Das Gesundheitswesen für den Ernstfall fit machen: Das treibt jetzt Medien und Politik an. Dieses Thema beruht auf einem großen Missverständnis. Denn ein Ernstfall macht auch Behandlung fast unmöglich.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Mit 1.000 Verletzten pro Kriegstag rechnet in der Welt ein Unfallchirurg im Falle eines Ernstfalles. Ein Viertel davon sei dann sogar als schwerverletzt zu prognostizieren. Daher müsse man nun handeln, das Gesundheitswesen kriegstüchtig machen, um mit dieser Ausnahmebelastung fertigwerden zu können.
Hinter dieser Vorstellung steckt tatsächlich eine ziemliche Ahnungslosigkeit. Denn tritt der Ernstfall auf deutschen Boden ein, dann ist die Organisation der Lebensumstände nach den geordneten Vorstellungen der Friedensjahre, nun wahrlich nicht aufrechtzuerhalten. Zu glauben, dass Krankenhäuser dann inmitten von Kriegshandlungen fachgerecht arbeiten könnten, ist so naiv wie verwegen. Und sicherlich steckt darin auch etwas, was man als typisch Deutsch deklarieren könnte: Ordnung als halbes Leben – sogar dann noch, wenn die Ordnung zusammenbricht.
In falscher Halbsicherheit
Diese Vorstellung zeigt, wie man sich in den Kanälen, die besonders für eine Kriegsbereitschaft werben, so einen Krieg imaginiert. Er findet in diesen Gedankengängen offenbar sehr steril statt, als gäbe es eine »kriegsfreie Zone«, die fein säuberlich von der Front separiert wird. Als würde die Infrastruktur, die zu systemrelevanten Gebäuden führt, von der Gegenseite respektiert werden. Man spürt bei dieser Debatte deutlich, dass es wenig Vorstellungskraft davon gibt, was ein Ernstfall auf eigenem Boden bedeuten würde. In diesen Phantasien scheint das Land seltsam unberührt vom Kriegsgeschehen zu sein – und Kriegsexzesse kommen so gut wie gar nicht vor.
Wer sich mit den militärstrategischen Planspielen beschäftigt, die Amerikaner und Russen seit 1945 entworfen haben, der weiß, dass Deutschland in einer Dramatik in Mitleidenschaft gezogen würde, die jeglichen Versuch ordentlicher Abläufe unmöglich machte. Nicht nur die Gegenseite, die im Szenario, das uns blüht, russisch sein wird, sondern auch die vermeintlich eigene Seite, die Amerikaner also, sehen in diesen Planspielen die Vernichtung Mitteleuropas und damit der Bundesrepublik vor. Jonas Tögel bietet hier einen tieferen Einblick: Die Zerstörung Deutschlands ist ein zentrales Vorgehen im Kampf der Supermächte – die NATO dient nicht nur der Verteidigung amerikanischer Interessen, sondern hat den Auftrag, das Outsourcing der Hauptkampflinie nach Europa durchzusetzen und Europa auch aufzugeben, wenn es nicht anders geht.
Davon auszugehen, dass man in einem solchen Szenario den Betrieb der Krankenhäuser so aufstellen kann, dass sie mit Tausenden von Verletzten fertigwürden, ist wirklich ein dramatischer Irrtum, der das Publikum in eine falsche Halbsicherheit wiegt. Die Tatsache ist jedoch: Selbst, wenn man das Gesundheitswesen massiv aufrüsten, mit Personal und Material und Geld ausstatten würde: Der Ernstfall erlaubte gar keinen Ablauf jenseits des Chaos. Die Verletzten schaffen es vermutlich nicht auf Straßen zu einem Behandlungsort. Und das Personal wird seinen Dienst nicht zuverlässig erfüllen können, denn wenn einem das eigene Haus zusammenbricht und Kinder nicht mehr in Schulen und Kindergärten können, so ist das pünktliche Erscheinen zum Frühdienst nicht unbedingt die erste Priorität.
Ein nur vermeintlich präziser Krieg
Sicherlich könnte man das mit einer strikten Gesetzgebung ändern – oder zu ändern versuchen; man müsste ohnehin Menschen für den Dienst in der Krankenversorgung zwangsrekrutieren. Auch der Zwang als Methode wird bei den Apologeten der Kriegsertüchtigung mit keiner Silbe erwähnt. Sie ahnen wohl, dass eine solche Vorstellung nicht sonderlich sympathisch auf die Bevölkerung wirkt. Sich auszumalen, mit Splittern im Bein in ein Krankenhaus zu gelangen, in dem dann rekrutierte Laien medizinische Hilfstätigkeiten verrichten, ist nebenher gesagt auch nicht gerade besonders vertrauenserweckend.
