War Opa ein Nazi? Das treibt zum 80-jährigen Jahrestag des Kriegsendes deutsche Medienschaffende an. Opa war in jedem Falle ein Opfer von Menschen, die Krieg wollten – wie Opas Urenkel auch bald, wenn wir nicht alle gehörig aufpassen.
Ein Kommentar von Roberto J. De Lapuente

80 Jahre nachdem der Spuk vorbei war, fragen sich deutsche Journalisten in ihren Mittzwanzigern und Mittdreißigern immer noch, ob Großvater vielleicht ein Nazi war. Oder Urgroßvater. In den Sechzigern wusste man, dass Vater bei der Wehrmacht war. Aber wie hat er gedacht und gefühlt? Stimmte er in den frühen Tagen für Adolf Hitler? Hegte er Sympathien für marodierende SA-Rotten? Die Motivationen kannte man nicht – da die Kriegsgeneration lieber schwieg, interpretierte man die Stille etwas wohlfeil als Zuspruch. Traumata ließ man nicht gelten, Soldaten der Wehrmacht kennen keinen Schmerz – die jungen Leute, die mit ihren Altvorderen abrechneten, teilten diese Ansicht von der Härte des Gemütes mit denen, die die Altvorderen einst in den Krieg schickten.
War Opa also ein Nazi? Warum eigentlich nur der Opa? Warum nicht die Oma? Die saß tendenziell eher in einem Luftschutzkeller und zitterte, nicht verschüttet zu werden. Die deutsche Geschichtsdeutung will also, dass die Mütter der Erziehungsberechtigten Opfer der Umstände waren, während die Väter der Erziehungsberechtigten einen Krieg ausfochten, den auch ihre Frauen auszubaden hatten. Etwa sechs Prozent der NSDAP-Mitglieder waren weiblich. Fürwahr eine Minderheit! Aber da man Minderheiten bekanntlich nicht einfach ausblenden darf, so stellt sich die Frage auch hier: War Oma ein Nazi? Schön ist indes, dass Nazi genderneutral ist.
Opfer, wie einst der Großvater
Das Problem ist jetzt nur: Opa ist tot. Oma starb im Regelfall danach. Das ist eine der Ursachen, weshalb wir heute so beschwingt über Kriegsnotwendigkeiten und Kriegsbereitschaften sprechen. Wir haben ja schon gehört, die Altvorderen schwiegen lieber, wenn es um den Krieg ging, den sie an der eigenen Haut erlebten. Sie hatten genug davon gesehen und gespürt. Warum längst verflossene Erinnerungen wiederbeleben, an die man nicht mehr denken mag und die einen in ein emotionales Loch werfen? So kann man doch nicht leben! Wer über den Krieg spricht, wer über ihn zumindest nicht schlecht spricht, der hat ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht am eigenen Leib erfahren – und sich offensichtlich auch keine tiefergehenden Gedanken dazu gemacht.
Jetzt noch den Großeltern nachforschen, ob sie damals nationalsozialistisch waren oder nicht, ist nicht nur eine Idee, die um Jahrzehnte zu spät kommt. Sie ist in dieser Zeit irgendwie auch seltsam deplatziert. Denn egal ob Opa Nazi war oder nicht, am Ende war er einer, der in einen Einsatz geschickt wurde, den er ganz sicher nicht für sich erdacht hätte: In den Krieg, an die Front, in den Graben und in den Städtekampf. Die Generation damals, so wurde berichtet, brach nicht jubelnd in den Krieg auf, wie es noch deren Vätergeneration 1914 tat. War also Opa ein Opfer des Krieges? Das kann man bejahen, ohne sich mit ihm besprechen zu müssen. Und das wäre auch eine Frage, die eine gewisse zeitgenössische Ergiebigkeit zeitigte. Denn hier zeigten sich Parallelen und Kontinuitäten: Mag Großvater auch wie ein Fremder auf seinen zurückgelassenen Enkel von heute wirken – was beide verbindet, ist mächtigen Entscheidern ausgeliefert zu sein, die einen Waffengang einfädeln.
