Deutschland steckt in der Rezession – tiefer als man es ahnen durfte. Und was macht der Spiegel so? Der berichtet prominent, dass die Deutschen beim Essen nicht mehr knausern.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Wer Augen zum Sehen hat, den können die neuesten Zahlen des Statistischen Bundesamtes nicht wirklich überraschen. Denn der Abschwung war sicht- und fassbar. Nun passte das Bundesamt die BIP-Quartalszahlen der letzten drei Jahre an – und siehe da: Wir hatten eine ziemlich lange Rezession. Sieben Quartale in Folge. Darüber gelesen hat man freilich nichts in diesen Jahren, denn so eine Rezession hätte nicht gut in die wertebasierte Haltungspolitik gepasst, die an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger vollkommen vorbeiging, die aber dennoch so und nicht anders umgesetzt wurde.
Sieben Quartale wirtschaftlich abzurutschen und dies auch noch mit Zahlen belegen zu können, das hätte manche Diskussion anders ausfallen lassen. Die Frage, wie viele Milliarden man ostwärts in die Ukraine schicken sollte, wäre unter Umständen anders behandelt worden. Denn wie vermittelt man denn eine Politik, die wirtschaftliche Probleme erzeugt und die gleichzeitig Gelder verteilt, als kämen die aus dem Nichts? Das Statistische Bundesamt und das Bundeswirtschaftsministerium machten auf Nachfrage klar, dass da nichts gemauschelt wurde – und politisch beeinflusst war schon mal gleich gar nichts. Wie dem nun wirklich oder nicht wirklich sei: Die statistische Aushebelung der Rezession kam den Verantwortlichen in der Politik zupass.
Kennzahlen des tollsten Wirtschaftsministers aller Zeiten
Eigentlich wäre das jetzt ein riesiges Thema für die freie Presse in diesem Land. Frei ist sie freilich auch, weil sie frei darüber entscheiden kann, worüber sie erzählen und sprechen will und worüber nicht. Mehrheitlich nahm man sich die Freiheit, das Thema nicht weiter anzufassen. Die Tagesschau griff die neuen Zahlen auf ihrer Webpräsenz zwar auf, aber die Dramatik der Kennzahlen vermittelt sie nicht deutlich genug. Alles scheint auf das alte Mantra ausgerichtet zu sein, welches wir in den Merkel-Jahren hierzulande verinnerlicht hatten: Weiter so!
Normalerweise würde man jetzt Ökonomen wahrnehmen müssen, die eine andere Wirtschaftspolitik befürworten – sie wären freilich reichlich spät dran, aber besser spät als nie. Man müsste auch mal über das nationale Interesse sprechen und den Amtseid, der Verpflichtung der Politik, im Sinne der Bürger zu entscheiden, die an sich ja der Souverän sind und nicht etwa die lästigen Anhängsel, derer man sich erwehren muss. Aber so richtig bekommt das Thema keine Fahrt – dass sich die Ampel fast durchgängig im Wirtschaftsabschwung befand: Das ist doch keine Kleinigkeit – zumal im Orkus der Grünen nach den Wahlen im Februar immer wieder verkündet wurde, welch grandiose Arbeit der letzte Wirtschaftsminister geleistet habe. Sie repetierten das so oft, dass selbst der damalige Bundeskanzler in spe sich dazu verleiten ließ, Robert Habeck zu bauchpinseln.
So weit her war es aber mit der Qualität dieses Mannes dann offenbar doch nicht. Seine Amtszeit war ein Abschwung von ordentlichem Kaliber. Zeitenwende und Epochenbruch: Diese Worte fallen heute oft – und hier treffen sie blendend zu. Die Bundesrepublik hat sich während jener Jahre im Abschwung eingerichtet – Maßnahmen dagegen wurden kaum getroffen, man tat so, als sei alles in bester Ordnung und die Unternehmen, die ihre Tore schlossen, würden nur Betriebsferien machen. Wobei die Vorstellung, dass die Ampelkoalition überhaupt Wirtschaftspolitik gemacht habe, ganz schön verwegen ist – sie hätte sie auch gar nicht ändern können, weil sie nie damit begonnen hatte.
Lebensmittel kaufen – trotz Preissteigerung
Jedenfalls passiert medial wenig zu diesem – ja, sagen wir es doch! – Skandal. Auf Grundlage von Zahlen, die nicht die Wirklichkeit abbildeten, machte man in den letzten drei Jahren eine Politik, die ideell, nie aber materiell getragen war. So agiert man normalerweise in Ländern, die sich eine Staatsideologie leisten. Dort zählt die Idee auch mehr als das Fressen, um auf jenes berühmte, mittlerweile wirklich nicht mehr originelle Bonmot von Bertolt Brecht zu sprechen zu kommen. Jetzt wäre es an der Zeit, dass man die Zahlen aufgreift, die Arbeit der Regierung seziert, die Politik – speziell auch die Außenpolitik – auf Herz und Nieren und Rezession prüft. Und was macht Deutschlands größtes Magazin? Mit welchem Thema macht die Online-Ausgabe des Spiegel montags auf? »Warum die Deutschen nicht mehr beim Essen knausern«! So die Headline am Montagmorgen.
