Der Absatz alkoholfreien Bieres hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Das sagt so gut wie alles über den kulturellen Verfall der Republik.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Wir wollten schnell noch los, Bier holen – oder Radler, wie man dort sagt, wo man mich großzog. Alsterwasser heißt es im hohen Norden. Kaum im Supermarkt angelangt, steuerten wir zu den Getränken. Alkoholfrei sollte es sein. Alkoholfrei? Echt jetzt?, dachte ich mir – und dabei kam mir die Weltgesundheitsorganisation in den Sinn, wie sie unlängst den Alkoholkonsum grundsätzlich ächtete. Es gäbe keine unbedenkliche Menge, publizierte die WHO im Lancet einst. Zu ungesund sei der Alkohol – ich habe damals sehr gelacht, als man darüber berichtete, denn es ist dieselbe Weltgesundheitsnichtregierungsorganisation, die ein nicht ausreichend getestetes Serum zum Gamechanger während der Corona-Jahre erklärt hat. Mehr muss man dazu nicht sagen …
In den letzten 20 Jahren haben die Brauereien in Deutschland die Produktion von alkoholfreien Bieren verdoppelt. Offenbar ist das alkoholfreie Bier auf dem Vormarsch – und eben auch dort, wo ich herkomme und wo Bier nicht einfach ein Getränk ist, sondern Lebenselixier, Bekenntnis und Stolz: Im bayerischen Freistaat. Selbst da greifen offenbar immer mehr Menschen auf das Biersurrogat zurück. Auf eine Brühe, die aussieht wie Bier und auch so schmecken soll – die aber nach Vorstellungen der Weltgesundheitsideologen um den krankmachenden Inhalt beraubt wurde.
Sich schaden ist menschlich
Bevor hier die Debatte losgeht: Ob Alkohol nun in Maßen gesund ist und nur in Massen schadet: Das ist gar nicht mein Anliegen. Natürlich kann es sein, dass zu viel Alkohol schädlich ist – ich gehe schwer davon aus, denn Alkoholiker begegnen jedem von uns im Leben. Und spätestens wenn man einen kennt, ahnt man schon, was Alkohol anzurichten vermag. Mir kommen ganz andere Gedanken, wenn ich an das alkoholfreie Helle denke. Es gibt genug ausgezeichnete Getränke, die ohne Alkohol auskommen. Warum nicht darauf zurückgreifen? Ich verstehe schon nicht, wenn man Veganern aus Seitan geformte Hähnchenschenkel anbietet, von denen es dann auch noch heißt, sie schmeckten wie richtiges Hühnchen. Ist schon mal jemand auf die Idee gekommen, Bratkartoffeln aus Rindfleisch zu machen? Oder Apfelschorle auch alkoholisch anzubieten?
Es gibt doch genug Variationen für Leib und Magen, eine richtiggehende Pluralität an Speisen und Getränke. Aber offenbar gibt es einen Drang, diese Vielfalt gar nicht leben zu wollen, sondern Ersatzspeisen zu synthetisieren. Vermutlich ist kaum jemand so abhängig von der Lebensmittelindustrie wie Veganer, die Speisen verzehren, die auf Basis von Fleischersatzstoffen und Geschmacksverstärkern basieren. Das sei ihnen ja gegönnt – dass der vegane Lifestyle jedoch derart Fuß fassen konnte, hat sicher mit der Industrie zu tun, die es liebt, wenn Kundschaft sich in ihre Abhängigkeit begibt.
Eine philosophische Frage quält mich noch viel mehr: Nehmen wir an, Alkohol ist so gefährlich, wie die WHO-Abstinenzler und die im deutschen Gesundheitsministerium anhängenden Gänseweinvertreter glauben. Hat der Mensch nicht dennoch ein Anrecht darauf, auch Substanzen zu konsumieren, die ihm schaden können? Dürfen sie nicht gewissermaßen irrational sein? Raucher sind das doch auch. Sie wissen, dass ihnen der Qualm keine blendende Konstitution einbringt. Sie tun es dennoch, weil es für sie Genuss ist, Lebensqualität – jedenfalls bis zu einem gewissen Maße. Und das wägen sie mit den Gesundheitsbestrebungen ab. Warum sollte eine Behörde oder gar eine Nichtregierungsorganisation das für sie übernehmen? Sich zu schaden, das ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft – Teil der conditio humana. Abstinenzler sind vor allem deswegen unsympathisch, weil ihnen das Bewusstsein dieses menschlichen Impulses offenbar abgeht – oder schlimmer noch, weil sie diesen Mangel auch noch ihrem Umfeld aufdrücken wollen.
