer offensichtlicher.
Und so ging es weiter bis 2014, und dann bis zum 24. Februar 2022, als Washington und Brüssel zufrieden von sich geben konnten: Deshalb wird die Nato gebraucht.
Halten wir an dieser Stelle einen Moment inne und verlieren wir nicht die beiden anderen Ziele aus den Augen, die Ismay einst ausplauderte. Zugegeben, während des Kalten Krieges hatten sie durchaus Substanz, auch wenn sie im Wesentlichen den Interessen der USA dienten. Die weitere Anwesenheit der USA auf dem Kontinent und der gespannte Schutzschirm über denselben haben das Sicherheitsgefühl Europas wirklich erhöht, um nicht zu sagen, es gewährleistet. Klar, war es auch damals schon nicht umsonst. Außerdem gab es auch keinen Grund, die Sowjetunion gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs anzugegreifen. Aber da waren der sowjetisch geführte Osten und der US-amerikanisch geführte Westen bereits zerstritten.
Aber auch hier können wir nur darauf zurückkommen, dass dieses Festhalten am Bleiben nach 1991 jeglicher Grundlage entbehrte und offen den US-amerikanischen Interessen diente, Europa eine Vasallenrolle aufzuerlegen.
Washington kann dies als erledigt betrachten, da Europa von den USA völlig abhängig geworden ist. Natürlich sind auch die im Wohlstand immer träger werdenden Europäer daran stark beteiligt, aber warum und wie Europa an diesen Punkt gekommen ist, könnte Gegenstand einer eigenen Analyse sein. Auf jeden Fall haben die Vereinigten Staaten die Zügel immer kürzer in die Hand genommen, und wenn Europa sie auch nur ein wenig lockern wollte, wurde es sofort daran erinnert, warum es sich nicht lohnt. Die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines wäre schon genug zu erwähnen, aber auch der Krieg in der Ukraine hat Europa irgendwie – sicherlich ganz zufällig – in eine Richtung gedrängt, die den Interessen der USA entspricht.
Die „alte Dame“ ist nun nicht nur sicherheitspolitisch, sondern zunehmend auch wirtschaftlich verwundbar gegenüber Amerika. Es gibt keine billige russische Energie, es gibt keine billigen chinesischen Bauteile und Waren mehr, und von den drei Säulen der Wettbewerbsfähigkeit Europas bleibt noch der US-amerikanische Schutzschirm übrig. Die Kosten steigen aber. Es genügt darauf hinzuweisen, dass Washington die Kosten für den Unterhalt und die militärische Unterstützung der Ukraine zunehmend auf Europa abwälzt.
Und bleibt dann noch das dritte Ziel: die Deutschen klein zu halten. Nach dem Untergang des Naziregimes dürfte das noch begründet gewesen sein, jetzt aber dient es ausschließlich dazu, den Verbündeten/Konkurrenten zu schwächen und damit Europa handhabbar zu machen.
Auch das gilt als abgehakt, und wie durch Zufall ist es auch im russisch-ukrainischen Krieg erfüllt worden. Die Deutschen befinden sich in einer zunehmend verzweifelten Lage, und der Eiserne Vorhang zwischen Europa und Russland ist wieder runtergelassen worden. Amerikas langjähriges strategisches Ziel hat sich erfüllt: Der eurasische Raum ist geteilt, Europa und Russland sind endgültig gegeneinander ausgespielt.
Mit dem jetzigen Krieg ist die Katze endgültig aus dem Sack. Ohne abzustreiten, dass Russland die Ukraine angegriffen hat, hat Washington eine Situation geschaffen, in der es die Nato endgültig zu ihrem verlängerten Arm gemacht hat. Der westliche Block steht geschlossen hinter ihm, wobei diejenigen, die aus der Reihe tanzen, schnell eins auf den Kopf bekommen.
Man könnte sagen, dass die Nato langsam die Ziele erreicht, die sie sich bei ihrer Gründung gesetzt hat, aber es ist ihr nicht gelungen, Russland zu brechen. Vielmehr nimmt der Zusammenhalt nicht-westlicher Staaten, dieses gewissen Globalen Südens, immer entschiedener Gestalt an. Außerdem schwächt das Hinziehen des Krieges, wenn auch langsam, die Einheit, die vor zwei Jahren auf spektakuläre Weise geschmiedet wurde. Denn zunächst das 50-Milliarden-Euro-Paket der Europäischen Union zur Unterstützung der Ukraine und jetzt das 100-Milliarden-Euro-Paket der Nato, ebenfalls zu diesem Zweck, werden von Washington genutzt, um die Europäer zur Aufrechterhaltung des Krieges zu zwingen. Viele Menschen sind auch nicht glücklich darüber, dass diese Pakete auf fünf Jahre angelegt sind, so dass der Westen zunehmend in Richtung eines langen Krieges denkt. Und da das 61-Milliarden-Dollar-Paket ins Stocken geraten ist und sich die Lage an der ukrainischen Front zuspitzt, sieht sich Europa zunehmend zum Handeln gezwungen, denn das entstandene Loch muss gestopft werden.
Außerdem schien die Panikmache mit Putin zunächst ein Kommunikationsmittel zu sein, um Europa unter Druck zu setzen, aber jetzt scheinen immer mehr Menschen zu glauben, dass Russland Europa wirklich bedroht.