Man erfährt in dem Artikel, dass sich offenbar ein neues Lebensgefühl in Deutschland ausbreitet. »Ausgerechnet in der Wirtschaftskrise gönnen sich [die Deutschen] Feinkost.« Die Story beginnt mit einem Mann, der sich im Feinkostladen einen Cognac kauft. Wert: 3499 Euro. Leistbar sei in dem Laden aber der Rotwein, günstigere Produkte kosteten dort 35 Euro – was auch schon teuer sei, aber dennoch seien viele Kunden da. Die Autorin, eine Frau namens Maria Marquart, hat also richtig Vorortrecherche betrieben. Sich in einen Feinkostladen gewagt – und aus Versehen diesen Ort mit ganz Deutschland verwechselt. Sicher, sie berichtet auch von der Krise, wie die Preise in den letzten Quartalen anzogen – sie zitiert dazu einen Marktfoschungsexperten, die Entwarnung gibt: »Die Menschen konsumieren weiterhin.« Unglaublich, dass die Menschen immer noch Lebensmittel kaufen und die teuren Preise nicht boykottieren und lieber hungern. Daraus abzuleiten, dass die Deutschen jetzt nicht mal mehr auf den Preis schauten, wenn sie Lebensmittel erstehen wollen, ist mindestens – und ganz freundlich formuliert – ein journalistisches Armutszeugnis.
Ein Rundgang durch diverse Supermärkte hätte die Berichterstatterin vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, ernüchtert. Dort kalkulieren Menschen teils so gut sichtbar, dass man schon zweifeln darf an Deutschlands neuem Lebensgefühl. Sie berichtet allerdings doch vom Premiumsegment in Supermärkten, lässt dabei eines aber außer Acht: Die findet man bei Rewe oder Edeka, eher nicht bei Discountern – die haben zwar auch solche Produkte, aber diverse Testungen machten deutlich, dass deren vermeintlichen Premiumangebote wenig taugen. Viele Menschen, die wenig Geld für ihre monatliche Ernährung zur Verfügung haben, gehen gar nicht erst zu Rewe und Edeka. Sie denken ihren Bedarf durch vergleichsweise günstige, aber auch nicht unbedingt hochwertige Produkte ab, die sie beim Discounter erstehen. Auch diese Menschen geben, ganz wie es der Spiegel-Artikel erklären will, mehr für ihre Lebensmittel aus – wie alle im Lande. Aber sie leisten sich das nicht aus Gründen des Lebensgefühls, sondern weil sie irgendwas essen müssen, eben auch, wenn die Preise stark anziehen.
Marie-Antoinette und der Spiegel
Es kann ja sein, dass sich Besserverdiener mal teures Fleisch leisten wollen – oder dass sie auch mal einen Wein für 35 Euro kredenzen. Aber die letzten Jahre, die von teils drastischen Preissteigerungen auch bei den Grundnahrungsmitteln geprägt waren, haben immer mehr Menschen dazu gebracht, beim Einkauf von Waren ganz genau abwägen zu müssen. Dazu gibt es wenig Zahlen, auch die Umsätze von Supermärkten und Discounter sind wenig aussagekräftig. Man müsste die Umsatzzahlen mindestens um die Preissteigerungen bereinigen, die wesentlich durch die außenpolitisch gewollte Steigerung der Energiepreise entstanden sind. An sich selbst und an der Routine beim Einkaufen lässt sich das aber gewissermaßen empirisch deuten: Die Menschen frönen keinem neuen Lebensgefühl, sondern knapsen und darben.
Überhaupt sollte man über dieses vermeintlich neue deutsche Lebensgefühl sprechen. Wer es mal entdecken will, schaue mal in Kindergärten oder Krankenhäuser und nehme dort das Mittagessen in Empfang. Auf den Tellern findet sich dort zumeist billigster Wareneinsatz, mit Pulver angerührte Soßen übertünchen die schlechte Fleischqualität. Lebensgefühl? Nein! Das gibt es hierzulande nur für eine überschaubare Schicht von Menschen, die sich das leisten kann. Für viele ist der Wein für 35 Euro jedoch nur mal die Ausnahme. Und für die Mehrheit sind erlesene Produkte lediglich Träume, die sich nicht erfüllen lassen.
Es ist erstaunlich, wie taktlos das vermeintlich wichtigste Magazin im Lande seine Artikel platziert. Natürlich kann man über die Feinkostwelten berichten. Es gibt sie ja. Aber so zu tun, als sei das Land gewissermaßen im Feinkostwahn, als würden die Deutschen gerade das savoir vivre und das dolce vita in einem entdecken, ist so wild, da fällt einem kaum etwas darauf ein. Wie ignorant muss man sein? Oder wie dreist? Den Menschen geht es zunehmend schlechter, die Politik stellt in Aussicht, dass künftig wesentlich öfter Schmalhans Küchenmeister sein wird: Aber der Spiegel entführt seine Leser in eine Parallelwelt, die dann auch noch pars pro toto generalisiert wird. Man hat der französischen Königin Marie-Antoinette einen Satz untergejubelt, den sie nie gesagt haben soll: »Sollen sie doch Kuchen essen!« Der Satz war glaubhaft, er spiegelte ihren Charakter wider – also neigte man dazu, ihn zu glauben. Zustande kam er, weil die Frau eine ignorante blöde Gans war. Wenn heute jemand behauptete, der Spiegel habe gesagt, dass die Armen eben Kuchen statt Brot essen sollten, wird man das auch unbesehen glauben. Denn dessen Ignoranz ist legendär.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
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