Kanzlerschaft mit links

Die Linke hat die Demokratie gerettet, weil sie Friedrich Merz‘ Kanzlerschaft ermöglicht hat. So jedenfalls rechtfertigt sie sich. Diese »linke« Partei ist der größte Etikettenschwindel in diesem Lande überhaupt.

Ein Kommentar von Roberto J. De Lapuente

shutterstock/nitpicker

Das war die Chance. Friedrich Merz lag am Boden. 6. Mai 2025: Der Mann, der 2018 seine Karriere bei BlackRock aufgab, um offiziell die Union wieder zu mehr Konservatismus zu führen, inoffiziell aber, um zum nächsten Kanzlerkandidaten seiner Partei aufzusteigen, wurde im ersten Wahlgang vom Bundestag nicht zum Bundeskanzler gewählt. Erstmals in der Bundesrepublik wurde ein Kanzlerwilliger von den Abgeordneten abgelehnt – genauer gesagt: Von den Vertretern seiner Koalition. Denn eine Mehrheit hätte der Zusammenschluss aus Union und Sozialdemokratie vorzuweisen gehabt. Doch nicht alle sprachen sich für Merz als Regierungschef aus.

Lange hatte er darauf hingearbeitet, hingehetzt und hingemauschelt. Und nun das – auf den letzten Metern. Merz am Boden, konsterniert, mit leichter Panik in den Augen. Damit hatte er, damit wollte er nicht rechnen. Im Hintergrund wurden bereits neue Allianzen sondiert und geschmiedet: Fristverkürzung zum zweiten Wahlgang sollte es geben. Und vielleicht würde ja auch der eine oder andere aus einem anderen politischen Lager für ihn stimmen und damit die nötige Mehrheit beschaffen. In diesem Moment hätte dieses »andere Lager« zustechen können – wie einst Brutus. Doch die Iden des Merz fielen aus. Dem Tribun, der strauchelte, wurde auf die Beine geholfen. Von jenen, die vorher vollmundig kundtaten, dass dieser Friedrich Merz uns alle bedrohe. Die Grünen waren sofort bereit – das ist wahrlich keine Überraschung. Und dann war da noch die Reichinnek-Linke, diese Befindlichkeitspartei mit übergroßem Mund: Auch sie half dieser Gefahr, die sie in Merz im Vorfeld gesehen hatte, auf die Füße.

Von der Merz- zur Staatskrise

Es ging um die Rettung der Demokratie – dieser Erklärungsansatz war just in dem Augenblick klar, als dem Beobachter an jenem Tage dämmerte, dass es die Linke sein wird, die die Kanzlerschaft dieses Mannes möglich machen wird. Denn wäre Merz nicht Bundeskanzler geworden, so hieß es plötzlich, dann hätte das die Republik gefährdet. In den Stunden, da Merz in der Luft hing, äußerten sich etliche Bedenkenträger. Aus dem Lager der SPD sprach man von einem Bärendienst für die Demokratie – und Journalisten meldeten, dass sich Europa, ja die ganze Welt wirklich und wahrhaftig um Deutschland sorge. Also musste man jetzt demokratisch vernünftig sein. Zusammenstehen. Carsten Linnemann, Merzens Adlatus, warb dann auch publikumswirksam mit dieser Parole. Plötzlich war nicht mehr Merz in der Bredouille, sondern es drohte eine Staatskrise. Also musste man handeln, einspringen, eben die Demokratie vor ihrem Untergang retten.

Geschickt ist es gelungen, Merz‘ politischen Tod mit dem vermeintlichen Niedergang Deutschlands zu verweben. Der Bundestag war nun kein Treffpunkt verschiedener Parteien mehr, sondern eine Schicksalsgemeinschaft. Wo waren denn die Staatsrechtler, die deeskaliert haben? War die Nichtwahl dieses Mannes nicht – ganz im Gegenteil zur Mär der Stunde – ein Akt von Demokratie? Einen, wie es ihn nur noch selten gab? Da hatten Abgeordnete die Wahl – und haben entschieden: Was ist daran Staatskrise? Was muss da Sorgen bereiten? Das Grundgesetz sieht so eine Nichtwahl ja auch vor. Alles war also geregelt, nichts brauchte zur Panik verleiten. Was das Grundgesetz allerdings nicht im Blick hat: Die Panik eines Kandidaten, der von seinen eigenen Leuten nicht gewählt wird. So einer steckt leicht mal das ganze Parlament mit seiner Existenzangst an. Und so ist es dann am 6. Mai 2025 auch geschehen.

