Krieg in den Köpfen: „Die schießen ja nicht.“

„Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“, sang einst Reinhard Mey, und der Song erfuhr sogar ein Remake mit zahlreichen prominenten weiteren Künstlern. Doch Carlo Masala, Politikwissenschaftler und „Experte für bewaffnete Konflikte“, wischt Meys Widerstandsversuche vom Tisch.

Ein Beitrag von Tom J. Wellbrock

US-amerikanische M1A1-Abrams-Panzer treffen am 12. Mai 2023 in Grafenwöhr, Deutschland, ein. Die M1A1-Panzer werden für die Ausbildung des Personals der ukrainischen Streitkräfte eingesetzt und sollen voraussichtlich mehrere Wochen dauern. Das 7th Army Training Command wird die Ausbildung in Deutschland im Auftrag der U.S. Army Europe and Africa leiten. dpa

Vor vier Jahren gab es ein Remake des Songs „Nein, meine Söhne geb‘ ich nicht“, musikalisch hochwertig umgesetzt und von ausgezeichneten Künstlern vorgetragen. Der Song, auf YouTube mehr als 21 Millionen Mal angeklickt, spricht vielen Menschen und insbesondere Eltern aus der Seele. Doch die kriegen immer kräftigeren Gegenwind. In Zeiten der von Politik und Medien geforderten „Kriegstüchtigkeit“ wird sehr wohl erwartet, die Söhne (und die Töchter gleich mit) zu geben – für den Krieg, für die Verteidigung von Demokratie und Freiheit. 

Jeder Schuss ein Treffer in ein Kinderherz

Carlo Masala feuert aus allen Rohren, diesmal ist sein Ziel Reinhard Mey und sein Song über die Söhne, die ihre Mütter nicht hergeben wollen. Bevor wir uns mit Masalas Argumentation beschäftigen, sei den Eltern unter den Lesern dieses Artikels folgendes Szenario ins Bewusstsein gerufen: 

Ihr Kind hat sich für die Bundeswehr entschieden und wird nun ausgebildet, konkret: vorbereitet auf einen möglichen Kampfeinsatz. Denn, liebe Leser, genau das ist der Job eines Soldaten: Er soll aufs Töten vorbereitet werden. Er soll das Schießen lernen, um zu überleben. Seinen Feind kennt er nicht, womöglich hat er sogar Gemeinsamkeiten mit ihm. Vielleicht spielen beide Fußball oder Schach, haben einen ähnlichen Humor, grübeln über die gleichen Dinge des Alltags. 

Es ist durchaus möglich, dass Ihr Sohn (oder Ihre Tochter) und der beschriebene Soldat (er mag wohl ein Russe sein, denn in Deutschland wird eigentlich nur ein Krieg gegen Russland thematisiert) sich begegnen. Vielleicht in einer Gefechtssituation. Denken Sie jetzt bitte nicht darüber nach, wie eine solche Situation entstehen kann, sondern machen Sie sich nur bewusst, dass diese Möglichkeit besteht. 

Womöglich muss Ihr Sohn (oder Ihre Tochter) schießen, auf den Soldaten, also auf einen Menschen. Wenn er oder sie „erfolgreich“ ist, ist das aber kein Grund zur Freude, einmal abgesehen von der erleichternden Tatsache, dass Ihr Nachwuchs überlebt hat. Ihr Kind muss jetzt mit dem Gedanken leben, einen anderen Menschen erschossen zu haben. Das ist keine Kleinigkeit, so etwas prägt einen Menschen und kann verheerende psychische Auswirkungen haben. Vielleicht war der Schuss Ihres Sohnes (oder Ihrer Tochter) nicht präzise genug, sodass der Soldat auf der anderen Seite nicht sofort stirbt, sondern leidet, weint vor Schmerz, vielleicht nach seiner Mutter ruft. Möglich, dass er stark blutet, Eingeweide hängen aus seinem Körper heraus. 

Vielleicht ist aber auch der andere Soldat schneller und trifft Ihren Nachwuchs, werte Leser. Und vielleicht wird ihr Sohn (oder Ihre Tochter) verletzt oder getötet. Mit viel „Glück“ tritt der Tod sofort ein, aber es kann auch lange und schmerzhaft werden, bis der Krieg das Leben Ihres Nachwuchses ausgelöscht hat. Auch denkbar, dass Ihr Kind unverletzt wieder nach Hause kommt, zumindest äußerlich. In jedem Fall wird es ein Trauma mitbringen, das Sie ab diesem Zeitpunkt jeden Tag begleiten wird. Vielleicht erholt sich Ihr Sohn (oder Ihre Tochter) und wird in der Lage sein, ein mehr oder weniger normales Leben zu führen. Realistisch ist das aber nicht, die Wahrscheinlichkeit psychischer Schäden ist überproportional hoch, Ihr Nachwuchs wird also nach der Rückkehr aus dem Krieg vermutlich eine gebrochene Persönlichkeit sein.

Sie glauben das nicht? Ach, sagen Sie sich vielleicht, so weit wird es schon nicht kommen. Nun, vielleicht nicht, aber man muss es so deutlich sagen: Wenn Sie die hier beschriebenen Situationen nicht in Ihre Überlegungen mit einbeziehen, sind Sie schlechte Eltern. Denn jeder junge Mensch, der sich zur Bundeswehr meldet, könnte im Laufe der Zeit auf dem Schlachtfeld landen. 

