Auf der Tretmine

Es ist, als würde die besinnliche Stille eines Waldspazierganges, diese trügerische Sturmesruhe zwischen Bäumen und Wiesen, durch ein leises, aber doch in der Stille fein vernehmbares Knacken durchrissen. Man bleibt stehen, blickt um sich, bekommt zögerlich einen vagen Schimmer, woher dieses fremde Geräusch vernommen wurde, lugt hinab auf den Schuh des Standbeines, woher es unter der Schuhsohle knackend hervorkroch. Es ist, als würde man dessen gewahr, einer knackenden Tretmine auf den Kopf getreten zu sein.

Eine Kurzerzählung von Roberto J. De Lapuente

Mann im Minenfeld
Quelle: Dieses Bild wurde mittels KI entwickelt.

Man erahnt zwar nur, ob es sich um jenes Kriegsutensil aus den Werkstätten menschlicher Zivilisation handelt, aber zwischen Vermutung und Hoffen und Bangen schiebt sich die Gewissheit, dass ein nächster Schritt, und sei es auch nur ein winziger Schritt vor, zurück, nach rechts oder links, ein plötzliches Ende zur Folge hätte. Vernimmt man dann noch ein Ticken, ein stoisches, gleichmäßiges, in die Stille des Waldes hineintretendes Ticktack, welches gleich einem Autisten keine Verbindung zu den Dingen um sich kennt, so beschleicht einen der Gedanke, dass selbst das Ausharren auf der Mine, das sture Verweilen der Sohle an Ort und Stelle, irgendwann dank eines Zeitzünders zu detonierendem Ende führen werde. Man weiß es nur ungenau, man erahnt nur, man will von der Aussichtslosigkeit des Stehenbleibens, dem langsamen Ende herunterzählender Zeit, nichts wissen. Ohne dem Vergessen, ohne der Gabe der Naivität, wäre eine Aufrechterhaltung des Lebens undenkbar – wer vergisst, wer naiv verdrängt, dem wird Leben gespendet, wenn auch nur als Zeitkontrakt.

So steht man stundenlang, wie ein Gelähmter an der Stelle des heruntergedrückten Zündstiftes, reflektiert über seine Lage, ersinnt Fluchtpläne, die einem nicht den Rumpf von den Beinen und Armen abtrennt, eine Weile später Fluchtpläne, die einem wenigstens nur ein Bein kosten, nochmals später Fluchtpläne, bei denen man wenigstens eine Extremität zu behalten vermag. Obzwar man frei ist, man hingehen kann, wohin es beliebt; diese Freiheit, das wird einem schnell begreiflich, ist keine gehende, keine beliebige, sie ist eine robbende, kriechende, eine verblutende, die Freiheit fehlender Nachhaltigkeit, die Freiheit des Moments – vielleicht die einzige absolute Freiheit des Menschen. Ängstlich nistet man sich in der Gefangenschaft ein, erst ernüchtert, furchtsam, dann die Kette zur langen Leine verklärend, lockert die Kette hie und da, versucht aus der Anstrengung des Stehens in eine Entspannung des Sitzens zu geraten, immer die Schuhsohle satt auf den Stift pressend, immer mit Bedacht, keine Vibrationen entstehen zu lassen, sicher sei schließlich sicher. Tage und Nächte vergehen, man schläft sitzend zusammengekauert, redet sich ein, man hätte nie besser geschlafen, liegendes Schlafen sei zivilisatorischer Luxus, fern der Natur des Menschen. Man speist passierende Käfer, saugt deren Mark aus den winzigen Gliedern, befriedigt so seinen Durst, schlürft den Morgentau von den Grashalmen, kaut langsam und mit viel Genuss Gräser und kratzt den Vogelschiss, der als unregelmäßige Lieferung hinabgeschleudert wird, aus dem Haar, lutscht und schlürft daran und erfreut sich der wertvollen Nährstoffe, erfreut sich des würmischen Gustos, das trotz Verdauungstätigkeit von Stieglitz, Blaukehlchen, Nachtigall geschmacklich erhalten blieb. So, und nur so, ernähre sich der natürliche, der gesunde Mensch, der Mensch im Einklang mit der Natur; so, und nur so, dürfe der Mensch sich sättigen; so, und nur so, verwirklicht sich der wahre Mensch, findet er zurück ins Gewucher und Gewirr des Naturreiches. Aus der Kette, aus der Bürde, aus dem starren, bereits gefühlskalten Fuß, ist die absolute Freiheit entwachsen. So zu speisen, seinen Darm düngend in den sättigenden Wiesen rundherum zu entleeren, seinen Harn gleichfalls abzulassen, im Sitzen zu leben und zu schlafen: all das ist zur Freiheit geworden, ist keine Notwendigkeit aus der Situation heraus, sondern Ausdruck von tief verwurzelter Überzeugung. Nicht der Zündstift regelt dieses Leben, sondern das Leben nistet sich am Zündstift. Und das Ticken, dieser stete Begleiter, ist keine drohende Akustik mehr, es ist der Takt des Lebens, der florierende Puls der neuen Freiheit. Es bejaht tickend das Dasein am Zündstift, die lebensverneinende Bedeutung ist entschwunden.

Es ist, als säße man zu Füßen einer Mine, um sich blickend, zufrieden in die Welt und in die Zukunft glotzend, sich labend an den Köstlichkeiten der kreuchenden und fleuchenden Natur. Währenddessen die tickende Vergänglichkeit, die zur lebensbejahenden Ader geworden ist, leugnend oder beschönigend, das eigene, an den Zuständen ausgerichtete Leben als besseres, vorallem aber freiwillig gelebtes Leben preisend. Wer hat schon täglich Bäume und Wiesendüfte auf seinem Tagesprogramm? Wer verköstigt sich schon täglich mit den Annehmlichkeiten der Natur, ißt wie ein Edelmann? Es ist kein Arrangement mehr, es ist tiefe, unverbrüchlich verankerte Überzeugung. So tief, so verankert, dass ein hilfsbereiter Wanderer, der den Freiheitsüberzeugten aus seiner Lage befreien möchte, zum Angreifer wird, zum Mißgönner dieser harrenden Freiheit. So sehr, dass ein solcher Störenfried in seinem Eifer unterbunden werden muß, notfalls mit Gewalt, notfalls durch Totschlag. Es ist, als würde man einer hilfsbereiten Hand, den Befreier aus der zur Freiheit gewordenen Not, den Schädel zertrümmern. Als würde man zum Mörder einer Freiheit, die nur innerhalb der Windungen der Kettenglieder heimisch war. Und doch mordete man nicht, man befreite sich lediglich von der drohenden Unfreiheit, man verteidigte sich, handelte aus Notwehr. Wer würde in der Unfreiheit das Ticktack ersetzen, würde den Takt des Lebens in die eigene kleine Welt hinausticken? Wo bekäme man den Genuss frischer Maden und Käfer aufgetragen? Könnte man den ausgeschiedenen Darminhalt weiterhin als Dünger nachwachsender Graseskost verwenden? Das Leben am Fuße des Fußes auf dem Zündstift, hat seine Versprechungen erfüllt, Freiheit garantiert und verwirklicht. Es ist, als hätte man das Lebensglück gefunden, als hätte man aus dem Pech seines Lebens die Essenz der Glückseligkeit gepresst.

Diese Kurzerzählung erschien bereits 2009 in dem Buch »Unzugehörig« im Renneritz Verlag.

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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