Europäische Zeitenwende: Während Dresden noch trauert, rüstet Görlitz auf

Vor 80 Jahren ging Dresden durch angloamerikanische Bomben in Flammen auf. Der „totale Krieg“, der fünfeinhalb Jahre vorher von deutschem Boden ausging, schlug – wie ein Boomerang – zurück. Den Zeitzeugen blieb „Nie wieder Krieg, nie mehr Faschismus“ für immer im Gedächtnis. Doch diese Generation ist weitestgehend abgetreten. Deren realitätsentfernte Enkel haben das Ruder übernommen – und lassen sich zu nützlichen Idioten der Rüstungsindustrie machen, nachdem sie zuvor die anderen Wirtschaftszweige nachhaltig ruiniert haben. 

„Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens. […] Ich stehe am Ausgangstor des Lebens und beneide alle meine toten Geisteskameraden, denen dieses Erlebnis erspart geblieben ist“ Gerhart Hauptmann (1862–1946)

Ein Meinungsbeitrag von Sven Brajer

shutterstock/Kev Gregory

Alles ging ganz schnell. Ich stand zufällig unmittelbar daneben, als am 13. Februar 2011 die Steine flogen – sogenannte Autonome warfen diese auf anfahrende Polizeiwagen in der Dresdner Südvorstadt. Es schepperte massiv, dann kamen immer mehr „Wannen“ mit Blaulicht an und die schwer ausgerüsteten Beamte rannten als Antwort darauf alles nieder, was Ihnen in die Quere kam. 

Instrumentalisierung von Gedenken. Links, rechts. Richtig oder falsch: „Rechte legen Kränze auf Heidefriedhof ab, Linke werfen Farbbeutel“ – schreibt die Sächsische Zeitung heute. Wer hat die Deutungshoheit? Reden wir über doofe Nazis, die damals angeblich „zurecht“ nach dem Motto: „Das Volk muss weg“ gestorben sind? Oder Zivilisten, die nicht als Widerstandskämpfer gegen totalitäre Strukturen geboren worden sind? Die Frage kann und soll hier nicht beantwortet werden. Vielleicht nur so viel: Auf Gewalt mit Gewalt zu antworten oder zumindest danach zu schreien – so „demokratisch“ und „freiheitlich“ das propagandistisch auch verkauft wird – erzeugt in der Regel immer eine Eskalationsspirale – oft ein einhergehend mit vielen Toten, Verletzten und jeder Menge Hass.

Doch langsam nimmt das Interesse am Gedenken an „Dresden 1945“ Jahr für Jahr ab. Nicht zuletzt, da kaum noch Zeitzeugen aus dieser fernen Zeit berichten können, der „Schnee von gestern“ immer weniger interessiert – und sich die Bundesrepublik bekanntlich mitten in einem neuen Krieg befindet, glaubt man der Äußerung von Noch-Außenministerin Annalena Baerbock aus dem Jahr 2023: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander“. Das inflationäre wie anmaßend gebrauchte „wir“, meint hier die pöbelnden Herrschenden im Westen und deren Untertanen, die zusammen eine „europäische“ Volkgemeinschaft gegen den Feind im Osten bilden (sollen). Nicht mehr dazu gehört seit Januar die USA. Während die EU und insbesondere die Bundesrepublik nur noch am Katzentisch beim Thema Ukraine Platz nehmen dürfen, ist die Trump-Administration dabei ihren eigenen Frieden mit Russland zu schließen – über den Kopf der Europäer und Ukrainer hinweg. Die EU darf weiterhin lediglich Zahlmeister – demnächst für den Wiederaufbau spielen – und viele EU-Regierungen mit prominenter Unterstützung von Ursula von der Leyenkönnen nun hemmungslos ihre Rüstungslobbyisten bedienen – wenn Uncle Sam als vermeintliche „Schutzmacht“ ausfällt. Bei Rheinmetall, Hensoldt und Co. knallen in der Woche der „Münchner Sicherheitskonferenz“ die Korken und die Aktien gehen durch die Decke. 