Was erlaubt sich Reinhard Mey?

Carlo Masala hat für sich sorgende Eltern nicht nur kein Verständnis, er sagt ihnen darüber hinaus, dass sie überhaupt nichts zu melden haben, denn: 

Der Punkt ist folgender, und deswegen finde ich die Diskussion so absurd: Man geht zur Bundeswehr, wenn man 18 Jahre ist. Da schicke ich meine Kinder nicht zur Bundeswehr, sondern meine Kinder entscheiden selber, ob sie da hingehen oder nicht.“ 

Das ist nicht nur oberflächlich und dumm, es ist auch falsch, zumindest aber unvollständig. Denn Masala transportiert das Bild des freien, unabhängigen (jungen) Menschen. Von Rechts wegen trifft ein Mensch natürlich mit dem Erreichen der Volljährigkeit seine eigenen Entscheidungen, die Eltern haben in der Tat ab diesem Zeitpunkt nicht mehr die Hoheit über Fragen wie die nach einem Dienst bei der Bundeswehr. 

Aber unabhängig? Wo sind junge Menschen unabhängig, eigenständig, treffen ihre eigenen Entscheidungen? Selbst bei gestandenen Erwachsenen würde man sich häufiger Entscheidungen wünschen, die auf ihren eigenen Überlegungen und Überzeugungen basieren statt auf dem vorgekauten Zeug, das ihnen täglich serviert wird. Doch die breite Masse wird manipuliert und stets in eine bestimmte Richtung gesteuert. Anders ist die Bereitschaft zur „Kriegstüchtigkeit“ – und sei es auch nur in den Köpfen – nicht zu erklären. 

Carlos Masala aber vertritt offenbar die Meinung, junge erwachsene Volljährige seien gefeit vor der Gefahr der Manipulation. Nun, natürlich vertritt Masala diese Meinung nicht, im Gegenteil, er ist sich der psychologischen Unvollständigkeit junger Menschen bewusst und nutzt diese mit seinem Statement aus. Masala denkt also sinngemäß wie folgt: 

Wir müssen die Kinder und Jugendlichen vom Einfluss ihrer Eltern befreien, um selbst diesen Einfluss zu übernehmen.

Die Einschüsse kommen näher

Der Krieg – der Verteidigungskrieg! – kommt immer näher, in den Köpfen und Herzen hat er sich längst einen Platz gesucht. Da werden „Panzer-Osterhasen“ angeboten, was ausgerechnet zu einem solchen Fest schon als ambitioniert bezeichnet werden muss. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) verteidigt Schnupperkurse der deutschen Marine für Kids ab 16 Jahren mit den Worten: 

Ich kann daran gar nichts Verwerfliches finden. Die schießen ja nicht.“ 

Und niemals sollte man eine Nancy Faeser (SPD) vergessen, Innenministerin Deutschlands, die die Meinungsfreiheit liebt oder hasst, je nachdem, ob man für die eine Aussage eine Bewährungsstrafe oder für die andere einen Aufenthalt im VIP-Bereich ergattern kann. Faeser will Kinder und Jugendliche verteidigungsfähig machen, und wie kann das besser geschehen als mit Comics und Computerspielen? In der „Weltwoche“ ist nachzulesen: 

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) hat dafür eine digitale Lernwelt geschaffen. Im Zentrum steht der Comic ‚Max und Flocke – Einsatz in Katastrophenhausen‘. Die Geschichten drehen sich zwar vordergründig um Naturkatastrophen, Stromausfälle und Seuchen – doch die vermittelten Handlungsstrategien seien auch im Kriegsfall anwendbar, so das BBK. Ziel: ‚Den Kindern soll die Angst vor Notfällen und Katastrophen genommen, und ihre Selbsthilfefähigkeit soll gestärkt werden.’“

Liebe Eltern, erneut sei die dringende Bitte an Sie herangetragen, sich bewusst zu machen, wie das schlimmste Szenario für Ihren Nachwuchs aussehen könnte: Traumata, Verletzungen, heraushängende Innereien, der Tod. 

Unterschätzen Sie also keinesfalls, wie es in „Katastrophenhausen“ zugehen kann und wird. Und denken Sie unbedingt an eines: Einen Comic kann man zuklappen, ein Computerspiel ausschalten. Aber wenn Ihr Kind erst einmal auf dem Schlachtfeld steht oder im Schützengraben liegt, wird ihm niemand mehr helfen können. Und Sie, liebe Mutter, lieber Vater, schon mal gar nicht. Auch damit werden Sie leben müssen, und vermutlich wird das ein ziemlich erbärmliches, depressives Leben voller Selbstvorwürfe.

Und, so weh es auch tun mag, dafür tragen ausschließlich Sie selbst die Verantwortung. 

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Oskar Lafontaine, Max Otte, Andrej Hunko, Patrick Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen und ist für unsere Podcasts der »Technik-Nerd«. Gründungsmitglied und Mitherausgeber der neulandrebellen.

Disclaimer: Berlin 24/7 bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion Berlin 24/7 widerspiegeln. Wir bemühen uns, unterschiedliche Sichtweisen von verschiedenen Autoren – auch zu den gleichen oder ähnlichen Themen – abzubilden, um weitere Betrachtungsweisen darzustellen oder zu eröffnen. 

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