Das wäre ein Ansatz gewesen, den man zum 80-jährigen Jahrestag hätte wählen sollen. Auf den vermeintlichen oder tatsächlichen Nazi-Opa auszuweichen, darf man da getrost als Ablenkungsmanöver wahrnehmen. Ebenso wie das wohlfeile Geschwätz, dass einem weismachen will, dass sich das von damals nie wiederholen dürfe, um gleich nach dem Sonntagsgerede wieder über Waffenlieferungen und Kriegsfähigkeit gegenüber Russland zu sprechen. Natürlich fehlte auch nicht der Fingerzeig auf der AfD, die man ja immer dann meint, wenn es heißt, dasselbe wie damals dürfe sich nicht nochmals ereignen. Damals ereignete sich aber auch ein Krieg, der forciert war von jenen Altvorderen, von den nationalsozialistischen Führungsfiguren: Wer forciert heute? Und warum sind es ausgerechnet diejenigen, die heute forcieren, die vor damals mahnen?
Unbesonnen Besonnenheit wünschen
Deutschland hat sich zu einem seltsamen Land entwickelt, zu einem Ort voller Wahnsinn und kognitiver Dissonanzen – richtig schlüssig ist kaum noch etwas, was der Bevölkerung vermittelt werden soll. Man windet sich, duckt sich weg – und zwar immer dann, wenn Ereignisse dazu geeignet wären, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Gedenken zum 80-jährigen Jahrestag des Kriegsendes, wäre so ein Anlass gewesen. Natürlich hatte Deutschland jenen Krieg verbrochen. (Lassen wir außer Acht, dass das Land durch die Bürde und die Maßlosigkeit des Versailler Vertrages nicht ausreichend stabil war und ein Stück weit zum Scheitern verurteilt war.) Aber nachdem Gatten, Söhne, Enkel, Brüder, Freunde, Verlobte und Vereinskollegen nicht mehr nach Hause kamen, fragte doch keiner mehr nach der Schuld oder der politischen Haltung, die die »Gefallenen« hatten. Da war nur noch der Tod – auf allen Seiten, bei den Siegern und den Besiegten, bei den Schuldigen und Unschuldigen. In den Sturzbächen, die der Blutrausch verursacht, spielt Moral keine große Rolle.
Ab einem bestimmten Punkt geht es nur noch um die Vermeidung von Leid, um das Ende des Schlachtens – für Schuldfragen ist man ab einem gewissen Moment viel zu ermüdet. Es erzeugt nach dem Ringen keinen Mehrwert, wenn man der Schuld auf den Grund geht. Natürlich kannte dieser Krieg, der vor 80 Jahren ein Ende fand, viele Täter. Doch am Ende stand die Erkenntnis: Opfer waren alle – nicht unbedingt die Staaten und Supermächte, die aus dem Krieg hervorgingen. Aber die normalen Menschen, über die der Krieg und seine todbringenden Folgen kam, waren und blieben Opfer. Ganz egal, auf welcher Seite des Schlachtens sie um ihr nacktes Überleben rangen.
Das wäre eine Erkenntnis für so einen tragischen 80. Jahrestag gewesen. Europa hat die Hölle durchgemacht – Millionen verloren ihr Leben. Noch mehr verloren ihre Lieben. Traumatisiert gingen sie zurück in ein bürgerliches Leben. Verschlossen das erfahrene Leid, die Zeit, in der der Tod ihr zuverlässigster Begleiter war, tief ins sich weg. Nie wieder: Das hätte man sagen können und auf die aktuelle politische Lage verweisend. Nie wie Krieg! – Papst Leo XIV. hat am Wochenende dafür gebetet. Aber jene Politiker in Deutschland, die dem Oberhaupt der Katholischen Kirche in völliger Vermessenheit »Besonnenheit« mit auf dem Weg geben, während es ihnen daran mangelt, fanden diese Worte nicht 80 Jahre nach Kriegsende. Stattdessen lenkt man damit ab, nochmals den politischen Status von Großeltern zu inspizieren, die ohnehin nicht mehr unter uns verweilen. Damit gewinnt man aber für die Zukunft nichts. Auf diese Weise generiert man lediglich die Rechtfertigung, einen drohenden großen Krieg in Europa sehenden Auges in Kauf zu nehmen. War Opa also ein Faschist? Die Frage des Augenblickes lautet eher: Ist Opas Urenkel einer? Oder mindestens einer, der den Faschisten anstandslos folgt, wenn sie ihn losschicken?
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.