Eine Askese namens Achtsamkeit
Abstinenzler sind zudem kulturlos. Denn der Konsum alkoholischer Getränke ist Kulturgut. Ein kühles Bier zu trinken, unter Kastanien an einem lauen Abend. Langsam bierselig zu werden, abzugleiten in eine Leichtigkeit, die das Leben oft nicht für einen bereithält, die der Alltag nicht anbietet. Natürlich könnte man das pietistisch als Flucht umdeuten, als den Rausch, in den unglückliche Seelen sich stürzen. Und das tun viele, die den Alkohol per se ablehnen ja auch. Sie salbadern etwas davon, dass man ohne Alkohol wohl keinen Spaß empfinden könne. Das ist eine billige Einordnung; eine, die es offenbar braucht, um seine Ablehnungshaltung irgendwie moralisch aufzuladen. Ein alkoholhaltiges Bier zu trinken – schon alleine, der Umstand, von »alkoholhaltigem Bier« zu schreiben, ist geradezu grotesk – hat nichts mit dem Antrinken von Humor zu tun. Sondern mit Genuss. Und ja, auch mit Demut vor einer Kunst, einer Kulturhandlung und damit auch, mit der Verbindung zu den Ahnen, auch Tradition genannt.
Dort wo ich herkomme, hat der Alkohol Geschichte – eigentlich stamme ich aus zwei Kulturen. Der mütterliche Teil aus Bayern. Dort ist es das Bier, oft auch das Weißbier, das ich weniger gerne trinke, weil es einen sättigt, als habe man eine Schweinshaxe verzehrt. Meine Heimatstadt ist eine Arbeiterstadt, das Weißbier oder Weizenbier sorgte einst für einen vollen Bauch, gab den Arbeitern neue Kraft. Und trieb sie gleichzeitig in Sphären, in denen sie ihr anstrengendes Tagwerk vergessen konnten. Der väterliche Teil kam aus Nordspanien, Nähe zur Rioja, womit klar ist: Hier ist es der Wein – vor allem der schwere Rotwein, der vor Tannine nur so zu strotzt und ihm Adstringenz verleiht, wie man sagt. Einen solchen zum Essen zu trinken, das gehört in dieser Gegend nicht zur Suchtbefriedigung, wie es die Temperenzler unserer Zeit wohl in ihrem Drang zur Vereinfachung glauben, sondern zur Unterstreichung der köstlichen baskischen Küche.
Rotwein soll gesund sein. Das erklärten Mediziner über viele Generationen. Rotwein und Olivenöl galten als Garanten für lange Gesundheit und manchmal auch für ein langes Leben. Der aktuelle Trend ist allerdings weniger lebensbejahend. Askese ist das Schlüsselwort unserer Zeit – nur nennt man es nicht so. Askese heißt nun Achtsamkeit. Und die äußert sich durch Verzicht: Auf Alkohol, Tabak, Fleisch und manchmal sogar alle tierischen Produkte oder jeglichen Zucker. Galt früher noch, dass alles gesund sei, wenn man es nur in Maßen zu sich führt, erklärt man heute den Generalverzicht zum Erfolgsgaranten für ein langes Leben. Ja, selbst das Rauchen war mal aus medizinischer Sicht halbwegs vertretbar, wenn man es nicht übertreibe und bei zwei, drei Zigaretten am Tag belasse. Kompromisse sind aber nicht mehr zeitgemäß. Es sind in der Tat radikale Zeiten, in denen wir zum Lachen und Schlemmen in den Keller gehen.