Nachdem ihm sechs Stimmen fehlten, um zehnter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden, konnte man es greifen: Friedrich Merz ringt mit dem Tod seiner politischen Karriere. Sofort vermeldete Jens Spahn – nicht ganz uneigennützig –, dass Merz nochmal antreten würde. Es war klar, es gibt Meuchelmörder in seiner Partei, die gerne gesehen hätten, dass Merz nach langer Wartezeit zwischen den Wahlgängen abserviert wird. Für dieses Desaster hatte er aber nicht seinen lukrativen Posten bei BlackRock aufgegeben. Und so verwob man seine Notlage mit der Republik: Wenn er es heutigen Tages nicht ins Amt schaffte, sagte man, dann müsse man sich Sorgen um Deutschland machen.

Die Linke ohne einen Sinn für die historische Chance

Die Linke hatte die Chance: Sie hätte Friedrich Merz‘ politisches Vabanquespiel beenden können. Ein kurzer Stich – und es wäre so gut wie sicher so viel Schaden für Merz entstanden, dass es für ihn geendet hätte. Das war eine historische Chance. Aber die Linkspartei ist eine Sammelbewegung für politische und ideologische Gruppierungen, die keinen Sinn für historische Zusammenhänge und Denkprozesse aufweisen. Im Gegenteil, die in ihr stark dominierende Identitätspolitik vermag es nicht, in historischen Kategorien zu denken. Eher tendiert sie dazu, Geschichte umzuschreiben, ihr lästige Episoden umzudeuten. Wie sollte man von diesen Leuten erwarten können, dass sie sich der historischen Dimension des 6. Mai 2025 bewusst sind?

Zuvor hat eben jene Partei noch vor Friedrich Merz gewarnt. Er würde dem Feminismus schaden, die AfD stärken und das Land nach rechts führen. Heidi Reichinnek, seit knapp zwei Monaten Fraktionsvorsitzende ihrer Partei, schürte große Ängste vor einer Machtergreifung des Friedrich Merz. So sagte sie freilich nicht, aber man hatte das Gefühl, dass sie das meinte. Wie ein Maschinengewehr ratterte sie Phrasen heraus und warnte vor diesem Mann und der dann drohenden Politik. Nicht alles, was man laut Reichinnek befürchten musste vor Merz, war dabei falsch. Über Jahre, ja Jahrzehnte gar, hat er die politische Kultur in Deutschland vergiftet. Während die Sozialdemokraten und Grünen um die Jahrtausendwende daran bastelten, den Sozialstaatsgedanken im Lande zu schleifen, saß jener Merz in Talkshows und monierte, dass das alles nicht weit genug ginge. Das Leben der Hartz-IV-Empfänger hatte sich da aber schon drastisch verschlechtert, sie wurden zur Fußmatte der Republik – und Leute wie Merz traten sich an ihnen die Schuhe sauber.

Er war das Gesicht des radikalen, des ungezügelten Neoliberalismus. Dass es ihn zu BlackRock trieb war kein Zufall, auch kein Irrtum – das war folgerichtig. Wenn nicht er, wer denn dann? Der Mann hatte das neoliberale Glaubensbekenntnis verinnerlicht; man konnte ihn nachts um Drei anrufen und irgendwas fragen und er antwortete mit Floskeln von Privatisierung oder rief aus, dass man den Kündigungsschutz lockern oder die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auflösen müsse. Dass dieser Mann als Rettung des Konservativen Geltung fand, war geradezu grotesk. Nichts war konservativ an ihm, sein Weltbild war nicht eher starr, orientierte sich nicht an dem, was zu es bewahren galt, sondern ihm stand der Sinn nach einem neuen Typus Mensch: Einem homo oeconomicus, der seine Welt nur noch pekuniär taxieren sollte. Bewahrung als Auftrag: So ein konservativer Ansatz war ihm fremd – er wollte das Land verändern und umkrempeln, eine marktkonforme Postdemokratie etablieren.

