Verstummen

  • MEINUNG
  • Oktober 16, 2023
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Ein Beitrag von Rebecca Niazi

 

Shutterstock/ agsandrew

08.10.23, kurz nach Mitternacht

Am Vorabend mit einem Freund bei einer Ausstellung gewesen, dann beim Italiener zusammengesessen, und weil wir höfliche Menschen sind, hat keiner im Laufe dieses Abends sein Smartphone gezückt und so sehe ich erst um eine Uhr morgens die Überschriften der Nachrichtenportale, ich lese nicht weiter und Rufe meinen Vater an, er ist noch wach.

So erschüttert und deprimiert habe ich ihn noch nie erlebt, ich will wissen, wie es der Familie geht, doch er sagt einfach nur immer wieder „Sie haben einen Fehler gemacht, sie haben einen Fehler gemacht.“

Was wird in Israel passieren? Er antwortet: „Jetzt sind sich alle in Israel einig und es wird eine harte Reaktion geben.“

Warum? Warum in dieser Brutalität? Er antwortet: „Man hat wohl einen Grenzübergang in Sderot zugemacht.“ Das brachte die Wut der Palästinenser in Gaza zum Überkochen.“ Das kommt mir komisch vor. Es passt nicht recht zusammen. Aber mein Vater kann nicht weitersprechen. Wie es der Familie geht, erfahre ich in dieser Nacht nicht.

08.10.23, tagsüber

So viele Nachrichten, so viele Links geschickt. Sie stammen ausschließlich von Bekannten. Von meinen Freunden aus Berlin melden sich sehr wenige. Aus Israel bekomme ich niemals Links, ich weiß nicht, wie es in anderen Familien ist, aber in unserer (circa 300 Leute) belästigt man Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte nicht mit Artikelempfehlungen oder Videos – außer jemand fragt danach. Egal, was passiert, jeder entscheidet selbst, was er weiß will und woher – ein ungeschriebenes Gesetz.

Ein Interview mit Efrat Fenigson, ich hatte nie von ihr gehört. So erfahre ich, was mein Vater gemeint haben könnte mit – „einen Grenzübergang zu viel zugemacht“. Eine euphemistische Formulierung für die immer stärkere Abriegelung des Gazastreifens in den letzten Jahren. Ich beschäftige mich schon lange nicht mehr mit israelischer Politik. Wie mein Vater ich sowieso keine Hoffnung habe, dass sich dieser Konflikt lösen lässt, interessierte ich mich auch für Details. Mi wird klar, wie symptomatisch das ist: In Gaza und in Israel wissen viele nur, was sie wissen wollen.

08.10.23, abends

Am Abend lese ich doch: Jewish Voice for Peace, Telepolis, The Times of Israel, hoffe, ein Bild zu bekommen, nur Text, keine Fotos. Die Beschreibungen reichen mir.   Als ich über die junge Frau lese, die schwerverletzt und nackt durch die Straßen gefahren wird, breche ich sofort ab. Es gibt nichts mehr zu erfahren, zu analysieren, es ist zu spät. Das alles vergiftet die Seele. Mein bester Freund O. schreit vor Wut: Er hat gelesen, was er nicht lesen wollte.

Mein Vater weiß, dass er mir die blutigen Details nicht erzählen darf, dass ich sonst das Gespräch sofort abbreche. Das hatten wir in unserem Leben oft genug. Wie oft habe ich mich auf dem Absatz umgedreht, wenn wir auf unserem geliebten Freitagsspaziergang auf der Promenade von Tel Aviv im arabischen Teil der Stadt, nach Jaffo, an der Disco Delfinarium vorbeikamen und er WIEDER EINMAL das Attentat von 2001 erwähnte. Danach stand das Gebäude am Meer mit dem blauen Delfin 20 Jahre leer. Mein Vater schämte sich für mich, wenn ich ihn in der Öffentlichkeit auf Deutsch anschrie: Ich weiß es schon! Ich weiß, wie viele, wie jung sie waren, dass manche auf ihren Beinstümpfen versucht haben zu fliehen.