Der Mensch als Gott der Parameterkontrolle
Sich den Genüssen zu verweigern, ist in vielen Fällen nicht nur eine besorgniserregende Abkehr von Tradition und Kultur, sondern auch aktiv gelebte Lebensverneinung. Sie ist Zeitgeist und zeigt ihren Ausdruck in vielen Bewegungen und Entwicklungen. Nicht zuletzt in jener phantastischen Vorstellung von der Zukunft des Menschen als großen Kontrolleur seiner Welt und seiner Zukunft – ja, und seines Leibes. Seine radikalste Ausdrucksform findet dieses Bestreben in der Denkschule des Transhumanismus: Einem abgrundtief menschenverachtenden Konzept, dass den Menschen wie wir ihn kennen – wie ihn Menschen seit Jahrtausenden kennen –, überwinden möchte.
Der Mensch erhebt sich dort zu Göttlichkeit, simuliert dieses höchste Wesen in sich selbst aber lediglich – denn er wird nicht Gott, sondern ein technisch aufgerüsteter Primat, der nicht in seinem Körper steckt, sondern neben diesem steht. Der Leib wird in dieser Schule als fehlerhafter Organismus betrachtet – als Mangelwesen, das sich aus Evolution oder Schöpfung erhoben hat. Wobei sich die Herkunft, ob nun evolutionär oder von einem höchsten Wesen erschaffen, nicht als gegenständlich erweist, denn der Transhumanismus ist seltsam geschichtslos. Historie steht ihm im Weg. Was in ihm zählt ist der Mensch, der seinen Körper im Griff haben möchte. Und zwar in einem Maße, dass er ihn überwindet, damit der ihm nicht mehr im Wege steht.
Die transhumanistische Kreatur würde – Konjunktiv, es ist fraglich, ob es je dazu kommt! – sich täglich mittels Technologie durchleuchten; Vitalwerte wären ihre Börsenkurse. Der Körper wird zum sakralen Ort, der aber beliebig austausch- und ersetzbar ist. Speisen wird zur Zufuhr von Nährwerten – alles was dem Körper nicht hilft, gilt als verzichtbar. Dass der Konsum von Substanzen auch den Geist genesen lassen kann, dass Genuss für den Kopf substanziell ist, spielt in diesem reinen Körperlichkeitskult keine Rolle. Wobei der Transhumanismus die Psyche nicht völlig ausblendet. Er behandelt sie aber wie einen Teil des Körpers, rein materiell – man soll sie mit der Gabe von Medizin kontrollieren können. Dieser Kult löst das Körper-Seele-Problem auf seine Art: Indem er die Seele verstofflicht und zu einem Parameter transformiert.
Der Rausch als Fluchtpunkt
Vielleicht führt das alles zu weit – zugegeben. Nicht jeder antialkoholische Feldzug ist gleich eine transhumanistische Mission. Die Richtung ist aber dieselbe. Geschichtsvergessen sind beide: Achtsamkeitsasketen wie Transhumanisten. Sie trachten danach, die Menschen von ihrer Geschichte zu scheiden – sehen es als unproblematisch an, die Menschen von ihren Ahnen zu kappen. Denn wenn man zusammensitzt, alkoholhaltiges Bier trinkt, dann ist das mehr als zünftiges Zusammensein, mehr als sozialer Kitt: Man spricht mit seiner Herkunft, kultiviert die kulinarischen Künste, die die Altvorderen entwickelten; sie brachten den Konsum eines solchen Gebräus in die Welt – davon abzurücken, indem man dieses Getränk kastriert, lässt es an Respekt vor den Gebräuchen und Überlieferungen mangeln. Nicht falsch verstehen, nichts zu trinken ist nicht verwerflich: Aber wozu braucht es dazu ein Bier, das keines ist, weil es an der Gärung fehlt? Es gibt genug andere Möglichkeiten, seinen Durst zu löschen, die von Haus auf ohne Gärung auskommen.
Und was ist eigentlich mit dem menschlichen Trieb nach Berauschung, den man im asketischen Eifer einfach ausblendet, als sei er nicht mal der Rede wert? Wenn man ihn doch thematisiert, skizziert der Asketismus das gerne als Schwäche, als Makel der menschlichen Existenz. Als ob der Rauschsuchende eine bedauernswerte Kreatur ist. Dabei ist er einfach nur – Mensch! Ein Wesen, das sich innerhalb der materiellen Welt nach einem Eskapismus der Sinne sehnt und den Rausch als Fluchtpunkt in sich trägt. Das ist keine Schwäche, sondern in vielen Naturvölkern kultivierte Praxis, die sich in modernen Gesellschaften im Trinken von Alkohol übertragen hat – seltener auch im Drogenkonsum. Jede Gesellschaft ist auf ihre eigene Weise unglücklich, um einen berühmten Einleitungssatz von Leo Tolstoi passend umzubauen – jeder Versuch, den Menschen einen glücklichen Topos zu errichten, scheitert an der menschlichen Konditionierung. Und genau hier ist das Einfallstor der Berauschung zu finden. Das wird nie anders sein. Wer das behauptet, verleugnet den Menschen, verleugnet sich selbst.
