Karl Schlögel, der Geläuterte

Karl Schlögel hat den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. In seiner Ansprache gibt er den Geläuterten – er manipuliert mit dieser Tour die Öffentlichkeit.

Ein Beitrag von Roberto J. De Lapuente

FriedenspreisDesDeutschenBuchhandels – Dontworry, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Nun also ist es vollbracht: Der Historiker Karl Schlögel erhielt am vorletzten Sonntag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In der Begründung der Jury liest man unter anderem folgenden Satz: »Nach der Annexion der Krim durch Russland hat Karl Schlögel seinen und unseren Blick auf die Ukraine geschärft und sich aufrichtig mit den blinden Flecken der deutschen Wahrnehmung auseinandergesetzt.« Anders formuliert: Dieser Karl Schlögel hat seine Betrachtungen von einst revidiert und seine Thesen und sich der neuen großen Zeit angepasst. Die Rede, die er zur Preisübergabe in der Frankfurter Paulskirche hielt, bedient sich dann auch dieses rhetorischen Kniffs des Geläuterten.

Bevor wir kurz thematisieren, wie der wirkt und ansetzt, sei eine Frage erlaubt, die sich geradezu aufdrängt in diesem Klima kriegerischen Dafürhaltens: Hätte jener Schlögel einen solchen Preis auch überreicht bekommen, wenn er nicht zum demütigen Historiker umgeschwenkt wäre? Kann man mit einer Geschichtsdeutung, die die Beziehungen zwischen Westeuropa und Russland geopolitisch, kulturell und aus den jeweiligen Erfahrungsschätzen der Völker erklärte, überhaupt noch einen Friedenspreis erhalten in dieser Schreihalsrepublik?

Preis für ein verworfenes Werk

Überhaupt müsste man an dieser Stelle eine Folgefrage formulieren: Ist es nun das Werk Karl Schlögels, das in Frankfurt ausgezeichnet wurde? Oder doch eher der Umstand, dass der Historiker sein Werk in großen Teilen – Russland betreffend – verworfen hat und nun anerkannt, dass er sich getäuscht habe? Denn seine neuen Einsichten, sein Dasein als geläuterter Fachmann, dominierte seine Rede in der Paulskirche maßgeblich. Der »Blick auf die neue Weltunordnung« habe ihm »die Grenzen der eigenen Urteilskraft auf schmerzlichste Weise zu Bewusstsein kommen« lassen. Da sprach einer, dem die alten Gewissheiten abhandengekommen waren – seine historischen Einordnungen, die in früheren Jahren auch die nationale Interessenlage Russlands berücksichtigte, seien für ihn nicht mehr tragbar.

Schlögel gab also den Einsichtigen, den Geläuterten, einen Mann voller Demut, der jetzt endlich erkannt habe, wie die Sachlage in Wirklichkeit aussieht. Dieses rhetorische Stilmittel des Geläutertseins beschreibt die bewusste Selbstdarstellung eines Redners als jemand, der aus früheren Irrtümern oder Versäumnissen gelernt hat und daraus neue Einsichten schürft. Es beruht auf einem Akt der Selbstreflexion und der öffentlichen Anerkennung eigener Fehleinschätzungen – nicht als Zeichen von Schwäche, sondern als Quelle moralischer Autorität. Wer sich geläutert zeigt, der signalisiert: Ich habe erkannt, was falsch war, und bin nun fähig, die Wahrheit klarer zu sehen. Dadurch soll beim Publikum Vertrauen und Glaubwürdigkeit entstehen.