Er spricht jetzt nur darüber, dass Palästinenser aus Freude über die massakrierten Kuchen und Bonbons verteilt haben. Immer wieder kommt er darauf zurück. Das Entsetzen lässt die politischen Ursachen in den Hintergrund treten. Darüber muss gesprochen werden, sagt mein Vater. Kein Israeli, nie und niemals, würde angesichts des Todes eines Palästinensers in Freudengeschrei ausbrechen (Frage: Nein, auch die ultrazionistischen Siedler nicht). Kein Israeli würde eine Leiche schänden und schon gar keine Bonbons verteilen. Ich schweige und denke, es stimmt, was er sagt. Diesen Hass zu benennen – das führt in der Diskussion mit deutschen Freunden stets zu Spannungen. Vielleicht weil dieses Detail verwendet wird, die Bösartigkeit bestimmter Menschen zu beweisen. Doch das ist Unsinn: Kein Volk ist bösartiger als das andere. Ich will diesen Hass verstehen, aber außer mit meinem besten Freund O. kann ich nur mit wenigen darüber sprechen. Vielleicht auch mit dem staatenlosen Palästinenser aus meiner alten Nachbarschaft oder mit N., einem Freund meines Vaters, Marokkaner wie er und ein gläubiger Moslem. „Wer leugnet, dass dieser Hass der muslimischen Araber auf Juden eine besondere Qualität hat“, sagt mein Vater, „kann nicht mitreden.“

Wieder erfahre ich nur nebenbei, wer von den Enkeln eingezogen wurde. Der K. fliegt jetzt nach Israel, die E. ist schon an der Front. Ich frage meinen Vater, ob er mit jemandem gesprochen hat, den Einberufenen oder ihre Eltern. Doch mein Vater geht darauf nicht ein. Er fragt stattdessen, wie es denn sein kann, dass die israelische Regierung die Gefahr nicht erkannt hat. Irgendwann findet er für sich eine Antwort: Das kommt von den linken Kräften in den Ministerien und Behörden, deren Milde ist schuld, sie haben die Warnsignale ignoriert.

Sinnlose Spekulationen, die mich schnell so sehr deprimieren wie das vergossene Blut.

„Was für ein Unsinn“, widerspreche ich, „hier geht es doch um Geopolitik, die Annäherung von Israel an Saudi-Arabien zum Beispiel, die wiederum Teheran ein Dorn im Auge sein muss…“ Aber ich wollte doch gar nicht über Politik zu sprechen. Ich wollte nur wissen, wie es den Liebsten geht!

09.10.23, morgens

Ich maile meiner Tante R und ihrem Mann S. Sie sind schon in Rente, ich biete ihnen an, für eine Weile nach Berlin zu kommen, ich habe ein Gästezimmer. Oder jeder andere, der es in Israel nicht mehr aushält. 

Eine Antwort kommt prompt. Auf das Angebot gehen sie kaum ein. Das ist typisch, meine Tante R. und mein Onkel S. halten sich eigentlich nie auf bei ihrem persönlichen Befinden auf. Sie beschreiben kurz, was passiert ist und was wir schon aus den Nachrichten wissen. Sie sind vielleicht die Intellektuellen in unserer Familie. Vor Jahren sagte mein Onkel, als die einzige Tochter der Freundin seines Bruders in einem Bus in die Luft gesprengt wurde (der Attentäter hatte genau neben ihr gesessen): „Niemals dürfen wir bei all der Trauer denken, die Welt habe speziell gegen uns etwas, denn das ist nicht wahr. Überall auf der Welt passieren Dinge, die man sich in unserer Blase, hier in Israel kaum vorstellen kann.“ Das schien mir damals sehr nüchtern; Heute aber anfange ich zu verstehen. Mein Onkel und meine Tante leben einige Jahre aus beruflichen Gründen in Indien; Sie haben mir beschrieben, dass ganze Familien auf der Straße leben und die Frauen ihre Kinder im Rinnstein gebären – sie kennen die Welt und ordnen die Dinge ein. Jammern sollte man in ihrer Gegenwart nicht.

10.10.23, morgens

Ich wiederhole das Wohnungsangebot, sage, dass auch die Kinder meiner Cousinen und Cousins ​​​​willkommen sind. R. und S. danken sich, doch am Ton höre ich, dass niemand daran denkt, zu kommen. Stattdessen haben meine Tante und mein Onkel schon einmal probeweise in ihrem Panikraum übernachtet. Jeder Neubau in Israel hat einen solchen Raum mit Stahltür und versiegelbaren Fenstern, in dem man auch einen Gasangriff überleben kann. Sie sagen, dass mein Onkel M. in Aschdod keinen Panikraum habe und deshalb gestern mit der Familie in den Keller musste.

Sie fragen nach meinem Vater, der in diesen Tagen mit einem jüngeren Freund im Auto zu seiner letzten Abenteuerfahrt aufbrechen wollte, nach Marokko und dann vielleicht in den Senegal. Vor einem Jahr war ich zusammen mit meinem Vater in Casablanca. Dort hatte er seine Staatsbürgerschaft neu beantragt, die er 1954 als Teenager durch die Flucht aus Casablanca über Frankreich nach Israel verloren hatte. Inzwischen kann er sich vorstellen, dort seine letzten Jahre zu verbringen. Er hat sogar wieder muslimische Freunde in Casablanca, die aus Frankreich dorthin zurückgekehrt sind, wie viele Marokkaner in letzter Zeit. Casablanca, Rabat, das sind inzwischen moderne Städte mit einer wachsenden Mittelschicht, doch mein Vater hat diese Reise bereits abgesagt, jetzt, wo Gaza in Schutt und Asche gelegt wird, will er nicht in ein arabisch-muslimisches Land fahren.

