Schweden hat die Erhöhung seiner Militärausgaben um 40 Prozent beschlossen und plant eine Verdoppelung seiner Armee. Was bewegt das bis vor Kurzem noch neutrale Land, das vor 300 Jahren zum letzten Mal im Krieg gegen Russland stand, zu dieser Aufrüstung?
Eine Analyse von Anton Gentzen
Einst galt Schweden als Hochburg des Pazifismus und des Neutralitätsgedankens. Aus den europäischen Kriegen hielt sich das skandinavische Land seit 1815 heraus, selbst in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts blieb es neutral und somit von Okkupation und Zerstörung verschont. Sieht man von Raoul Wallenberg einmal ab – so musste Schweden seit Jahrhunderten keinen Blutzoll mehr in Kriegen zahlen. Auf ihre Neutralität und Friedfertigkeit waren die Schweden auch stolz und boten sich der ganzen Welt als Beispiel dafür an, wie man auf Großmachtambitionen bewusst verzichten und dennoch erfolgreich sein kann.
Doch seit dem Mord an Olof Palme scheint sich einiges verändert zu haben: Die schwedische Stimme im europäischen Konzert ist nicht nur lauter geworden, sie tönt auch zunehmend schrill und aggressiv. Bei dem nationalistischen Maidan-Umsturz in der Ukraine im Winter 2013/2014 stellte sich der damalige Außenminister Carl Bildt offen auf die Seite der ukrainischen Nationalisten und hob sich mit besonders eskalierender Rhetorik hervor – alle Prinzipien der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, auf die man sich noch immer selbst gern beruft, waren vergessen. Nach dem Erfolg dieses Umsturzes im Februar 2014 begann Schweden sein militärisches Engagement in der Ukraine. Vor allem mit Militärberatern und Ausbildern unter kanadischer Federführung, aber auch kämpfend taten sich einzelne schwedische Nationalisten im Donbass hervor, natürlich auf Seiten der neuen Kiewer Regierung. Schon im April 2014 – die Eskalation im Osten der Ukraine hatte gerade erst begonnen – titelte die FAZ: „Aus Angst vor Russland – Schweden rüstet auf“ und im August desselben Jahres attestierte die Süddeutsche den Skandinaviern „Furcht vor dem großen Nachbarn“ (eine gemeinsame Landgrenze hat Schweden mit Russland übrigens nicht). Fünf Jahre später wurde die Insel Gotland aufgerüstet, natürlich wegen vermeintlicher „Spannungen mit Russland“.
Welche „Spannungen“ das sein sollen und warum ausgerechnet Schweden durch Russland Gefahr drohen sollte, bleibt dabei nebulös. Was dem eurasischen Riesenreich dort fehlen würde, weshalb es sich Deutschlands nördlichen Nachbarn schnappen sollte, ist mit gesundem Menschenverstand nicht nachzuvollziehen. Tatsächlich sind Schweden und Russland in der bisherigen Menschheitsgeschichte, soweit wir sie heute noch überblicken können, drei Mal aneinander geraten. Zweimal war Schweden der Aggressor, einmal nahm Russland glänzend Revanche.
Revanche nach 300 Jahren?
Im Mittelalter und der Neuzeit stritt man sich um Russlands Zugang zur Ostsee. Mitte des 13. Jahrhunderts scheiterte der schwedische Versuch, der russischen Handelsrepublik Nowgorod die Handelswege über die Newa abzuschneiden. Die damaligen Ereignisse überhaupt „Krieg“ zu nennen, fällt schwer, es war wohl eher ein lokales Scharmützel: Während in Russland der Feldherr Alexander Newski als Heiliger verehrt wird, sucht man in schwedischen Archiven vergeblich nach Spuren jener Ereignisse.
