Raymond Unger erklärt, warum eine infantilisierte Gesellschaft keine Debatten braucht, sondern Ansagen von Vater Staat und Mutter Tagesschau.
Ein Beitrag von Michael Meyen
Foto: Gianni Scapinello @Pixabay
Manchmal lernt der Dozent mehr als die, die in seinem Kurs sitzen. Wobei: Ich weiß natürlich nicht, was die jungen Leute mitgenommen haben, die jetzt ein paar Tage bei uns waren zu einem Retreat für Nachwuchs-Journalisten. Wir wollten einen Raum bieten fernab von Alltag, Routinen und Kollegen und über das sprechen, was die Medienmacher von morgen umtreibt. Wozu braucht eine Gesellschaft Journalismus? Woran mache ich Qualität fest? Wie gehe ich mit Angriffen um und wie kann ich vor mir selbst rechtfertigen, was ich da in aller Öffentlichkeit tue?
Für einen Nachmittag hatten wir Raymond Unger eingeladen, einst Therapeut und nun längst ein preisgekrönter Künstler, der Deutschland in seinen Sachbüchern auf die Couch legt. Die Stichworte zu diesem Autor: Babyboomer, transgenerationales Kriegstrauma, Schuldstolz. Es sei ein Risiko gewesen, sagte Raymond hinterher, ihn vor sehr viel jüngeren Menschen sprechen zu lassen, zumal vor Journalisten.
Es sei erstens eher unwahrscheinlich, dass sie die Krise schon erlebt haben, die Menschen dazu zwingt, sich ihren Kindheitsängsten zu stellen, den sprichwörtlichen Monstern unterm Bett, die Perspektive zu wechseln und erwachsen zu werden – sich von den Eltern zu lösen und eine Urteilskraft zu entwickeln, die sich auch aus der Einsicht speist, dass ich selbst dann nicht jeden Gipfel erreichen werde, wenn ich alles in die Waagschale werfe, was ich habe. Wer Ungers Bücher kennt, der weiß, dass diese Krise in aller Regel um die 40 kommt und manche auf eine Heldenreise führt, zum Egotod und zu einem neuen Ich. Das ist, ich gebe das gern zu, für Menschen um die 30 allenfalls Zukunftsmusik. Die Gruppe war sich einig: interessant, das schon, aber persönlich relevant vielleicht mal irgendwann.
Bild: Raymond Unger im Apolut-Studio
Raymonds zweiter Punkt hat mir dann geholfen, den Wandel zu erklären, den die Leitmedien gerade durchlaufen. Weg von Hanns Joachim Friedrichs, hin zu Paternalismus und Hypermoral. Nicht mehr Beobachter sein und darauf vertrauen, dass das Publikum sich einen Reim machen wird auf das, was ich ihm präsentiere, sondern, so sieht es zum Beispiel Tilo Jung, das präsentieren, „worüber die Bevölkerung informiert werden soll“, und dabei auch, ich erinnere an Carolin Emcke, auf Pro-und-Contra-Formate verzichten. Das Wort „Haltungsjournalismus“ ist hier genauso fehl am Platz wie der Begriff „Aktivismus“. Jung, Emcke und all ihre kleinen und großen Bewunderer in den Redaktionen sind das Gegenstück zu Altmeister Friedrichs, der sich dem Zweifel verschrieben hatte und den Kollegen sagen wollte, dass die „gute Sache“ des einen für den anderen von Übel sein und sich schon morgen auch für mich selbst ganz anders ausnehmen kann. „Bullshit“, sagt Carolin Emcke. Ich weiß, was richtig und vernünftig ist. Und genau das werde ich meinen Lesern, Hörern, Zuschauern verklickern.
Raymond Unger geht davon aus, dass westliche Gesellschaften an drei Fronten kognitiv angegriffen werden. Front eins nennt er Katastrophismus, verbunden mit permanenter Angst. Drohnen, Viren, Erderhitzung. Front zwei: ein Kulturkampf, der unsere Identität attackiert, weil er uns von unserer Geschichte entfremdet und von Traditionen, von der Familie, von der Heimat und vom Glauben. Und Front drei, deutlich schwerer auszumachen: die Physiologie – angefangen bei Mangelstoffen wie Vitamin D3, Omega 3 oder Lithium über die Dopaminfalle Smartphone bis zur Spikeopathie, die Entzündungen auslösen kann, das Gewebe schädigt und den Hirnstoffwechsel verändert. „Entwurzelungstechniken“, sagt Unger, die das Erwachsenwerden auch deshalb erschweren, weil die Vaterfigur genau wie vieles von dem, was einst „Männlichkeit“ ausmachte, seit Jahrzehnten verpönt ist und so jede Triangulation verhindert – die beiden Eltern und man selbst. Das Ergebnis: Kinder mit Bärten, Bäuchen und grauen Haaren, die servil sind und sich „der Wissenschaft“ unterwerfen, Experten oder einer Instanz wie Angela Merkel, die mit einem mütterlichen Duktus klare, hochmoralische Ansagen gemacht habe, damit erfolgreich gewesen sei in einer infantilisierten Gesellschaft und von ihren Nachfolgern deshalb immer noch kopiert werde.
Der Link zum Journalismus liegt auf der Hand. Hanns Joachim Friedrichs, Jahrgang 1927, noch Soldat und in Gefangenschaft, hat ein Ideal für Erwachsene hinterlassen – für Menschen mit einem starken Ich, die Widersprüche aushalten und die Kraft und den Mut haben, selbst zu denken und sich dabei auch gegen das zu stellen, was Mehrheiten zu glauben scheinen oder was von oben vorgegeben wird. Kinder brauchen einen anderen Journalismus. Kinder brauchen Ansagen. Kinder brauchen Tilo Jung und Carolin Emcke. Die Jungs und Emckes wiederum sind nicht anders als ihr Publikum und dankbar, wenn ihnen jemand sagt, was gerade zu tun ist. Ich habe das exemplarisch vor gut einem Jahr bei einem Podium mit jungen Wissenschaftlern erlebt. Eine Frau, Mitte 30, gerade auf einen Lehrstuhl berufen, lobte dort die Drittmittelfixierung mit den Argument, dass der Spielplatz Forschung so riesig sei und sie folglich dankbar sein könne, wenn ihr jemand sage, wo sie buddeln dürfe.
Was heißt das alles für die Nachwuchskünstler, die bei uns zum Retreat waren? Was heißt das für den Journalismus der Gegenöffentlichkeit? Sollen wir uns verabschieden von der Idee Aufklärung und den Leuten sagen, was sie zu denken und zu tun haben? Kein Zweifel: Es gibt diese Tendenz. Raymond Unger kennt das Gegengift: Geht auf die Heldenreise, stellt euch den Drachen oder, etwas weniger prosaisch in der Sprache von C. G. Jung, eurem Schatten, vergesst dabei aber nicht, dass Isolation und Vergeblichkeit drohen, wenn ihr auf Tatsachen, Hintergründe und Mündigkeit setzt. Für diesen klaren Blick sollte sich die Reise in die Oberpfalz gelohnt haben.
Quelle: https://www.freie-medienakademie.de/medien-plus/journalismus-fur-kinder
Prof. Michael Meyen: DIPLOMJOURNALIST (1992) – SEIT 2002 PROFESSOR AN DER LMU MÜNCHEN – VIELE JAHRE LEHRBEAUFTRAGTER AN DER LMU MÜNCHEN – ZAHLREICHE BÜCHER (DAS ELEND DER MEDIEN, BREAKING NEWS, DAS ERBE SIND WIR) PRÄSENZ IN NEUEN MEDIEN.
Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.