11.10.23, mittags

A. ist die erste deutsche Freundin, die fragt, wie es mir geht und was ich von meiner Familie weiß, auch ihre Schwester sei in Gedanken bei mir. Ein Freund wundert sich, warum ich immer noch nicht auf seine SMS geantwortet habe, wann wir an unseren Workshops weiterarbeiten. Ich rufe meinen Vater an, einfach nur, weil ich seine Stimme hören will. Mir fällt auf, dass es mir wahrscheinlich wie jedem Israeli geht. Fast alle glauben: Wenn dieser Konflikt nicht gelöst werden kann, ist kein Frieden auf Erden möglich.

Eine Lösung könnte ein Modell sein: Zum Beispiel, wie damit umgegangen wird, dass einige Gebiete breiterrechtlich annektiert worden sind, dort aber inzwischen viele Menschen leben, die dort geboren sind; Kann man überhaupt dieses Durcheinander aufdröseln? Andere Gebiete haben die Palästinenser, bevor es einen jüdischen Staat gab, leichtfertig verkauft: Da Großbritannien das Unheil kam, hatte es den Verkauf des Landes in seinem Mandatsgebiet verboten, was dazu geführt wurde, dass die Palästinenser Strohmänner für die Verkäufe eingesetzt haben.

Die lustigen Geschichten meines Vaters aus dem Kibbuz: Weil man im britischen Protektorat nicht bauen konnte, wurden die Wohnwagen aus Holz auf ihren Alibi-Rädern immer größer; ein Abenteuer, so dachte ich als Jugendliche.

Meine Verwandten sind arabische Juden, sie fühlen sich kulturell mit Arabern viel   stärker verbunden als mit europäischen Juden. Beim Besuch in Israel sind mein Vater und ich die einzigen, die im arabischen Teil Jerusalems essen, der Rest der Familie schlägt die Hände über den Kopf zusammen, David und Rebecca, allein schon wegen der Namen ist klar, dass sich die Herkunft nicht verleugnen lässt .

Auch in Berlin besuchen wir nur arabische Restaurants, mein Vater hat einen arabischen Friseur, niemals sind wir von Palästinensern oder Libanesen anders als mit großer Höflichkeit behandelt worden. In Berlin-Neukölln gibt es jüdisch-muslimische Kultur- und Gesprächskreise, Juden und Muslime kommen zusammen, erleben gemeinsam Musik, Gedichte und Stand-up-Comedy. All das ist möglich, jeden Tag.

Umso mehr wundere ich mich über das andere Gesicht meines Vaters, das sich nach dem Angriff der Hamas zeigt: „Das sind unsere Feinde und sie werden es immer bleiben.“

Auch Achmed? Keine Antwort. Auch Haidar? Keine Antwort. Auch gesagt? Keine Antwort. Auch N.? „Nein, N. weiß alles über den Holocaust und dass wir einen eigenen Staat brauchen.“

11.10.23, abends

Mein Cousin, der jüngste Sohn meines Onkels M. wurde eingezogen. Mein Vater erzählt, es gibt einen Befehl, keine Gefangenen zu machen. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich werde mir meinen liebenswürdigen, zurückhaltenden Cousin mit einem Gewehr in der Hand vorstellen; Es geht nicht. Ob er das tun kann, was mein Vater getan hat, als er 1967 aus München zum 6-Tage-Krieg eingezogen wurde? Er war tatsächlich nach Israel geflogen. Doch kaum war er mit seiner Truppe am Militärstützpunkt angekommen, hat er sich zurückfallen lassen, seine Uniform ausgezogen, Kampfanzug und Gewehr hinter einem Stein vergraben und lief in Unterwäsche in einem arabischen Dorf, wo man ihn für die Dauer des Krieges versteckte. Als alles vorbei war, meldete er sich wieder bei seiner Kompanie, bekam einen Rüffel und wurde abkommandiert, für die ägyptischen Gefangenen halal zu kochen. Ob so etwas heute noch möglich ist? Ich fürchte nicht.

12.10.23, morgens

Wie viele Palästinenser schon „neutralisiert“ wurden, erfahre ich von meinen Bekannten, meine Familie erwähnt dies nicht. Es sind mehr als 1.500. Was, frage ich mein Freund O., ist mit ihnen, dass sie nicht mehr leben wollen? Da steckt ein großes Leid dahinter, nicht nur Hass.