Die Beschreibungen der mystifizierten „Schlacht“ in russischen Quellen deuten die wahren Maßstäbe an: Ohne Heer und ohne Verbündete, nur mit seiner berittenen Gefolgschaft habe der Fürst das Lager der Schweden angegriffen und sie ohne große Mühe vertrieben. Vermutlich handelte es sich um eine private Unternehmung des späteren Gründers von Stockholm Birger Jarl. Der im Jahr 1300 gescheiterte Versuch, sich mitten im heutigen Sankt Petersburg vermittels einer Holzfestung „Landskrona“ festzusetzen, ist hingegen auch den Stockholmer Archivaren bekannt. Der zweite Versuch, die umtriebige Konkurrenz aus dem Osten loszuwerden, war für Schweden ernsthafter und erfolgreich: Gegen Ende der russisch-polnischen Kriege um Livland – so wie es sich für eine aufsteigende Großmacht gehört – griff König Johann III. 1579 auf Seiten des siegreichen Polen ein und sicherte sich Ingermanland, das bis dahin im Vasallenverhältnis zu Nowgorod stand. Bis 1617 wechselte der Landstrich noch mehrmals die Landesherren, blieb am Ende für fast ein Jahrhundert schwedisch. Es war das schwedische Jahrhundert in ganz Mitteleuropa, und Russland war nun von Europa weitgehend abgeschnitten.
Der letzte Russisch-Schwedische Krieg, der diese Bezeichnung verdient, endete vor genau 300 Jahren – im September 2021 jährte sich der Friedensschluss von Nystadt zum 300. Mal. Das unter Peter dem Großen nach einem eisfreien Seezugang strebende Russland hatte sich der Allianz der zweifachen Personalunion von Sachsen-Polen und Dänemark-Norwegen angeschlossen, die alle Schwedens Vormachtstellung im Ostseeraum zurückdrängen wollten, und der Große Nordische Krieg begann. Schweden schlug die beiden Verbündeten Russlands ohne große Mühe, scheiterte aber in der Schlacht von Poltawa – weit weg von Schwedens Küsten – am Heer von Peter dem Großen.
Russland hatte sich die Mündung der Newa nunmehr endgültig gesichert und dokumentierte dies mit der Gründung der neuen Hauptstadt exakt dort. 1703 wurde der Grundstein für Sankt Petersburg gelegt. Im Friedensvertrag von Nystadt trat Schweden zudem Estland und Livland an das aus der Taufe gehobene Russische Reich ab und wurde dafür auf Heller und Pfennig entschädigt: 2 Millionen Reichstaler zahlte der Sieger dem Besiegten. Seitdem war Frieden. Noch rechtzeitig wechselte Schweden unter Napoleons Marschall Bernadotte die Seiten und fand sich in der Völkerschlacht bei Leipzig auf der Siegerseite wieder. Dafür durfte es Norwegen annektieren. Ansonsten ging man sich respektvoll aus dem Weg, besonders herzlich waren die Beziehungen nie. Nur einmal noch taucht Schweden in russischen Schulbüchern auf: Als Lenin 1917 aus der Schweiz ins revolutionäre Petrograd reiste und einen Zwischenstopp in Stockholm einlegte. Über die neuen aggressiven Töne schmunzelt man in Russland: Die Schweden seien wohl auf eine Revanche für Poltawa und Nystadt aus. Doch den Stockholmer Chefetagen scheint es offensichtlich ganz ernst damit, aus dem kalten Frieden einen heißen Krieg werden zu lassen.
