Halb Europa fürchtete sich 1990 vor einem Deutschland, dass zusammengewachsen wieder gefährlich würde. 35 Jahre später vernimmt man in Deutschland Stimmen, die die neue Gefährlichkeit der Bundesrepublik stolz betonen.
Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

Die Financial Times zitiert Deutschlands Rüstungs- und Angriffsminister Boris Pistorius: Deutschlands militärische Zurückhaltung sei das Produkt des Zweiten Weltkrieges gewesen – nun aber seien deutsche Truppen auch bereit dazu, russische Soldaten zu töten, falls das nötig würde. Jahrzehntelang hat man erzählt, dass es die Rechtsextremen seien, die die Verantwortung der Deutschen als Schuldkomplex verunglimpften und mit dieser despektierlichen Wortwahl das Verantwortungsbewusstsein auflösen wollten. Jetzt spricht ein Sozialdemokrat mit Einfluss wie einer, der auf einer Sitzung eines NPD-Ortsverbandes Reden schwingt. Kreml-Sprecher Peskow ordnete Pistorius‘ Aussage prompt ein: Deutschland sei wieder gefährlich.
Ob das schon physisch bereits zutrifft, darf bezweifelt werden. Aber psychisch ist Deutschland bereits eine Gefahr. Und es will bald auch diese mentale Ebene auf eine materielle Basis stellen. Europa schaut indes zu, dabei war die Angst vor einem starken Deutschland noch vor weniger als vier Jahrzehnten das zentrale Thema der Neuordnung Europas nach dem Fall des Eisernen Vorhanges. Deutschland sollte kein Hegemon werden, besonders Briten und Franzosen intervenierten – wäre es nach der britischen Premierministerin Thatcher gegangen, hätte aus der Furcht vor einem Deutschland, das zur Gefahr wird, keine Zustimmung zu einer Vereinigung der beiden deutschen Länder erwachsen dürfen.
Deutschland ist schon länger Hegemon
Auch der französische Präsident Mitterrand meldete Bedenken an, glaubte aber, dass Deutschland so gut ins gemeinsame europäische Haus integriert werden könne, dass man einer Gefahr vorbauen könne. Die Sowjets – noch nannte man sie damals so – ließen sich überzeugen, dass Deutschland mit seriösem Verantwortungsbewusstsein wachsen würde. Mehrere kleinere Länder in Osteuropa äußerten ihre Angst vor einem Deutschland, dass sich seiner Macht wieder bewusst wäre. Die Administration der Vereinigten Staaten hatte jedoch wenig Bedenken, ein starkes Deutschland gefiel ihr vermutlich: Also kam es zur Übernahme der DDR in den Geltungsbereich des Grundgesetzes, im Volksmund »Wiedervereinigung« genannt.
Heute ist Deutschland der Hegemon Europas – war es schon, bevor es die Waffenkraft für sich wiederentdeckte. Deutschland ist – Mitterrand hatte das vielleicht nicht ganz richtig vorhergesehen – in Westeuropa nicht nur integriert. Nein, Deutschland ist Westeuropa. Und das nicht nur wegen der aktuellen Kommissionspräsidentin von der Leyen. Schon vor ihrer traurigen Regentschaft hatte Deutschland westeuropäisch die Hosen an; die ehemalige Bundeskanzlerin wurde von der deutschen Presse als eiserne Politikerin skizziert, weil sie den westeuropäischen Krisenstaaten – und Brüssel! – den deutschen Stempel aufdrückte. Damals dominierte Deutschland ohne Waffen den westlichen Teil des Kontinents – exportierte die Arbeitslosigkeit in die Nachbarländer und erzeugte mit einer Politik der Lohnzurückhaltung und fehlender gesellschaftlicher Teilhabe erwirtschafteter Wohlstände ein ökonomisches und soziales Gefälle innerhalb der Europäischen Union. Nutznießer: Die Bundesrepublik.
Gefallen hat das den Nachbarn nicht – insbesondere die Franzosen monierten diesen Kurs; die Briten zeigten sich ernüchtert, als die Flüchtlingspolitik der EU im Berliner Alleingang an sich gerissen wurde. Der Brexit war unter anderem ein Produkt eines Deutschlands, das zur erdrückenden Hegemonialmacht in der EU geworden war – und das seine Stellung auch arrogant auslebte. Ob Polen, Spanien oder Griechenland: Die Deutschen sagten an und setzten ihre Interessen durch, ernteten dafür Widerwilligkeit und Abneigung. Die Polen und Griechen bemühten fast erwartungsgemäß die Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts, als die Deutschen schon mal ihren Nachbarn zusetzten, gelinde gesagt – für diese beiden Völker war die Konfrontation mit diesem zeitgenössischen Deutschland, das die notwendige Demut verloren hat, mehr als ein Ärgernis. Es war ein Trauma, das neben viel Wut auch neue Ängste förderte.
Der ewige Feind? So einen gab es schon mal!
Die Deutschen müssen dem russischen Präsidenten Putin sehr dankbar sein. Er hat sie von verhassten Nachbarn zu einer Kraft innerhalb der EU erhoben, auf die die Mitgliedsstaaten der Union nun vielleicht nicht mit Liebe gucken – aber mit einer gewissen Erwartungshaltung durchaus. Die Deutschen sollen aus ihrer Sicht im Kampf gegen den russischen Aggressor voranpreschen und auch bei der westeuropäischen Sicherheitsarchitektur vorangehen. Zwar ist das Land eine schwächelnde Wirtschaftsnation – aber immerhin ist es noch halbwegs potent und zehrt aus Kapazitäten, die über Jahrzehnte aufgebaut wurden.
