Du sollst nicht lügen. Das ist ein Gebot – aber kein Gesetz. Daher ist lügen zwar nicht gerne gesehen, aber nicht verboten. Die neue Regierung plant nun allerdings eine Wahrheitspflicht.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Der Kampf gegen Desinformation geht wohl auch mit einem Kabinett unter Führung Friedrich Merz‘ weiter. Wer dachte, dass die noch amtierende Innenministerin endgültig von einer Strategie abgelöst würde, die wieder verstärkt auf rechtsstaatliche Grundprämissen baut, darf sich der Naivität bezichtigen lassen. Die Koalition im Wartestand bastelt an der Intransparenz einerseits (Stichwort: Eindämmung des Informationsfreiheitsgesetzes) – und versucht die Netzwerke andererseits geradezu pietistisch umzustrukturieren.
In einem Verhandlungspapier am Rande der Koalitionsverhandlungen liest man dann so einen kruden Satz wie jenen: »Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt.« Das ist ein verwegener Satz – etwas, was nicht haltbar ist, was aber andeutet, wie die schwarz-rote Koalition gedenkt, Staat zu machen. Sie erklärt natürlich, es gehe dabei um die Einhegung von Desinformation. Und dabei tut sie so, als sei Desinformation grundsätzlich verboten.
»Ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen«
Mancher regierungsnahe Leser muss jetzt an dieser Stelle ganz stark sein, denn nun kommt es knüppeldick – denn lassen Sie sich eines gesagt sein: Alle Menschen haben in dieser Republik gewissermaßen ein Grundrecht auf Desinformation. Behauptet nicht irgendwer – nein, das sagt das Bundesverfassungsgericht. Per Beschluss des ersten Senates vom 28. November 2011 liest man dort, dass Äußerungen stets »in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG« fallen. Und zwar »ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden«.
So weit so gut. Aber es geht noch weiter: »Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden […] Der Meinungsäußernde ist insbesondere auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrundeliegenden Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf die Werteloyalität baut, diese aber nicht erzwingt«. Wer nun glaubt, dass wir hier nur von privaten Meinungen ausgehen müssen, die von den zeitgenössischen Koalitionären gar nicht gemeint sein dürften, dem sei noch folgender Passus empfohlen: »Neben Meinungen sind vom Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG aber auch Tatsachenmitteilungen umfasst, soweit sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen sind beziehungsweise sein können.«
Das heißt demnach, dass auch Berichterstattung, die einen anderen Fokus auf die Geschehnisse legt, nicht sofort außerhalb der Schutzbereiches der Meinungsfreiheit steht. Genau das muss man jedoch als eigentliches Movens der sich neu formierenden Bundesregierung befürchten. Auch folgende Stelle des Beschlusses des ersten Senates spricht nicht dagegen: »Nicht mehr in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG fallen hingegen bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen, da sie zu der verfassungsrechtlich gewährleisteten Meinungsbildung nichts beitragen können. Allerdings dürfen die Anforderungen an die Wahrheitspflicht nicht so bemessen werden, dass darunter die Funktion der Meinungsfreiheit leidet.« Man muss also einer aus Regierungswarte leidigen Berichterstattung bewusste Desinformation unterstellen, damit sie aus dem Schutz fällt – sprich: Man muss ihr Lüge nachsagen, damit sie juristisch als nicht mehr schützenswert erachtet werden kann.
Die Aberkennung der Meinung der Anderen
Das aber ist in den seltensten Fällen »alternativer Berichterstattung« der Fall. In den meisten Fällen geht es um eine andere Ausleuchtung von Tatsachen, Geschehnissen und Aussagen. Folglich darf man von verschiedenen Interpretation sprechen – die wurden aber schon von der jetzt nur noch geschäftsführend im Amt befindlichen Regierung als Falschinformation gekennzeichnet. Bekanntestes Beispiel dürfte die Thematisierung jener Hypothese sein, wonach das Corona-Virus nicht in der Natur entstand, sondern aus einem Labor kam. Wer das in Social Media ausbreitete, handelt sich Löschungen des Posts und sogar Account-Sperrungen ein: Wegen Verbreitung von Falschinformationen. Diese Praxis entsprach ganz sicher nicht dem, was das Bundesverfassungsgericht im November 2011 kundtat.