Schlögel spricht über das Scheitern einer Generation, die zu lange an eine friedliche und partnerschaftliche Beziehung zu Russland geglaubt habe. Das Frankfurter Publikum ließ er wissen, dass er »nur stellvertretend für eine friedensverwöhnte Generation« steht, »die sich nun schwertut, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen«: Er gibt also ein Fehlurteil zu, um daraus eine stärkere, erneuerte Position zu entwickeln. Aus seiner Einsicht erwächst eine vermeintliche Handlungskraft, die sich bei Schlögel in Parolen zum Durchhaltewillen ausgemergelter Ukrainer zeigt – und sie soll überdies intellektuelle Integrität simulieren. Seine anschließende Forderung, (West-)Europa müsse »siegen lernen«, gewinnt gerade deshalb Gewicht, weil sie aus der Selbsterkenntnis eines früheren Irrtums hervorgeht.

Ist es nicht sympathisch, wenn jemand Irrtümer zugibt?

Seine Fürsprache für einen weiteren Kriegsverlauf in der Ukraine nährt sich aus dieser Rolle des einsichtigen Mannes, der voller Devotion zugibt, sich grundlegend getäuscht zu haben. Der Spiegel schrieb gar von einem Mann, der »illusionslose Schlüsse« zog, als er in der Mainmetropole auf der Bühne stand und seine Dankesrede hielt. Schlögel selbst spricht nicht über eine »irrende Generation«, sondern aus ihr heraus. Das soll ihn zum glaubwürdigen Mahner erheben: Er darf fordern, weil er selbst dazugelernt hat. Die rhetorische Stärke des Geläutertseins liegt also in der Verbindung von persönlicher Reue und moralischem Appell. Das Pathos, von dem einige Medien gerade zum Ende seiner Rede berichteten, ist ein Produkt des rhetorisch geschickten Geläuterten – zwangsläufig wird die Ansprache eines Menschen, der nun endlich den freien Durchblick erhielt, zu einem Akt der Ergriffenheit und Feierlichkeit.

Schlögels Rede zeigt exemplarisch, wie das Geläutertsein als rhetorische Strategie eingesetzt werden kann, um Gewissheiten von einst auf den Müllhaufen der Geschichte zu bugsieren – das rhetorische Stilmittel des Geläuterten ist freilich eine Manipulation. Mit diesem Kniff versucht man sich zum glaubhaften Apologeten zu küren: Der Paulus, der zum Saulus wurde, will kenntlich machen, dass er eben nicht ideologisch zu bewerten ist, sondern eine Entwicklung durchgemacht hat.

Dagegen ist freilich wenig einzuwenden, im Grunde spricht es ja für einen Menschen, einen Fachmann und Gelehrten, wenn er auch einräumen kann, gewisse Dinge falsch betrachtet und fehlerhaft eingeordnet zu haben: Für Lernfähigkeit braucht man sich in der Tat nicht zu genieren. Ohnehin kommt Einsichtsfähigkeit in dieser Gesellschaft viel zu selten vor; frühere Irrtümer zuzugeben, wird als Schwäche interpretiert. Insofern müsste man Schlögels Belehrbarkeit als sympathisch betrachten – oder nicht? Darauf setzt der Historiker selbstverständlich, er spricht den unbedarften Rezipienten an, den Zuhörer, der sich übermannen lässt von so viel Demut und Einsicht – und der darüber das Stilmittel nicht erkennt, das der Rede Schlögels zugrunde liegt.

Ein Preis für fachmännisches Versagen

Man sollte sich nicht täuschen lassen, denn Karl Schlögel mag sich selbst als gelehrigen Menschen der Zeitgeschichte vorstellen, der nach langen Jahren historischer Irrwege endgültig der Wahrheit ins Gesicht sieht – aber tatsächlich will er damit denen eine Botschaft vermitteln, die weiterhin unbelehrbar bleiben. Die noch immer auf Maßnahmen setzen wollen, die dazu dienen könnten, mit dem russischen Nachbarn in den Dialog zu treten. Schlögels demutsvolle Rede zielt auf jene, die eben nicht den Weg des Einsichtigen gehen wollen – er habe es schließlich kapiert, ja mehr noch, er habe bewiesen, dass man umkehren kann.