Das zu negieren, gar zu leugnen, zeigt ein Defizit bei der Einordnung des menschlichen Daseins auf. Bei den Rauschlosen kommt unsere Gattung viel zu gut weg. Sie sei gewissermaßen so extrem vernunftbegabt, dass sie den Rausch wegvernünfteln könne. Sie müsse sich nur ermächtigen gegen die eigenen Makel und Macken, müsse die niederen Instinkte hinter sich lassen. Als ob der Mensch nicht an Widersprüchlichkeiten litte! Die ranghohen Abstinenzler geben sich als Perfektionisten aus, wollen die menschliche Rasse perfektionieren. Aber das wird nie gelingen. Die menschliche Gattung sucht einen Zustand zwischen Wirklichkeit und Wahn – und findet sie oft – nicht immer! – in der Berauschung.
Traubensaft als Wein
Natürlich habe ich in meinem Leben alkoholisch über die Stränge geschlagen. Und ja, auch sind mir Menschen begegnet, die schwere Alkoholprobleme hatten. Aber was ist die Lösung? Wie entgiftet man die Gesellschaft, vermeidet man solche Abstürze? Mit Temperenzlergeschwätz? Prohibitionsansätzen? Mit der Ächtung des Alkohols und des Rauschzustandes? Wieder probt man es, etwas was einem leidig werden kann, über die Mündigkeit der Menschen hinweg zu framen und zu stigmatisieren. Und der Alkoholiker, den es gibt und immer gab, muss als mahnendes Beispiel herhalten und sich vorführen lassen.
Um solche Werdegänge zu verhindern, schüttet diese NGO namens WHO das Kind mit dem Bade, die Kultur mit dem Bier aus. Und die Bierbrauer haben sich ein Geschäftsfeld erschlossen, dass ihre eigene Kultur untergräbt und die historische Leistung ihrer Berufsahnen untergräbt. Die deutschen Winzer stehen den antialkoholischen Bestrebungen wesentlich skeptischer gegenüber, denn alkoholfreier Wein hat sich nicht gerade als Verkaufsschlager erwiesen. Traubensaft gab es vorher schon – und weitaus günstiger. Warum sollten sich Menschen einen Wein einverleiben, der um seinen wesentlichen Geist beraubt wurde? Beim Wein ist die antialkoholische Alternative noch viel lächerlicher als beim Bier. Der Weintrinker lässt sich fallen, er schwelgt viel bewusster als der Biertrinker in den Künsten der Herstellung – und am Ende ist es die Mischung aus Geschmack und leichtem Abgleiten bei vollem Bewusstsein, die Essenz aus Boden und Sonne in sich aufzusaugen, die das Trinken des Weines zu einem Akt macht, der weit über den bloßen Konsum steht. Es ist einfach nicht dasselbe, diesen Prozess ohne Alkohol zu vollziehen.
Neulich fiel mir ein alkoholfreier Gin in die Hände. Neugierig war ich doch. Also testete ich ein Gläschen. Das klare Zeug schmeckte nach Gurkenwasser. Im Spreewald gibt es das mit Sicherheit noch besser. Und günstiger. Wer kommt auf die Idee, ein solches Produkt herzustellen? Wer kauft sowas? Und warum glaubt man, dass Menschen, die offenbar keine Spirituosen trinken wollen, einen Drang haben, den Geschmack von Gin dennoch zu erleben? Gut, das Zeug schmeckte ja nicht mal nach Gin. Wie dem auch sei, der vermeintliche Gesundheitsfeldzug ist eine ziemliche Zumutung – in vielerlei Hinsicht. Ein geradewegs unmenschliches Unterfangen. Wer will, stoße mit mir auf den Alkohol an. Er hat es verdient.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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