Man hat spätestens mit den Pandemiejahren damit begonnen, jede Interpretation der Weltgeschehnisse, die nicht dem jeweils gängigen Regierungsnarrativ entsprachen, zu einer gezielten Lüge umzudeuten. Das erlaubte den politisch Mächtigen, alles abseits ihrer Deutung, als einen Akt zu artikulieren, der keinen Anspruch auf den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG stellen dürfe. Auf diese Weise degradierte man Aussagen und Berichterstattungen, die die Regierungsarbeit verunsichern könnten.
Die Etablierung der Lügen der Anderen: Das ist es, was eigentlich hinter diesem Kampf gegen die Desinformation steht. Auf diese Weise ist es gelungen, jegliche Opposition gegen den Eskalationskurs der Bundesregierung in puncto Ukraine und Russland zu unterbinden. Es geht um die Aberkennung der Meinung der Anderen und ihres differenten Blickes auf die Umstände und Geschehnisse, die dazu geeignet wären, Debatten zu entfachen, die ganz im Sinne demokratischer Vorstellungen, zu einem gesellschaftlichen Abwägen führen könnten. Aber so einen Diskurs will man eben nicht – man kann ihn vom Grundsatz auf verunmöglichen, indem man von »bewussten Unwahrheiten« spricht, die angeblich keinen Anspruch auf Meinungsfreiheit haben – wobei das Bundesverfassungsgericht ja auch da ausdrücklich darauf hinwies, dass man die Wahrheitspflicht nicht zu hoch hängen dürfe.
Der Adel der Wahrhaftigkeit
Man darf nun getrost behaupten, dass die Koalitionäre im Augenblick daran feilen, den sozialen Netzwerken eine Wahrheitspflicht auferlegen zu wollen – und damit jedem Bürger, der sich auf solchen Plattformen tummelt. Der Kampf gegen die Desinformation, wie man das innerhalb von Westeuropas politischer Klasse nennt, ist ein Instrument, das die Meinungsfreiheit in ein sehr enges Korsett zwängen will. Meinung ist freilich nach wie vor erlaubt – aber die richtige soll es dann schon sein. Neu ist das nicht. Aber durch die Äußerungen der Schwarz-Roten der letzten Tage, durch die bewusste Einführung des »bewussten Täuschens«, offenbart sich nochmals die Tragweite dieses Vorgehens.
Inszenatorisch lässt sich diese Strategie natürlich pietistisch aufplustern, indem man einen Kreuzzug gegen die Lüge simuliert – was natürlich immer auch zur Folge hat, dass die Kämpfer gegen das Regime der Lügner, automatisch auch zugleich im Lager der Wahrheit stehen. Sie treten dabei auf, wie ein Adel der Wahrhaftigkeit. Die Inszenierung ist also natürlich abermals manichäischer Natur: Licht gegen Dunkel, Weiß gegen Schwarz und damit auch Gut gegen Böse und Wahrheit gegen Lüge. Keine Grauzonen, keine Zwischen- und Interpretationsspielräume: Sondern der rücksichtslose Kampf gegen alles, was nicht wahr im Sinne derer ist, die die Wahrheit für sich in Anspruch nehmen.
So wie es die eine Wissenschaft in den Pandemiejahren gab, die nur die eine richtige Ansicht verbreitete, so setzt man diesen eindimensionalen Kurs weiter fort, indem man alles zur Lüge umdeutet, was nicht der Wahrheit der Mächtigen dient. Dass Wahrheit immer auch ein »bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien und Anthropomorphismen« darstellt, wie einst Friedrich Nietzsche schrieb, also »eine Summe menschlicher Realtionen«, kommt in dieser Eindimensionalität nicht mehr vor. Wahrheiten sind, nochmals Nietzsche, immer auch »Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind«. Eine Illusion ist es auch, den Menschen vorzugaukeln, man könne als Mensch nur innerhalb der Wahrheit leben – so wie es diese Kämpfer gegen die angebliche Lüge tun. Diese Leute sind die eigentlichen Lügner.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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