Natürlich herrscht auch ein Bild darüber vor, wie im Falle des Kriegsgeschehens mit Krankenhäusern und anderen zivilen Einrichtungen umgegangen wird: Man bombardiert sie ja bekanntlich nicht – hat Respekt davor. Hat das je in einem Krieg geklappt? Oder vernimmt man nicht ständig, dass solche Einrichtungen in Mitleidenschaft gezogen werden? Oft zerstört man Krankenhäuser noch nicht mal absichtlich – sie werden zu Kollateralschäden von angeblich hochpräzisen Waffengattungen. Auch so ein Irrtum, der die Tüchtigkeitsplaner so grotesker Planungsabsichten antreibt. Krieg ist auch mit den vermeintlich präzisen Waffen, die es heute gibt und deren Nutzer von einer »sauberen Kriegsführung« schwärmen lässt, ein dauernd Tote erzeugendes Szenario. Er fabriziert Opfer, die es angeblich gar nicht geben sollte, glaubte man den Beteuerungen derer, die den Krieg als sauberer als früher deklarieren.
Wenn es jetzt so manchen umtreibt, dass das Gesundheitswesen nun endlich einen Schub erhalten könnte – sondervermögensfinanziert –, dann unterstreicht das lediglich, wie wenig qualifiziert diese Gedankengänge sind. Schon die vergangenen Jahre des pandemisch bedingten Notstandsmanagements haben offenbart, dass Krisen diesen Sektor nicht stärken, sondern fulminant schwächen – am Ende hatte man damals viele Menschen, die in der Pflege arbeiteten, in andere Berufsfelder vertrieben. Wer Krisen nutzen möchte, um die Versorgungslage verbessern zu wollen, hat die politische Kontrolle endgültig verloren.
Die losbrechende Hölle, die unvorstellbar scheint
Man sollte sich die medizinische Notfallversorgung in einem Deutschland, das zum zentralen Kriegsschauplatz geworden ist, eher wie die in einem Feldlazarett vorstellen. Die vielen Tausende von Verletzten werden kaum vor Ort behandelt werden können – sollte man es gewährleisten können, sie hinter die Frontlinien zu bringen, haben sie vielleicht die Chance einer minimalen Versorgung und die Option auf Schmerzfreiheit. Und ja, auf schnelle chirurgische Eingriffe wie Amputationen, die aufgrund andrängender Patientenzahlen, effektiver sind als etwa einzusetzende Metallplatten. Sich auszumalen, ein Bein nur deshalb abgesägt zu bekommen, weil der Personalnotstand effektive Lösungen notwendig macht, dürfte manchen auch nicht gerade begeistern. Das große Problem bliebe aber letztlich dennoch, wie man die verletzten Berliner, Frankfurter oder Kölner dorthin bekommt, wo sie behandelt werden können. Dafür wird es weder Ressourcen noch Infrastruktur geben.
Und am Ende muss man einfach eines wissen, bevor man den Weg der Kriegsvorbereitung geht: Wenn es einen erwischt, könnte es mit hoher Wahrscheinlichkeit sein, dass eine medizinische Behandlung nie stattfindet – nie stattfinden kann. Außerdem werden Krankenhäuser keine sichere Zone sein, kein humanitärer Korridor, in dem man endlich vor den Folgen des Krieges bewahrt ist. In Köln scheint man das erkannt zu haben, dort spricht man davon, ein unterirdisches Krankenhaus zu bauen. Wie gut Köln unterhöhlbar ist, hat man 2009 gesehen, als das Stadtarchiv im Boden versank. Überhaupt ist die Frage, ob man in Deutschland nach Flughafenbaudesaster überhaupt noch die hohe Kunst des Löcherschaufelns beherrscht. Aber eine Amputationsstation wird man wohl hinbekommen. Dann sieht auch nicht jeder gleich die bitteren Folgen des schieren Wahnsinns.
Diese ganze Debatte um das Gesundheitswesen, das fit gemacht werden soll für den sich ankündigen Krieg, ist so voller Augenwischereien und falscher Sicherheitsgedanken, dass einem schwant, wie es um die Vorstellungskraft derer steht, die heute ganz salopp von einem möglichen Krieg sprechen. Sie haben keine Vorstellungen von der Hölle, die losbricht. So zu tun, als würde der Gesundheitssektor die Qualen der Opfer in den Griff bekommen können: Auch das ist eine Masche, um die Konfrontation für das Publikum leichter erträglich zu machen.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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