Der Bundeskanzler fühlte sich von Sandra Maischberger nicht angegriffen. Na, Gott sei Dank!
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente
![ARD-Hauptstadtstudio](https://overton-magazin.de/wp-content/uploads/2025/02/ARDHauptstadtstudio.jpg)
Seltsamer Augenblick letzte Woche in der Sendung von Sandra Maischberger. Der noch amtierende Bundeskanzler ist zu Gast und wird von der Moderatorin zur deutschen Wirtschaft befragt. Der gehe es sehr schlecht, die Wachstumsprognosen haben sich – mal wieder – als Irrläufer erwiesen und Deutschland sei gar Schlusslicht im internationalen Vergleich, fast alle anderen Industrienationen würden besser abschneiden. Maischberger wollte nun wissen: Was ist des Kanzlers Verantwortung für diese Misere?
Scholz antwortet: »Die Frage darf man stellen.« Maischberger, ein bisschen schnippisch, erwidert: »Danke.« Und schiebt nach: »Die Frage muss man stellen.« Das bejaht Olaf Scholz und übt sich in dem Versuch einer Erklärung, wonach er damit nur zum Ausdruck bringen wollte, dass er sich nicht davon angegriffen fühle. Kleiner Mann ganz großherzig: Das ist doch beruhigend, dass der Kanzler sind wohl fühlt im Studio.
Friede, Freude, Berlin-Mitte
Wäre Maischberger eine weitaus bessere (oder unabhängigere) Journalistin, als sie es tatsächlich ist, hätte sie für einen Moment eine Grundsatzdiskussion eröffnen können. Sie hätte dem Bundeskanzler klarmachen können und müssen, dass es völlig gleichgültig ist, ob er sich angegriffen fühlt oder nicht. Seine Befindlichkeiten sind nicht von Relevanz. Er hat für sein Amt kandidiert, er wollte Bundeskanzler werden – und das ist kein Job, den man antreten sollte, weil man auf Karriere steht und damit nur sich und seiner Familie Rechenschaft schuldig ist. Es ist ein Mandat: Und wenigstens in der Theorie ist man erster Diener seines Volkes. Daraus ergibt sich, dass irgendwelche Kanzlerbauchweh und Ministerkopfschmerzen, die man bei kritischen Fragen und Zwischenrufen, bei wütenden Reaktionen und zornigen Vorwürfen bekommen mag, überhaupt keinen Anspruch auf allgemeine Wahrnehmung haben.
Sandra Maischberger tat das selbstverständlich nicht – denn sie weiß auch, dass wieder Zeiten kommen werden, in denen sie bloß Stichworte zu nennen hat. Dann muss sie die wichtigen Fragen nicht mehr stellen, weil sie wohl ahnt, dass sich gewisse Herren oder Damen, Damen oder Herren, aus der Politik eben doch angegriffen fühlen. Und das weiß man im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gerne zu vermeiden. Zu viel Einfluss haben die Parteien auf die Sendeanstalten, als dass man sich immerzu Fragen erlauben dürfte, bei denen sich Befragte aus dem politischen Milieu angegriffen fühlen könnten.
Olaf Scholz sagt damit ja indirekt ebenfalls, dass er weiß, wie es gemeinhin stattfindet. Normalerweise wäre sein Stand brüskiert – aber er weiß natürlich auch, dass jetzt Wahlkampf ist, dass die Zuschauer erwarten, dass doch mal kritisch gefragt oder vielleicht nachgebohrt wird. Er ist also nicht sauer. Es ist alles im Lot. Es stört die traute Zusammenarbeit nicht. Berlin-Mitte ist auch zu klein, um sich aus dem Wege zu gehen – da ist es doch viel einfacher, man arbeitet zusammen und nicht gegeneinander.
Als Nahles ging
Das erinnert an einen anderen Vorfall, der für die Medien keiner war: Im Juni 2019 verabschiedete sich eine andere Größe der Sozialdemokratie aus Amt und Weihen: Andrea Nahles. Vor dem Willy-Brandt-Haus trat sie vor einige hingestellte Mikrofone und sprach etwas aus, was die Berliner Journalisten nicht weiter aufgriffen: Sie bedankte sich explizit bei der Presse für die gute Zusammenarbeit.