Passend dazu werden die politischen Weichen gestellt: Kanzler in spe Friedrich Merz und seine „christdemokratische“ Partei – abgesehen von Habeck, Baerbock, Hofreiter und Co. – steht wie kein Zweiter für Aufrüstung und Militarisierung der Gesellschaft. So verkündete er jüngst mit Blick auf die Nato: 

„Wir müssen erst einmal das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erreichen, davon liegen wir noch 30 bis 40 Milliarden Euro pro Jahr entfernt. Ich gehe aber davon aus, dass das Ziel in Zukunft noch höher angesetzt werden muss.“

Das schafft natürlich neben weiterer Steuerbelastungen für Otto Normalbürger auch Arbeitsplätze – die gebraucht werden, denn Auto-, Chemie- und Textilindustrie sind ohnehin schon ins Ausland geflüchtet oder nachhaltig Pleite gegangen. Ähnlich auch der Waggonbau. In Görlitz. Trotz angestrebter „Verkehrswende“. Dort gehen nach 175 Jahren in dieser Branche die Lichter aus. Zwei Weltkriege, Nazis, Kommunisten und die Treuhand – viel hat die einstmals von Johann Christoph Lüders gegründete Firma von zeitweisem Weltrang überstanden. „Corona-Maßnahmen“, Atomausstieg, „Energiewende“, antirussische Sanktionen und einen grünen Wirtschaftsminister aber nicht. Den Menschen vor Ort muss man das und die zukünftige Produktion von Panzerteilen natürlich etwas anders verkaufen, letztendlich wird in Görlitz ja – wie einstmals auch am Hindukusch – „unsere Freiheit“ verteidigt. So schreibt die Sächsische Zeitung im „besten“ Scholz-Duktus:

„Die Zeitenwende stellt viele Gewissheiten der vergangenen 30 Jahre infrage und sie berührt existenzielle Fragen. Das wahrzunehmen, ist umso wichtiger, wenn man selbst zu anderen Erkenntnissen gekommen ist. Diese Gruppe gibt es eben auch, auch wenn sie eher im Westen als im Osten vertreten ist, eher bei jüngeren als älteren Menschen. Aber nach allen Meinungsumfragen ist sie in der Mehrheit. Ein junger grüner Kommunalpolitiker aus der Oberlausitz erklärte vor einiger Zeit gegenüber Journalisten, für ihn habe Frieden mit Freiheit zu tun; ein Wort, das die Debattengegner in diesem Zusammenhang kaum verwenden. Das eine sei ohne das andere nichts wert.“

Das passt natürlich hervorragend zu einer anderen Aussage von Friedrich Merz: Man habe sich in den vergangenen Jahren angewöhnt, zu sagen, dass man „in Frieden und Freiheit“ in diesem Land leben wolle. Doch das sei die falsche Reihenfolge. Nicht der Frieden sei das Wichtigste. „Frieden gibt es auf jedem Friedhof.“ Freiheit sei das Wichtigste für eine offene und liberale Gesellschaft. „Erst wenn Freiheit besteht, erst dann kann es Frieden geben.“ Gut, dass „Corona“ vorbei ist, möchte man der Sächsischen Zeitung und Herrn Merz entgegenhalten. Und vor allem: Ohne Frieden ist alles nichts! 

Zum Autor: Sven Brajer ist promovierter Historiker, freier Journalist sowie gelernter Einzelhandelskaufmann. Er stammt aus der Oberlausitz, hat in Göttingen und lange in Dresden gelebt, lebt derzeit in Berlin und Görlitz und betreibt den Blog www.imosten.org.  Er interessiert sich für die deutsche und europäische Sozial-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte des 19.-21. Jahrhunderts, Revolutionsforschung, Geopolitik mit Schwerpunkt Mittel- und Osteuropa, aber auch für aktuelle (finanz-)politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen, insbesondere von Parteien und Bewegungen. 2023 erschien sein Buch: „Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken. Von der Kapitalismuskritik zum woken Establishment“ im Promedia Verlag.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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