Vermutlich kennen nur wenige die Antwort auf die Frage, wie viele Sanktionspakete der Westen mittlerweile gegen Russland verhängt hat. Und noch überschaubarer dürfte der Kreis derer sein, die diese Sanktionen genau benennen können. Für Ungarn spielt all das aus pragmatischen Gründen keine große Rolle.
Ein Artikel von Tom Wellbrock.
Es sind insbesondere die deutschen Grünen, die nicht müde werden zu betonen, Deutschland habe sich von russischem Gas und Öl unabhängig machen müssen, weil Russland am 22. Februar 2022 die Ukraine angegriffen habe. Abgesehen davon, dass von „müssen“ nicht die Rede sein kann, weil die Entscheidung, auf russische Energie zu verzichten, aus freien Stücken getroffen wurde, ist die deutsche Haltung bekannterweise inkonsequent und es blieben wohl nur wenige Länder für wirtschaftliche Zusammenarbeit übrig, wenn man die Welt auf korrekte grün-tickende Ideologie untersuchen würde.
Ungarns Außen- und Handelsminister Péter Szijjártó blickt ganz pragmatisch auf Russland. Er sagte kürzlich nach dem diesjährigen ungarisch-russischen Wirtschaftsforum in Budapest, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Ungarn und Russland von großer Bedeutung sei. Dies gelte auch für andere Länder der EU, die das aber nicht aussprechen würden. Laut Szijjártó halten sich viele Unternehmen nicht an das Sanktionsgebot. Er fügte diplomatisch hinzu: „Wir sind auch nicht mit Sanktionen einverstanden, aber da sie in der europäischen Gesetzgebung verankert sind, respektieren wir sie natürlich.“ Zudem gebe es Bereiche, die nicht unter die Sanktionen fallen und Ungarn entwickle dort eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland.
Während in Deutschland russisches Gas und Öl „böse“ sind, wird die Versorgung in Ungarn sogar noch ausgebaut. Schon heute sind 5,3 Milliarden Kubikmeter Gas durch die Turkish-Stream-Pipeline geflossen, das entspricht der Gesamtmenge des Jahres 2023. Neben dem Gas spielt auch die genutzte Pipeline eine Rolle, denn die Versorgungssicherheit Ungarns ist nicht durch die Launen der Ukrainer gefährdet, wenn die Turkish-Stream-Pipeline genutzt wird. Péter Szijjártó machte zudem darauf aufmerksam, dass in diesem Jahr 3,2 Millionen Tonnen Öl über die Druschba-Pipeline angeliefert worden seien.
Ungarn macht keinen Hehl daraus, weit über die Energieversorgung hinaus mit Russland zusammenzuarbeiten. So ist es ein ungarisches Unternehmen, das inzwischen zu den fünf grüßten Futtermittelherstellern in Russland gehört und 10 Prozent des russischen Futtermittelmarktes abdeckt. Auch die Viehlieferungen von Ungarn nach Russland haben stark zugenommen. Ungarische Geflügelexporte, Maschinen und Technologie für den Aufbau eines Fleischverarbeitungsbetriebs in St. Petersburg runden die Geschäftsbeziehungen auf diesem Gebiet ab.
Ungarns Außen- und Handelsminister sprach auch über die Lieferung von Arzneimitteln durch das Unternehmen Richter:
Zusätzlich wurde eine Vereinbarung über eine Zusammenarbeit auf den Gebieten Strahlentherapie und Onkologie getroffen, die weiter ausgebaut werden soll.
Und das ist noch immer nicht alles. Russland und Ungarn wollen auch im Bildungsbereich enger zusammenarbeiten. Gerade wurde ein Abkommen unterzeichnet, das die erste ungarisch-russische Rektorenkonferenz ermöglicht. Russen müssen in Ungarn auch nicht draußen bleiben, sondern sind eingeladen, die neu gegründete ungarisch-russische Hochschulvereinigung zu nutzen. Insgesamt 200 russische Studenten sollen Stipendien erhalten, um an ungarischen Universitäten studieren zu können.
Mag es bis hierher ein wenig verklärend gewirkt haben, folgt nun der nüchterne Teil. Denn trotz der beschriebenen Bekundungen von Freundschaft und Zusammenarbeit ist Ungarn doch in höchstem Maße von Russland abhängig. Denn der ungarische Außen- und Handelsminister Péter Szijjártó gab gegenüber Ria Novosti zu, dass die ungarische Wirtschaft ohne Russland in vielen Bereichen nicht sicher funktionieren könne. Es liege daher im nationalen Interesse Ungarns, in den Bereichen Energie, Medizin, Landwirtschaft, Wissenschaft und Bildung mit Russland zu kooperieren. Russische Gaslieferungen thronen über all diesen Bereichen, hier ist die Abhängigkeit mit den Händen zu greifen.
Ein weiteres Problem für Ungarn ist, wie oben erwähnt, die Versorgungssicherheit. Nachdem die Ukraine die Öllieferungen durch das russische Unternehmen Lukoil blockiert hatte, musste eine andere Lösung gefunden werden. Dies gelang, indem die ungarische MOL-Gruppe Vereinbarungen mit Rohöllieferanten und Pipelinebetreibern geschlossen hat, die für einen kontinuierlichen Transport von Rohöl über die Druschba-Pipeline sorgen.
Wladimir Putin sagte einmal sinngemäß, Victor Orbán vertrete keine russischen Interessen, sondern ungarische. Damit hat er fraglos recht. Doch allein steht Orbán mit dieser Haltung nicht, er teilt sie wohl mit den meisten Staatschefs der Welt. Nicht gerade mit der deutschen Bundesregierung, aber von ihr abgesehen mit der Mehrheit aller Regierungschefs auf der Welt.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Oskar Lafontaine, Max Otte, Andrej Hunko, Patrick Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«. Gründungsmitglied und Mitherausgeber der neulandrebellen.
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