Stockholm rüstet auf
Im Dezember 2020 stimmte das schwedische Parlament einer Erhöhung des Verteidigungsbudgets des Landes um ca. 40 Prozent zu – schrittweise soll es steigen und im Jahr 2025 10,45 Milliarden US-Dollar (etwa 9,4 Milliarden Euro) betragen. Für den schwedischen Staatshaushalt ergibt sich aus dieser sukzessiven Steigerung militärischer Ausgaben eine zusätzliche Belastung von 79 Milliarden Schwedischer Kronen (7,7 Milliarden Euro) in den Jahren von 2021 bis 2025. Was das schwedische Militär mit dem zusätzlichen Geld vorhat, erklärte der Oberbefehlshaber der Streitkräfte des skandinavischen Landes General Micael Bydén nun in einem Interview für das US-Amerikanische Fachmagazin Defense News, das am 15.Dezember veröffentlicht wurde. Fünf neue Armeeregimenter und ein zusätzliches Fluggeschwader wolle man aufstellen. Insgesamt soll sich die Stärke der schwedischen Armee von derzeit 55.000 Mann (was bereits die drei im letzten Jahr aufgestellten neuen Regimenter einschließt) auf 80.000 im Jahr 2025 und etwa 100.000 im Jahr 2030 erhöhen. Gegenüber der Truppenstärke vor Beginn der derzeitigen Aufrüstungswelle würde sich der Personalbestand der schwedischen Armee damit mehr als verdoppeln. Bereits 2018 wurde in Schweden die erst 2010 ausgesetzte Wehrpflicht wieder eingeführt. Laut General Bydén berufe man derzeit jährlich 5.500 junge Männer und Frauen zum Wehrdienst ein, bis 2024 werde diese Zahl auf jährlich 8.000 steigen. Die russophobe Propaganda scheint die jungen Schweden hinreichend motiviert zu haben: Die Zahl der freiwilligen Meldungen zum Wehrdienst übersteigt den aktuellen Stellenplan um das Dreifache. In den USA gehen Schwedens Generale zugleich auf Einkaufstour: Neuerdings wurden Patriot-Luftabwehrsysteme erworben, ebenso Black Hawk-Hubschrauber. Ausdehnen will sich die schwedische Armee auch in den Weltraum: Als Untermieter auf US-amerikanischen Satelliten. Auf den Wunschlisten stehen U-Boote und F-35-Kampfflugzeuge. Die eigenen Saab 340 werden dafür als veraltet aufs Abstellgleis gefahren.
Sagen wir es offen: Die Militärmacht, die Schweden aufbaut, ist für sich genommen für Russland von keinerlei Gefahr. Die Personalstärke der russischen Streitkräfte wird auch nach Vollendung des jetzt in Stockholm eingeleiteten Ausbaus zehnmal größer sein und das russische Militärbudget war bislang dreizehn Mal höher als das schwedische, das Verhältnis wird sich bis 2025 also auf das Achtfache verringert haben. Doch Schweden plant und handelt nicht für sich allein. Obwohl es kein NATO-Mitglied ist, sieht es sich als fester Bestandteil dieser westlichen Militärallianz und ist in alle strategischen Planungen eingebunden. Das oben verlinkte Interview gab der General Bydén dem im US-Bundesstaat Virginia ansässigen Magazin, als er sich in den USA aufhielt und mit Offizieren des US-Generalstabs Gespräche führte. Er selbst gibt offen zu, dass dieser und weitere geplante Besuche in den USA dem Ausbau der militärischen Kooperation beider Länder und der Koordination der Planungen dienen.
Gemeinsame Manöver gehören bereits zum Alltag, zuletzt wurden gemeinsam Seelandeoperationen geübt. Im September 2021 beteiligte sich Schweden am NATO-Großmanöver „Northern Coasts„, im Herbst 2018 am größten Manöver der NATO seit Auflösung der Sowjetunion, dem „Trident Juncture„. Dies sei nur erwähnt, um einige Beispiele zu nennen, denn im Grunde gibt es in den vergangenen Jahren keinerlei NATO-Manöver im Ostseeraum, an dem sich Schweden nicht beteiligt hätte. Kurzum: Die Einbindung Schwedens in die Militärstrukturen des westlichen Bündnisses ist so eng, dass eine formale Mitgliedschaft in der NATO kaum noch einen Qualitätssprung darstellen würde. Und diese Formalisierung der engen Einbindung ist ebenfalls bereits in der Diskussion. In diesem Kontext stellt sich die militärische Hochrüstung des Landes mit einer 10-Millionen-Bevölkerung ganz anders als nur wie eine irrationale Überreaktion eines friedliebenden Staates auf objektiv nicht existente Bedrohungen dar. Sie ist vielmehr ein Teil einer aggressiven Gesamtstrategie des militärisch unter US-amerikanischer Führung vereinten Westens, die mindestens den Aufbau von Druck auf Russland, möglicherweise sogar die Unterwerfung oder Vernichtung des ewig verhassten östlichen Nachbarn zum Ziel hat.
Zu Scherzen sollte Russland daher über die hysterischen, aber bisher harmlosen „kleinen“ Ostseeanrainer nicht mehr aufgelegt sein: Die Bedrohungslage, zu der Schweden bewusst und zielgerichtet seinen Beitrag leistet, ist viel zu ernst, und die Kriegsbereitschaft des „Kollektiven Westens“ ist nicht mehr zu übersehen.