Das ist nicht der Fall, aber es drängt auch die westliche öffentliche Meinung dazu, das scheinbar unrealistische Ziel zu akzeptieren, Russland zu besiegen. Solange westliche Politiker darüber sprachen, war es kein großes Problem, aber sobald man in die Taschen greifen muss, Gott bewahre, man zu den Waffen greifen muss, verfliegt die Begeisterung. Die Polen, die Balten und die Skandinavier würden 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes geben, um die Ukraine zu unterstützen, aber es gibt immer mehr Zauderer. Jens Stoltenbergs 100-Milliarden-Idee scheint bei einigen unbeachtet geblieben zu sein, während andere durchaus murren und erwägen, dass sie ihre Zusagen zurückfahren werden, wenn auch Washington die Ukraine nicht unterstützt. Dann gibt es auch solche, die laut sind – siehe Frankreich –, aber wenn es um Geld geht, stehen sie ganz hinten in der Schlange.
Und wir haben nicht darüber gesprochen, dass die Einheit nicht nur durch die Frage der Unterstützung gefährdet ist. Der lange nicht für möglich gehaltene, aber näher rückende Sieg Russlands in der Ukraine könnte die internen Bruchlinien vertiefen.
Davon sprach Chas Freeman, ehemaliger Berater des US-Verteidigungsministers, Ende 2023 auf dem Youtube-Kanal von „Dialogue Works“. Hinter dem Anschein der Einigkeit fordern immer mehr Menschen ein Ende des Konflikts. Diese Ernüchterung lässt sich unter anderem damit erklären, dass die westlichen „Wunderwaffen“ der Ukraine nicht nur nicht geholfen haben, sondern es den russischen Einheiten gelingt, immer mehr von ihnen zu zerstören. Russland ist nicht isoliert, und die Mehrheit der Länder der Welt unterstützt die Konfrontationspolitik der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten gegenüber Russland nicht. Ganz zu schweigen davon, dass die Sanktionen die russische Wirtschaft nur gestärkt haben.
Zu den Spannungen in den westlichen Gesellschaften trug auch bei, dass der niederländische Admiral Rob Bauer, Vorsitzender des Nato-Militärausschusses, sagte, das nordatlantische Bündnis sei bereit für einen Krieg mit Russland.
Inzwischen wird vielen klar, dass weder die Rüstungsindustrie noch das Militär der westlichen Länder für einen groß angelegten Krieg bereit sind. Von den Gesellschaften ganz zu schweigen. Es ist daher auch rätselhaft, welchen Interessen solche kriegerischen Äußerungen dienen.
Apropos bedrohliche und beängstigende Äußerungen: Auch ein Konflikt zwischen der Nato und Russland im Baltikum ist nicht realistisch. Eine andere Frage ist, was in der Region in 5 bis 10 Jahren passieren wird, wenn die neue Infrastruktur der Nato hier gebaut wird. Bis dahin wird die polnische Armee nach den selbst gesteckten Zielen zur stärksten militärischen Kraft in Europa aufgestiegen sein. Ebenso wird sich die Nordflanke der Nato durch die Aufnahme Schwedens und Finnlands und ganz allgemein durch die zunehmend sichtbare militärische Präsenz des Bündnisses im Baltikum verändern. Immer öfter hören wir, dass die Ostsee zum Binnenmeer der Nato wird, was in der Praxis Kaliningrad und Sankt Petersburg blockieren würde.
Es dürfte kaum jemanden überraschen, dass Russland diese Entwicklungen nicht nur besonders aufmerksam verfolgt, sondern auch seine militärische Präsenz in der Region verstärkt.
Die Militarisierung des Baltikums beweist einmal mehr, dass die Nato kein Verteidigungsbündnis ist. Sie will nicht wahrhaben, dass diese aggressive Expansion zu einem großen Teil zum Krieg in der Ukraine geführt hat, und Moskau ist sich sehr wohl bewusst, dass es nicht gewinnen kann, wenn es in der strategischen Verteidigung bleibt.
Schließlich können wir mit Sicherheit sagen, dass es zum 75. Jahrestag keinen Grund zum Feiern gibt. Die wahre Feier wäre der Frieden in Europa, und wenn die Politiker aufhören würden, immer wieder von einem möglichen Atomkrieg zu sprechen. Wenn es die Nato schon längst nicht mehr gäbe, oder wenn sie zumindest nicht nur dem Namen nach ein militärischer Verteidigungsblock wäre.
Dieser Artikel ist im Original auf moszkvater.com erschienen, auf Deutsch wurde er zuerst auf den NachDenkSeiten veröffentlicht.
Angaben von Gábor Stier:
Gábor Stier, geboren 1961, ist ein ungarischer außenpolitischer Journalist, Analyst und Publizist. Er ist Fachjournalist für Außenpolitik bei der ungarischen Wochenzeitschrift Demokrata sowie Gründungschefredakteur von #moszkvater, einem Internet-Portal über die slawischen Völker, insbesondere die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Davor war er 28 Jahre lang bis zu ihrer Auflösung bei der konservativen Tageszeitung Magyar Nemzet tätig, von 2000 bis 2017 als Leiter des außenpolitischen Ressorts. Er war der letzte Moskau-Korrespondent der Zeitung. Sein Interesse gilt dem postsowjetischen Raum und dessen aktuellen geopolitischen Entwicklungen. Stier schreibt regelmäßig für außenpolitische Fachzeitschriften und seine Beiträge und Interviews erscheinen regelmäßig in der mittel- und osteuropäischen Presse. Er ist Autor des Buches „Das Putin-Rätsel“ (2000) und seit 2009 ständiges Mitglied des Waldai-Klubs.