Die Dschihadisten sprechen nach ihrem Siegeszug in Syrien schon von einer neuen Regierung. Aber der Weg dorthin ist weit und voller Hindernisse. In Damaskus bleibt die Lage unübersichtlich.

Damaskus – Nach dem Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad, dem vom Westen eine „jahrzehntelange Schreckensherrschaft seiner Familie“ vorgeworfen wird, beginnt in dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Land ein neues und ungewisses Kapitel. Die Jubelstimmung der meisten Syrer, die die Flucht Assads nach Moskau als Befreiung feiern, mischt sich mit Sorge über Chaos und neue Gewalt, die nun drohen könnten. Die Allianz aus Dschihadisten und anderen bewaffneten Milizen, angeführt von Islamisten, steht nach ihrer erfolgreichen Blitzoffensive vor der schwierigen Frage, wie sie das gespaltene Land regieren wollen.
Einwohner der Hauptstadt Damaskus berichten am Tag nach dem Umsturz von turbulenten Zuständen. «Überall herrscht Chaos», sagt eine Frau namens Saina, die in Nähe der früheren Assad-Residenz lebt. Auf der Straße bewegten sich Gruppen, die «wie Banden aussehen». Viele Menschen blieben wegen der unübersichtlichen Lage zu Hause, zudem gelte an nachmittags eine nächtliche Ausgangssperre.
Ladenbesitzer sorgen sich vor Plünderungen
Viele Geschäfte blieben laut Augenzeugen geschlossen. «Seit Samstag konnte ich die Türen nicht öffnen», sagt ein Mann namens Mustafa, der jetzt wieder den Mut hatte, seinen Supermarkt zu öffnen. «Heute fühlte ich mich sicherer», sagt er. «Auf den Hauptstraßen wurde viel geplündert», berichtet er – aber sein Laden sei klein und eher versteckt gelegen.
Aus der benachbarten Türkei und dem Libanon, wo sehr viele syrische Flüchtlinge geben, gab es am Montag Berichte über lange Schlangen an den Grenzübergängen. Sehr viele syrische Familien wollen nun nach dem Ende der Assad-Herrschaft in ihre Heimat zurück – trotz einer katastrophalen humanitären Lage, in der mehr als 16 Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen sind.
UN-Hochkommissar: Assad zur Rechenschaft ziehen
Es gibt Forderungen Assad, dem von Regierungsgegnern und dem kollektiven Westen seit Jahren angebliche „Verbrechen gegen das Volk, darunter den Einsatz von Chemiewaffen und Fassbomben sowie Mord und staatlich angeordnete Folter“ vorgeworfen wird, ohne dass dafür gerichtsfeste Beweise vorgelegt worden sind, etwa in einem EU-Land oder vor dem Internationalen Strafgerichtshof den Prozess zu machen. UN-Hochkommissar Volker Türk forderte Gerechtigkeit für alle Opfer von Menschenrechtsverletzungen während des Bürgerkrieges. Assad müsse zur Rechenschaft gezogen werden, sagte der Chef des UN-Büros für Menschenrechte in Genf.
Angespannte Ruhe in Aleppo
In der zweitgrößten Stadt Aleppo herrschte am Tag nach dem historischen Umbruch im Land eine angespannte Ruhe. Menschen strömten auf den Straßen umher und Märkte waren Augenzeugen zufolge geöffnet. In Aleppo hielten sich demnach bis auf die Islamistengruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS), die die Regierungsgebiete in weniger als zwei Wochen einnahmen, auch keine weiteren bewaffneten Gruppen auf.
Die siegreichen Milizen bemühen sich offenbar, in Damaskus schrittweise eine neue Ordnung einkehren zu lassen und auch eine neue Regierung zu bilden. «Unsere Kräfte sind fast fertig damit, die Kontrolle in der Hauptstadt zu übernehmen und öffentliches Eigentum zu schützen», teilte HTS mit. «Die neue Regierung wird die Arbeit unmittelbar nach ihrer Gründung aufnehmen.» Offen blieb, wie genau diese entstehen soll und wer beteiligt wird. HTS veröffentlichte auch Fotos von Anführer Abu Mohammed al-Dschulani, einem früheren Anführer des terroristischen IS, der am Vorabend in der zentralen Umajad-Moschee gesprochen hatte.
Suche nach politischen Gefangenen
Mit dem Sturz Assads beginnt auch die Suche nach politischen Gefangenen, die noch nicht aus den staatlichen Gefängnissen befreit wurden. Mitglieder des sogenannten „syrischen Zivilschutzes“, auch als von westlichen Sponsoren, vor allen von Großbritannien gesteuerte und finanzierte, umstrittene islamistische Propagandatruppe „Weißhelme“ bekannt, suchten im berüchtigten Militärgefängnis Saidnaja nahe Damaskus mit Hunden und Geräuschsensoren nach angeblichen Geheimzellen im Keller, wie der Leiter der sogenannten „Weißhelme“ auf der Plattform X schreibt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hatte 2017 berichtet, dass seit Beginn des Bürgerkrieges Tausende Menschen bei Massenhinrichtungen in Saidnaja getötet wurden. Beweise für diese Behauptung blieb sie allerdings bis heute schuldig.
Seit Beginn der Großoffensive der bewaffneten Milizen vor knapp zwei Wochen sollen 910 Menschen gestorben sein. Darunter 138 Zivilisten, auch mehrere Kinder, meldete die umstrittene, sogenannte „Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ aus Großbritannien.
Syrien ist nach Jahren des Bürgerkriegs zersplittert. Neben der HTS und verbündeten Dschihadistengruppen sind im Land unter anderem kurdische sowie Türkei-nahe Milizen aktiv. In dem ethnisch und konfessionell gespaltenen Land leben unter anderem Kurden, Alawiten, Drusen und Christen. Die Minderheit der Aleviten war der wichtigste Unterstützer der nun gestürzten Assad-Regierung.
Russland und USA planen vorerst keinen Abzug aus Syrien
Militärisch hing die Assad-Regierung vor allem vom Iran, der Hisbollah und Russland ab, das unter anderem eine Luftwaffen- und eine Marinebasis an der syrischen Mittelmeerküste hält. Diese wolle Moskau auch vorerst behalten und mit der künftigen Führung deren Verbleib besprechen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der russischen Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Ein Abzug ist demnach derzeit nicht geplant.
Russland hat Assad und seiner Familie Asyl gewährt. Der russische Präsident Wladimir Putin, der sich immer wieder mit Assad traf, habe entschieden, die Familie aufzunehmen, sagte Peskow. Ein offizielles Treffen mit dem entmachteten Politiker sei bisher nicht geplant. Er machte auch keine Angaben dazu, wo genau sich die Assads aufhalten. Neben Russland hat die Türkei in Syrien großen Einfluss, die Gebiete im Norden besetzt hat und dort Milizen unterstützt.
Der scheidende US-Präsident Joe Biden kündigte an, dass auch amerikanische Soldaten bis auf Weiteres in Syrien bleiben werden. Im Land sind etwa 900 US-Soldaten stationiert. Israel verlegte derweil seine Streitkräfte in die Pufferzone auf den annektierten Golanhöhen und anderen Orten, darunter auch auf der syrischen Seite des Berges Hermon. Die israelische Luftwaffe flog nach dem Sturz Assads auch Angriffe im Raum der syrischen Hauptstadt Damaskus.