Total versagt und endlich regierungsfähig

So einem Charakter eine Abfuhr zu erteilen, gerade auch, wenn man sich als Vertreter einer Partei zu erkennen gibt, die sich links auch im Namen nennt, wäre nur konsequent gewesen. Wenn man denn eine linke Partei wäre, wenn man einer Klientel die Tore öffnen würde, die auch linke Vorstellungen pflegte, die der eigentlichen Stoßrichtung linker Politik gerecht würde. Wenn man aber Partei mit urbanen Jungglobalisten macht, die topfhaarschnittig einen Alltag begehen, der sich irgendwo zwischen Radikalveganismus und Transagenda ansiedelt, darf man auch nichts Linkes erwarten. Denn die eigene Befindlichkeit zu politisieren: Das hat rein gar nichts mit linkem Diskurs zu tun. Daher wäre es dringend nötig, dass sich diese Partei endlich einen anderen Namen verpasstt. Linke oder Linkspartei: Das ist der größte Etikettenschwindel aller Zeiten. Im Lokal kann man kein Schweineschnitzel als Wiener Schnitzel verkaufen, weil das Betrug am Gast wäre: Aber sich lustig eine Linke nennen, während man irgendwas Anderes macht – das geht offenbar ungeniert.

Wann wird Reichinnek und van Aken dämmern, dass sie nicht die Demokratie retteten, sondern das politische Weiterleben jenes Mannes, der nun doch Bundeskanzler wurde? Einen Tag nach seiner Wahl las man in der Welt einen Gastbeitrag des neuen deutschen Regierungschefs und seines französischen Partners Emmanuel Macron. Beide verkünden darin unisono, dass sie einen diktierten Frieden niemals akzeptieren würden. Was ist die Alternative dazu? Letztlich sagen die beiden feinen Herren, sie würden jeden Frieden durch kriegerischen Habitus stören. Taurus zu liefern steht ja immer noch auf der Agenda von Merz. Wenn er sie liefert und die Ukrainer zerstören die Krim-Brücke mit deutscher Hilfe und die Russen erwidern daraufhin das Feuer und zerstören eine Brücke – nicht die Carolabrücke in Dresden – irgendwo in Deutschland: Wird es den beiden »Linken« dann dämmern, dass sie den Kanzler der Schmerzen verhindern konnten, wenn sie nur gewollt hätten?

Man muss zweifeln, denn – wie gesagt – in historischen Dimensionen denkt diese Linke nicht. Historie ist ihnen lästig, denn sie hassen die Kultur, die die Geschichte über uns alle brachte. Eine kultur- und geschichtsfeindliche Partei kann sich nicht Linkspartei nennen – denn ihr fehlt grundsätzlich die Dialektik, die notwendig ist, um die Welt zu verstehen. Und Moralismus ist keine Dialektik. Eine Partei allerdings, die den vermeintlichen politischen Kontrahenten beim Aufrappeln hilft, und dessen Unbeliebtheit dann auch noch als Akt der Systemrettung für sich in Anspruch nimmt: Das ist durchaus historisch – und wir werden uns alle lange an diese historische Dummheit zurückerinnern. Diese Partei, die sich Die Linke nennt, hat in den letzten Jahren auf ganzer Linie versagt. Mit der Installation des Friedrich Merz hat sie aber ihr Meisterstück im Totalversagen abgeliefert. Anders gesagt: Diese »linken« Leutchen sind tatsächlich regierungsfähig. Denn Regieren ist hierzulande nur den Versagern vorbestimmt.

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main. Im März 2018 erschien sein Buch „Rechts gewinnt, weil links versagt“.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

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