In diesem letzten Statement der Nahles steckte die Crux unserer politischen Landschaft, die ganze Misere des politisch-journalistischen Komplexes – speziell in Berlin, in diesem Mikrokuschelkosmos, in dem Parteien und Medien, Medien und Parteien, nicht immer säuberlich getrennt voneinander arbeiten. Ich kann mich ja täuschen und viele junge Menschen wissen das vielleicht auch gar nicht mehr: Aber eine gute Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Welten ist im Grunde gar nicht vorgesehen. Ja, auch gar nicht nötig, um als Regulative, als vermeintlich vierte Gewalt, fungieren zu können. Ganz im Gegenteil: Gewahrte Distanz galt als ein Kriterium guter journalistischer Arbeit. Ob sich ein Kanzler oder eine Ministerin angegriffen fühlen, um bei Scholzens Aussage zu bleiben, ist überhaupt kein Thema, das Berücksichtigung zu finden hätte.
Wenn aber doch, so ist das Gefühl, angegriffen worden zu sein, eher als ein Beleg dafür zu sehen, dass jemand seine journalistische Arbeit sorgsam verrichtet hat. Hört man älteren Vertretern dieser Zunft zu, so erzählen sie einem von den Kämpfen, die sie ausfochten und wie man zu Kollegen aufsah, die mit diesem oder jenem Mächtigen auf Kriegsfuß standen. Heute mag es andersherum sein, neidet man der Kollegin, die so elegant die Stichwortkarten in Händen hält, das gute Verhältnis zum grünen Spitzenkandidatenbeau oder einem vielleicht etwas fähigeren Minister. Wer mit denen kann, hat es geschafft als – Regierungssprecher.
Brandmauer des Vertrauens
Vor Jahren las ich ein interessantes Buch namens »Unter Bankern. Eine Spezies wird besichtigt« von Joris Luyendijk. Der Niederländer hatte keine Ahnung von der Branche, fuchste sich aber rein, wie man so sagt. Auf diese Weise erschlossen Autor und Leser zusammen eine für sie unbekannte Welt – Luyendijk machte sich auf den Weg in The City, den Londoner Finanzdistrikt und sprach mit Menschen, die auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen für große Bankhäuser arbeiteten. Interessant erschien ihm dabei ein ganz besonderes Konzept, das im Jargon der Branche als Chinesische Mauer bekannt ist.
Luyendijk kam drauf, weil er den Eindruck hatte, dass jeder Banker in einer Isolierkammer zu sitzen schien. Langsam dämmerte es dem Autor: Die großen Multibanken waren kein in sich geschlossenes Konzept, sie waren miteinander und auch hausintern wie ein »Inselreich im Nebel« organisiert. Keine Abteilung wusste so genau, was die andere trieb. Das ist nicht auf Kommunikationsverweigerung zurückzuführen, sondern auf abteilungsübergreifenden Wettbewerb. Die Multis bieten ja verschiedenste Dienstleistungen verschiedensten Kundenkreisen an, sodass sie leicht in einen Interessenskonflikt geraten könnten. Wenn beispielsweise die »Banker aus der Abteilung Fusionen und Übernahmen, der das Ölunternehmen Shell in Sachen eines kursrelevanten Erwerbs oder einer kursrelevanten Veräußerung berät, diese Information mit einem Kollegen aus dem Bereich Sales Trading teilt, der sein Geld verdient, indem er seine Kunden beispielsweise dazu überredet, mit Aktien von Shell zu handeln«, dann haben wir es mit einem Interessens- und Loyalitätskonflikt zu tun.
Wenn das Bankhäusern in einem Hochhaus gelingt, warum dann nicht im nebligen Inselreich von Berlin-Mitte? So eine Mauer wäre nicht nur dem Berufsethos geschuldet, sondern hätte das Potenzial, ein wenig Vertrauen gutzumachen. Insofern wäre das Abstandsgebot zwischen Politik und Journalismus eine Brandmauer von kapitaler Bedeutung für die Zukunft dieses Landes. Denn nur die Trennung dieses Komplexes, der sich in Berlin-Mitte ausgebreitet hat, birgt die Chance, den politischen Kurs der totalen Unfähigkeit (hier wahlweise »Korruption« einfügen) einzudämmen. Das und eine Kränkungspflicht für Journalisten, die mindestens einmal im Jahr einen Berliner Spitzenpolitiker angreifen und kränken müssen, könnten dem Berufsstand wieder in die Schuhe helfen. Kanzleramt und Redaktionen müssen das jetzt nur noch mit Washington absprechen – dann könnte es mit der Brandmauer gleich morgen schon losgehen.
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.
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