Die Westeuropäer vergessen dabei etwas ganz Wesentliches: Dieses Deutschland, das nun als Hegemon auch noch die Potenz zur Gefährlichkeit besitzt, bleibt als starke Macht, die vor Selbstbewusstsein nur so strotzt, nicht immer »auf der eigenen Seite«. Der politische Kurs des organisierten Westeuropas weist in eine Richtung, die Verteilungskämpfe als sehr wahrscheinlich erscheinen lässt. Die Aufrüstung, die fünf Prozent der jeweiligen Bruttoinlandsprodukte der NATO-Mitgliedsstaaten frisst, wird zwangsläufig zu sozialen Verwerfungen führen und die Gesellschaften vor Zerreißproben stellen. Wohin die Staaten dann schippern, weiß die Zeit – dass es zwangsläufig bei einer ewigen Feindschaft zu Russland bleiben muss, wie der deutsche Außenminister vor einiger Zeit wie auf Steroide von sich gab, kann auch angezweifelt werden.
Anders gesagt also: Dieses gefährliche Deutschland wird sich über kurz oder lang nicht nur gegen den jetzt als angeblichen Aggressor identifizierten russischen Präsidenten und seine Nation richten, sondern auch gegen die anderen Staaten Europas – insbesondere auch gegen ein Land, das in der Historie tatsächlich ein ewiger Feind war: Frankreich! Als Johann Wadephul, der neue deutsche Außenminister von eben dieser ewigen Feindschaft zu Russland sprach, hatte er da im Sinn, dass die Deutschen einen ewigen Feind links des Rheines bis vor einigen Jahrzehnten noch kannten? Und erinnerte er sich an die Fluten von Blut, die diese nicht abreißen wollende Feindschaft verursachte?
Die nächste Eurokrise wird mit deutscher Feuerkraft geregelt
Vielleicht wäre ihm dann auch eingefallen, dass das Ende dieser Erbfeindschaft, wie sie auch genannt wurde, ein Segen für den Kontinent war. Über Jahrhunderte sorgte diese Kluft zweier Völker für Scharmützel und Kriege – und dann im Zeitalter des industrialisierten Krieges, verursachte diese Erbfeindschaft wahre Blutbäder von epischen Ausmaßen: Man denke nur an 1870/71, an 1914 bis 1918 oder aber an 1939 bis 1945. Was ewige Feindschaft wirklich bedeutet, lässt sich in der deutschen Geschichte nachlesen: Die markigen Worte Wadephuls sind ein Armutszeugnis, das der deutschen Geschichte in keiner Weise gerecht wird. Wer so spricht, hat keinen Respekt vor der Historie seines Landes – und der muss nun wirklich nicht sonntags auftreten und auf Erinnerungskultur machen. Denn wer so spricht, erinnert sich nicht, der geht mit seiner Demenz hausieren.
Für die Franzosen könnte sich aber ein mit Waffen hochgerüsteter Nachbar, ein Deutschland, das die stärkste Armee der Europäischen Union anstrebt, zu einem Verhängnis werden – ja, das alte Trauma aufreißen: Was also, wenn diese Nation im Herzen Westeuropas, die schon in den letzten Jahrzehnten immer wieder aufs Neue hegemonial auftrat, sich seiner Waffenkraft bewusst wird und sie auch in einem Konfliktszenario binneneuropäischer Art in die Waagschale werfen würde? Das geschieht nicht, die Deutschen haben aus ihrer Geschichte gelernt, glauben Sie? Wer das nun als Einwand erheben will, hat aus der Geschichte, die sich gerade vor unser aller Augen abspielt, nicht gelernt und sollte seinen Zwangsoptimismus unbedingt an den Nagel hängen, bevor der ihn dumm aussehen lässt.
Nationen, die starke Armeen unterhalten und deren Arsenale voll sind mit einsatzbereitem Kriegsgerät, haben nicht die Neigung dazu, als Friedenstauben in Konflikte einzutreten. Wer Waffen hat, setzt sie auch ein – und sei es nur als Drohkulisse. Die europäischen Nachbarn, die sich vor 35 Jahren noch vor einem aufstrebenden Deutschland fürchteten, halten sich dieser Tage zurück. Vielleicht werden sie sich in einigen Jahren verbittert an jene Zeit erinnern, da sich die NATO-Mitgliedsstaaten hochrüsteten und Berlin innerhalb der EU voranging, um besonders durchschlagskräftig zu werden. Sollte die Zukunft dazu führen, dass die EU von einer Existenzkrise in die nächste taumelt, wird man vielleicht bald verstehen, dass diese tristen Tage im Sommer 2025 eine Phase des Schlafwandelns waren. Die nächste Eurokrise, die Deutschland dann managt, könnte in naher Zukunft auch mit angedrohter Feuerkraft befriedet werden. Wer braucht die Drohungen einer Troika, wenn er die schlagkräftigste Truppe des Kontinents in Sold und Brot stehen hat?
Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
Mehr Beiträge von Roberto De Lapuente →
Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.