Ich frage meinen Vater nach den Geiseln. Ich sage, dass es die Eltern, die um ihre entführten Kinder bangen, am schlimmsten getroffen hat. Diese Sorge, diese Angst! Welche Mutter, welcher Vater nicht sein Leben geben würde, um sein Kind aus dieser Hölle zu retten. Mich irritiert, was mein Vater antwortet: „Ach, sie brauchen nicht mehr warten, bei uns werden Geiseln wie Tote gehandelt.“ „Wie, bitte?“ frage ich. „Ja, das ist eine rechtliche Sache“, erklärt er, „das heißt, dass die Armee nicht verpflichtet ist, sie zu retten, dass auch niemand gegen den Staat Israel klagen kann, wenn zum Beispiel bei einem Bombardement auf Gaza auch noch lebende Geiseln.“ .“ umkommen.“

Mir fehlen die Worte: Wie er dem, was ich gesagt habe, so ausweichen kann und dabei vermeintlich beim Thema bleibt. Aber etwas will er mir sagen: „Erinnerst du dich an Gilad Schalit?“ Der entführte Soldat, der über fünf Jahre in Geiselhaft war und 2011 freigelassen wurde? Über tausend verurteilte und inhaftierte Palästinenser haben sie für ihn gegeben. Für 150 Geiseln haben wir nicht genug Gefängnisinsassen…“ Dann ganz leise: „Stell dir vor, unter den Geiseln ist auch eine Frau mit einer Nummer auf dem Arm.“

12.10.23, abends

Mein Vater hat mit seinem Bruder, meinem Onkel M. gesprochen. Auch er sagt, dass die Linken immer noch die Idee haben, dass Israel mit seinen Antworten vor der Weltgemeinschaft gut dastehen muss. Aber ganz Israel sei sich einig, dass das jetzt gleichgültig ist. Wie es meinen Cousins ​​​​​​​​A., M. und R. geht, erfahre ich nicht.

Ich schreibe meinem Onkel S., ich will wissen, ob es stimmt, dass alle so denken, wie mein Onkel M. sagt. Er antwortet wie immer betont sachlich. Es wird noch eine Weile dauern, bis man die Lage in Gaza unter Kontrolle habe, aber die Hoffnung auf ein schnelles Ende sei trügerisch, dieser Krieg werde noch lange dauern, es seien unsere Nachbarn und wir müssten mit ihnen leben.

Wieder telefoniere ich mit meinem Vater, die Gespräche werden immer absurder. Ich sage, dass ich die Aggression furchtbar finde, dass sie nur noch mehr Hass erzeuge. Mein Vater will mich beruhigen: Jetzt schon werde in Gaza über Lautsprecher auf Arabisch durchgesagt, wo bombardiert werde und in welche Himmelsrichtung man am besten die Stadt verlassen solle.

Vor ein paar Jahren hatte er mir erzählt, dass vier Minuten vor der gezielten Bombardierung der Häuser von angeblichen Attentätern deren Familie angerufen wurden, damit sich alle Bewohner in Sicherheit bringen könnten, das habe ich ihm in seinem Wohnzimmer dann vorgespielt, bin nach einem imaginären Klingeln Ans Telefon gegangen, wurde dann angeblich gesagt, wir raten Ihnen, verlassen Sie jetzt das Haus in vier Minuten schlägt eine Bombe ein. Diesen „Sketch“ habe ich sarkastisch kommentiert: „Wirklich, sehr menschlich!“ Danach lagen wir auf dem Boden vor Lachen, so grotesk war es.

Jetzt ist uns nicht nach Lachen zumute. Ich werde andere fragen müssen, ob die Menschen aus Gaza fliegen können, dürfen, wollen.

13.10.23, vormittags

Mein Vater hat Besuch, die Tochter einer Cousine ist da, sie wohnt schon länger in Deutschland, will nicht nach New York, Paris, sondern nach Chemnitz, da findet sie es schön. „Wir haben viel Spaß zusammen!“ Er will nicht mehr sprechen, er kann es nicht.

In den Überschriften habe ich gelesen, dass Ministerpräsident Netanjahu sich mit der Opposition auf eine gemeinsame Notstandsregierung geeinigt hat. Die kritische Lage einigt die politischen Kräfte in Israel; Von unserer Familie kann man das nicht sagen. Mir fällt auf: Niemand ist wütend, niemand weint. Aber ich weiß nicht, was die Familie in Israel bespricht und worüber sie schweigt, mein Vater und ich sind außen vor. So völlig aus der Bahn geworfen, sehne ich mich nach der Stimme eines Vertrauten, aber es ist ja gerade diese Stimme, die mich so völlig aus der Bahn wirft. Über Anderes zu sprechen, verbietet sich. So bleiben wir stumm.

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