Natürlich sonderte er in Frankfurt eine Reihe geradezu unsäglicher Sätze ab, die den Krieg zu einer pathetischen Entität aufbliesen, der man sich zu stellen habe – wer dem aus dem Weg geht, habe nichts gelernt, anders als der Friedenspreisträger, der so vieles, was ihm vorher als wahr galt, einfach weggewischt hat. Karl Schlögel präsentierte sich dem Publikum als Historiker, der eine Arbeit machte, die sich als fehleranfällig erwies. Er hat Geschichtswissenschaft betrieben, die voller Fehler war – und dafür gebührt ihm wohl ein Preis. So eine Auszeichnung für selbst eingestandenes Versagen: Das dürfte auch einzigartig sein.

Versagen ist aber Erfolg in diesen Zeiten, in denen es um die richtige Haltung geht. Schlögel hat sie bewiesen. Und er hat all jenen, die mit ihm vorher auch der Ansicht waren, dass Russland Partner und nicht Feind sein sollte, an seiner Auszeichnung teilhaben lassen. Alle hätten sie einst falsch gelegen. Man war so lammfromm und die Russen hätten es ausgenutzt – ein Blick auf eine Landkarte, offenbart mehr als man braucht, um die geopolitische Verortung zu begreifen: Nicht der Osten rückte nach Westen – es war und ist genau andersherum. Wie hätte man damals eigentlich vorgehen sollen, als angeblich alles falsch angegangen wurde? Darauf weiß Schlögel, wie all die anderen, die heute sogenannte Russlandversteher kleinmachen wollen, keine Antwort – oder sie zögern sie hinaus. Denn im Kern steckt darin, dass man die Konfrontation mit Moskau hätte suchen sollen. Schlögel ist letztlich ein erbärmlicher Friedenspreisträger – ein larmoyanter Fachmann, der sein fachmännisches Scheitern ausbreitet und dafür auch noch belobigt wird. Man kann ihn nur bedauern. Ihn und mit ihm den Börsenverein des Deutschen Buchhandels, dem es als Veranstalter jährlich gelingt, den eigenen Preis ad absurdum zu führen.

Roberto De Lapuente

Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog »ad sinistram«. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs »neulandrebellen«. Er war Kolumnist beim »Neuen Deutschland« und schrieb regelmäßig für »Makroskop«. Seit 2022 ist er Redakteur bei »Overton Magazin«. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.
Mehr Beiträge von Roberto De Lapuente →

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen.

Related Posts

Russisches Roulette in Brüssel

Am 2. Oktober hatten sich die Staats- und Regierungschefs der EU in Kopenhagen getroffen. Es ging um die Abwehr vermeintlicher Drohnenangriffe aus Russland und um die Frage, wie das eingefrorene…

Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk vor Gericht – jetzt zählt der Beweis

Das Bundesverwaltungsgericht öffnet einen Weg, gegen die Rundfunkbeitragspflicht zu klagen. Dazu werden Gutachten über das Gesamtprogramm benötigt.  Ein Beitrag von Beate Strehlitz und Dieter Korbely Das Urteil und seine Bedeutung…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

You Missed

Karl Schlögel, der Geläuterte

  • November 1, 2025
  • 3 views
Karl Schlögel, der Geläuterte

Russisches Roulette in Brüssel

  • Oktober 31, 2025
  • 7 views

Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk vor Gericht – jetzt zählt der Beweis

  • Oktober 30, 2025
  • 18 views
Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk vor Gericht – jetzt zählt der Beweis

Was kann man von einer KI (nicht!) erwarten?

  • Oktober 29, 2025
  • 11 views
Was kann man von einer KI (nicht!) erwarten?

China mit anderen Augen, Teil 3 – China im Fokus westlicher Geopolitik

  • Oktober 28, 2025
  • 9 views
China mit anderen Augen, Teil 3 – China im Fokus westlicher Geopolitik

Vernichtungswillen der staatstragenden Massenmedien

  • Oktober 27, 2025
  • 134 views